Singdarsteller und Meistervokalist
Der solitäre Wagner-Tenor Heinrich Hensel

Wer sich für deutsche – deutschsprachige und deutsch sozialisierte – Tenöre interessiert, findet in den Archiven von über 100 Jahren Tonaufzeichnung Hörbeispiele in unendlicher Fülle vor. Dies schon seit Beginn der Vermarktung von Sängerstimmen auf Walzen, Cylindern, Schellacks, also seit der Tonreproduktion vor dem Trichter. Die Aufnahmen erfassten Vokalisten aller Stimmlagen und Fachorientierungen, oft unabhängig von Berühmtheit und Standortbindungen. Konzentriert man sich auf Gesang aus Werken Richard Wagners, kann man auf Recording-Serien von 1900-1930 (darunter G&T-Acoustics von 1904 aus dem Festspielhaus Bayreuth) zugreifen*). Gerade sie gewannen trotz klanglicher Unvollkommenheit, vor allem der Orchesterparts, dem jungen Medium früh einiges Ansehen als Kulturträger.

Vertieft man sich in das Angebot an akustischen Belegen für stimmliche Typologien und sängerische Standards samt ihren Entwicklungen in der Gesangshistorie, erkennt man bei aller Vielfalt ein paar Konstanten. Konzentriert auf Tenöre und kurz gefasst: Es dominieren Stimmen vom Typus Tenore drammatico, also metallische Timbres und vibrante, mitunter gleißende Tonbildung, in großer Mehrheit mit hellen Färbungen. Seltener begegnet man jenem Klangkaliber mit Fülle und Breite, gedeckten Höhen und baritonalem Fundament, das man Tenore eroico nennt.

Musterbeispiele für den Drammatico liefern bereits die an Meyerbeer geformten, zu Wagner schreitenden italofranzösischen hochdramatischen Tenöre vom Schlage Léonce Escalais oder Francisco Viñas, in deutschen Versionen (Gesangsstile und -schulen einmal beiseite gelassen) tendenziell Ernst Kraus, Alois Burgstaller, Alfred von Bary, Heinrich Knote bis Jacques Urlus, weiter zu Max Lorenz, Paul Althouse, Fritz Wolff, Eyvind Laholm, Set Svanholm und Dutzenden mehr. Sie setzten gleichsam den Standard für tenorale Wagner-Interpretation.

Ihnen gegenüber stellen die Eroici eine Minderheit, sind bis heute Rarität geblieben. Auch dieser Tenortyp, der mit dunkleren Einfärbungen, doch vor allem breiterem Klangstrom, ausladender (mitunter qualliger oder stämmiger) Tonproduktion und häufig martialischer, donnernder, eben „heroischer“ Klangentfaltung live großen Eindruck machen kann, hat seine Spuren im ewigen Schallarchiv hinterlassen. Ein früher Paradevertreter, in Wien und Bayreuth, war der Heldentenor Erik Schmedes, dem als Jahrhundert-Ausnahmeerscheinung der alle anderen überstrahlende große Däne Lauritz Melchior folgte, an seinem Ideal orientiert dann Günter Treptow, Ludwig Suthaus, Ramon Vinay, Jon Vickers, in mediterraner Sonderstellung Mario del Monaco und Carlos Guichandut, dazu einige weniger sängerisch als naturstimmlich ausgewiesene Fachvertreter wie McCracken, Wenkoff, Beresford, mehre unter ihnen eigentlich Baritone.

Die Fülle tenoraler Erscheinungen
Zwischen diesen traditionell als Basiskategorien geführten Ausprägungen der dramatischen Tenorstimme gab und gibt es einige Varianten, für die sich spezifische Kategorien formulieren lassen. Zum Beispiel den dramatischen Charaktertenor, bei Wagner idealtypisch verwirklicht in der Gestalt des Loge im Rheingold oder Melot im Tristan (und in Offenbachs Spalanzani, Pfitzners Novagerio, Wolfs Coregidor, Strauss‘ Herodes und Aegysth, Mussorgskijs Shuiskij, Hindemiths Kardinal Albrecht, Einems Robespierre …). Und weiter – besonders häufig: Tenöre im Übergang oder im Wechsel zwischen lyrischer und heldischer Charakteristik, bezeichnet als Lirico spinto, zu deutsch: Jugendlicher Heldentenor. Gemeint sind die zentralen Rollenträger in der italienischen, französischen, slawischen Oper, von Radames über Don José bis Dalibor.

Blättert man in den Besetzungs-Chroniken der Berliner und Wiener Oper, von Met, Scala, Covent Garden, entdeckt man diesen zentralen Tenortypus als ständige Besetzung auch für die Tenorgestalten Wagners wie des Musikdramas schlechthin. Dies auch in zahlreichen Partien mit der eigentlichen Fachzuschreibung „jugendlich-dramatisch“, also im gesamten deutschen Repertoire, von Mozart über Beethoven, Weber, die Romantiker und die Spieloper bis zur Spätromantik und Moderne.

Aufs Exempel, ein Blick zur Aufführungsstätte, die man am ehesten als Tribüne der dramatischen und heroischen Wagner-Tenöre ausgewiesen glaubt(e): die Bayreuther Festspiele. Dort erschienen von 1894 bis 1937 etwa als Lohengrin nicht nur die Drammatici Alfred von Bary und Max Lorenz, sondern auch – und in Auftrittszahlen häufiger – die Lyriker Birrenkoven, Dalmorès, Wittrisch, dazu Lirici spinti wie Gerhäuser und Völker. Parallelen dazu finden sich beim Erik im Holländer, bei Stolzing und Parsifal. Und genauso, ja noch ausgeprägter, in einer Vielfalt von Sängerbesetzungen an den großen Häusern der Welt, von London bis New York, keineswegs nur im mediterranen Kulturräumen von Milano bis Barcelona.

Musikalität und Dispositionsgenie
Das Feld für Interpretationsvarianten ist also breit und unterschiedlich bestellbar – zeitigt durchaus belebende, kenntnisfördernde Erfahrungen, sofern man Sänger mit technischen Expansionsfähigkeiten, gestalterischer Intelligenz und hoher Musikalität einsetzen kann. Ein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßstabsetzendes Beispiel dafür war der weltweit hochgeschätzte, in den 1950-70ern führende Bayreuther Wagner-Tenor seiner Ära: Wolfgang Windgassen. Von Natur eigentlich ein Tenore lirico mit Optionen eines dramatischen Charaktersängers, vermochte er sich mit sängerischem Knowhow, musikalischer Kompetenz und vor allem dispositiver Intelligenz zu einem respektierten bis bejubelten Zentral-Interpreten sämtlicher Wagner-Tenorpartien zu formen und bis heute in gültigen Rollenportraits auf Tonträgern, live oder Studio, sogar Maßstäbe zu setzen – als Rienzi, Erik, Tannhäuser, Lohengrin, Stolzing, Tristan, Froh, Loge, Siegmund, die Siegfriede, Parsifal – und natürlich auch als Florestan, Max, Pedro, Signot, Guntram, Kaiser, Bacchus bis Othello, Charakterpartien inklusive.

Diese singdarstellerische Erscheinung ist uns im Rückblick über gut 70 Jahre als beispielhaft greifbar. Sie wird durch sehr gute (Hopf, King, Thomas, Cox, Seiffert, Heppner) bis angenäherte, doch in der Folge zunehmend durch reine Surrogat-Besetzungslösungen noch bestätigt. Sie verweist auch auf eine kleine, doch profilbildende, beispielsetzende Anzahl von Vorläufern. Einer davon, vielleicht der beispielhafte, verkörperte recht genau die Zwischenposition von lyrisch & dramatisch & charaktertenoral, weist nach dem Eindruck seiner Tondokumente sogar strukturelle, wenn auch nicht timbre-verwandte Ähnlichkeiten zur Sängercharakteristik des jungen Windgassen auf. Das war der deutsche Universaltenor, sodann berühmte Wagner-Interpret Heinrich Hensel, Absolvent einer heute kaum mehr möglichen Expansiv-Laufbahn vom deutschen Spieltenor über diverse Fachzuordnungen bis zum Wagnersänger von Weltgeltung.

HEINRICH HENSEL (Tenor)
* 29.10.1874 Neustadt/Weinstraße (Rheinpfalz) – †  23.2.1935 Hamburg  

Er befand sich in einer kaufmännischen Ausbildung und sang als Amateursolist bei halböffentlichen Gelegenheiten, als ihn der aus Wien gebürtige Karlsruher Hofkapellmeister, Bayreuther Studienleiter und nachmalige Münchner Generalmusikdirektor Felix Mottl entdeckte. Der brachte ihn zu dem führenden Tenor der Wiener Hofoper Gustav Walter (dem ersten Wiener Stolzing und Loge), der am Ort seiner Triumphe als angesehener Gesangslehrer wirkte und die grundlegende Stimmbildung des Jünglings übernahm. Dieser studierte weiter bei Eduard Bellwidt in Frankfurt/M., dem Lehrer zahlreicher Sängerprominenz, darunter des Bayreuther Siegfrieds und New Yorker Parsifals Alois Burgstaller. Hensel konsultierte während seiner ganzen Karriere namhafte Stimmbildner, so Oscar Saenger in NYC und Jacques Stückgold in München.

Damit schon deutet sich die Ernsthaftigkeit und Ganzheitlichkeit der Berufsauffassung des Tenors an: Hensel verstand sich lebenslang als lernender Musiker. Sein Bühnendebüt fand 1897 am Stadttheater Freiburg i.Br. in der Titelpartie von Flotows Alessandro Stradella, also als Lirico, statt. Er blieb für zwei Spielzeiten, wechselte dann ans Opernhaus Frankfurt/M. Seine Antrittsrolle dort war der Lyonel in Martha, wieder ein Lirico. Sechs Spielzeiten lang blieb Hensel an dem angesehen Haus, erarbeitete sich dort ein vielseitiges Tenor-Repertoire vom Spieltenor bis zu ersten Spinto-Partien. Schon im Jahr seines Engagement-Beginns in Frankfurt kam er als Abendgast an die Wiener Hofoper, als Turiddu in Cavalleria Rusticana.

1902 gab Hensel in Frankfurt den Prinzen in der Uraufführung von Engelbert Humperdincks Oper Dornröschen, 1903 den Franz in der Premiere von Carl Goldmarks Götz von Berlichingen. 1906 ging er ans Hoftheater Wiesbaden, trat ab 1911 zugleich am Hoftheater Karlsruhe auf, wo nach der Ära der großen Dirigenten Hermann Levi (1882 Uraufführungsleiter des Parsifal in Bayreuth) und Felix Mottl, auch aus der Mitwirkung zahlreicher Hoforchester-Musiker in Bayreuth, unter dem neuen Chef Joseph Krips, damals jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands, höchste musikalische Standards herrschten, unter denen der bereits erfahrene Tenorprotagonist Hensel weiter gefördert und zu den Wagner-Partien geführt wurde. 1908 hatte er ein weiteres Debüt an der Berliner Hofoper gehabt – hier in der Leggiero-Tenorpartie des Chapelou in Adams Postillon von Lonjumeau. 1910 nahm er in Wiesbaden an der Uraufführung von Siegfried Wagners Oper Banadietrich teil. Im Jahr darauf hatte er sein Bayreuth-Debüt – in der Titelpartie des Parsifal unter Karl Muck, dann als Loge im Rheingold unter Siegfried Wagner.

Avancements eines Außenseiters?
Von Bayreuth aus begann nun Hensels internationale Karriere: 1911 bis 1914 am Londoner ROH Covent Garden, ab 1911-12 an der Metropolitan Opera New York. Dort debütierte er als Lohengrin, sang bald darauf Siegmund und die Siegfried-Partien im Ring des Nibelungen, parallel dazu den Hans in Smetanas Verkaufter Braut. 1912 präsentierte ihn auch die Chicago Lyric Opera, wieder als Siegmund in der Walküre. In kurzer Zeit war der universale Lirico also zu den dramatischen und sogar heroischen Partien Wagners gelangt. Zurück in Deutschland, wechselte er wohlüberlegt in ein langfristiges Engagement als Erster Heldentenor an das Stadttheater Hamburg, das von 1912-1929 sein Stammhaus blieb.

Die Hamburger Konditionen ermöglichten ihm zahlreiche Auftritte in ganz Europa. Er kam, durchwegs in Wagner-Partien, als Abendgast nach Paris, Zürich, Kopenhagen, Brüssel, Amsterdam, mehrmals London, häufig an beide Opernhäuser von Berlin, in Deutschland außerdem an die Hof- bzw. Staatstheater von Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Hannover. Er gehörte zu den ersten Vokalisten, die die Tradition des klassischen Lied-Recitals (= Liederabends) wieder etablierten. Oft sang er in großen Oratorien-Konzerten. In den1920ern erschien er als eine Art Pendant zu Richard Tauber auch als Operettenstar im Berliner Admiralspalast .

Neben seinen seit 1912 vorherrschenden Wagner-Partien wird Hensel in Archivlisten und Lexika auch als Interpret eines gemischten Lirico- und Spinto-Spektrums  benannt, so mit Mozarts Tamino, Verdis Manrico, Meyerbeers Raoul (!) und Vasco, Boieldieus George Brown in La Dame blanche, Bizets Don José, Mascagnis Turiddu, Leoncavallos Canio, d’Alberts Pedro. Diesem Repertoire folgen auch seine Solo-Einspielungen von bereits 1905 bis 1921.

Eine erstaunliche Laufbahn. Und ein interessantes, nicht allzu großes, doch sehr variantes Repertoire. In seiner Domäne Wagner-Gesang sang Hensel alles, inklusive Tristan. Nach seinem Rückzug vom öffentlichen Wirken 1929 ließ er sich endgültig in Hamburg nieder, nahm als Gesangspädagoge nur wenige Schüler/innen an. Er war zeitweise verheiratet mit der Sopranistin Elsa Schweitzer (1871-1937), die als Elsa Hensel-Schweitzer im jugendlich-dramatischen Fach zwischen Frankfurt und Wien eine beachtliche Karriere hatte und auch auf Tonträgern dokumentiert ist.

Sonderfall in konkurrenzreichen Zeiten
Hensels tönende Hinterlassenschaft kann beim ersten Anhören verblüffende, sogar verstörende Wirkungen auslösen. Das Timbre wirkt zunächst kaum heldisch oder gar wagnerisch heroisch. Die ersten Töne erscheinen zwar kernig, aber auch halsig, beinahe knödelig. Dieser Eindruck verfliegt bald angesichts des präsenten Gesamt-Hörbildes. Wir vernehmen einen gut durchgebildeten, sehr konzentriert geführten, eher schlank als körperhaft geformten Lirico mit ausgeprägten dramatischen Optionen – doch ohne im üblichen Sinne schönen oder gar bezaubernd-bezwingenden Reiz.

Zwar: Das Timbre hat metallische Legierung, silbrige Färbung und – vor allem in der Mezzavoce – gut moduliert-atmende lyrische Fasson. Aber es ist auch nicht frei von kehligen Inflektionen, Beimischungen, Einflüssen. Dies vor allem, wenn das im Grunde lyrische Organ dramatisch eingesetzt und sein Einsatz akzentuiert gesteigert wird. Stellenweise glaubt man dann, einen typischen Charaktertenor zu hören, einen von der dramatischen Sorte, den Meistern dieses Sonderfachs (wie Melchert, Szemere, Liebl, Uhl, Hering, Moeller, Ulfung) zuzordnen. Seine beiden Loge-Soli aus Rheingold (r. 1910) sind Meisterstücke interpretativen Ausruckssingens.

Wie ist dieses Phänomen zu fassen, wie der Sänger einzuordnen? Seine Karriere weist ihn als offenbar hochbelastbaren, dem Rang nach bedeutenden Drammatico aus. Die Tondokumente bestätigen das nicht durchgängig – und dann doch wieder in (von Wagner geforderter) vorbildlicher Wort-Ton-Verbindung fast exemplarisch. Der gebürtige Lirico verfügt über exzellentes, teilweise brillantes technisches Rüstzeug. Er hat in den Prüf-Kategorien der klassischen Schule so gut wie keine sängerischen Probleme. Seine Intonation ist rein und präzise, sein Legato von selbstverständlicher Natürlichkeit und ausgewogenem Fluss. Passaggio-Probleme hat er auch nicht. Seine Dynamik-Wechsel sind – wie sein ganzes Singen – von müheloser Prägnanz. Zwischen sanftem Einsatz und ekstatischer Zuspitzung wird die Stimme ohne Druck durch perfekt verblendete Register geführt. Umschaltungen oder gar Anschleifer vor Aufschwüngen zur Vollhöhe sind nicht zu hören.

Die Fähigkeiten des Sängers sind also exzellent, stellenweise mirakulös. Dennoch kommt nicht der Eindruck einer schlackenlosen Perfektion auf. vielmehr ist „una voce con carattere“ zu hören, mit Meisterschaft geformt und geführt, ausdrucksintensiv und individuell, mehr Instrument der Vermittlung als Träger purer Bellezza tenorale. Dass sich sein Einsatz in lyrischen wie dramatischen, ja sogar heroischen Dimensionen ohne Überanstrengung, Grenzüberschreitung, Abnutzung – jenseits großdimensionierten Natur-Ressourcen – in drei Jahrzehnten als stabil erwies, ist vorrangig sängerischer Perfektion, verbunden mit Ökonomie und dispositiver Intelligenz, zuzuschreiben. Eben das macht den beachtlichen Sänger Heinrich Hensel zu einem Vorläufer von (ohne Timbre-Ähnlichkeiten) in vielem mit ihm vergleichbaren Nachfahren, für die auch der Name Windgassen stehen kann.

Man höre, vergleiche, bewerte – und darf getrost staunen.

                                                                                                            KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel