Kavalier und Bonvivant
Ein Primo Uomo des Ostens:
Martin Ritzmann
42 Opernhäuser gab es in der DDR. Bezogen auf die Einwohnerzahl des Landes war dies einsame Weltspitze. Der Glanz der großen Bühnen in Berlin, Dresden
oder Leipzig strahlte auch in den Westen hinüber. Zwar konnte eine derartige Breite und Fülle von Opernleben in einem vergleichsweise kleinen Staatsgebiet mit ca. 17 Millionen Einwohnern und
begrenzten Ressourcen nicht durchweg Hochleistungen bieten. In Magdeburg, Schwerin, Halle, Erfurt, Gera, Eisleben, Nordhausen gab es oft kaum mehr als mittleres bis gutes Provinzniveau. Dennoch war
der Anteil ostdeutscher hochklassiger Musiker - Dirigenten und Sänger/innen - mit überregionalem, ja internationalem Ansehen und Vermarktungswert ganz
beachtlich.
In den Opernbühnen- und Konzertbesetzungen bei den
staatlichen Kultureinrichtungen der DDR ließen sich neben einigen Stars aus Osteuropa (wie etwa Geszty, Dvorakovà, Wenkoff) zahlreiche Solist/innen mit regionaler Herkunft und Schulung erleben. Im
Rückblick: Zu den wenig gewürdigten Leistungen des zweiten deutschen Staates gehörte ein staatlich gesichertes Kulturleben mit flächendeckender Infrastruktur,
zentral koordinierten Institutionen und umfassend finanzierten Ausbildungsstätten. Diese lieferten dem staatlich geordneten (auch überwachten) Opernbetrieb nahezu unerschöpflich Nachwuchs. Wer davon
an die großen Häuser des Landes gelangte, war bald interessant für Radio- und Tonträger-Auftritte - und hatte in deren Folge (auch nach dem Mauerbau 1961) Optionen auf Gastspiele, Festival-Präsenzen
und nicht zuletzt Tonträgerproduktionen „im Westen“.
Sängerprominenz Ost für Szene
West
Das dadiert schon in den 1950er Jahren in Bayreuth (seit dem
Wiederbeginn der Festspiele 1951), dann in Salzburg, Wien, München, Bregenz, Schwetzingen, Göttingen, bis nach England, Frankreich, Italien … Eine unvollständige Auswahl bekannter, auch
tondokumentierter Namen kann das belegen: die Soprane Maria Croonen, Brünhild Friedland, Dora Zschille, Hanne-Lore Kuhse, Adele Stolte, Jutta
Vulpius, Ingeborg Wenglor, Celestina Casapietra, Els Bolkestein, Eva-Maria Bundschuh, Carola
Nossek; die Mezzos & Altistinnen Gisela Schröter, Annelies
Burmeister, Sigrid Kehl, Ute Trekel-Burckhardt, Rosemarie Lang, Uta Priew; die
Tenöre Erich Witte, Gerd Lutze, Eberhard Büchner, Hanns Nocker, Günter Neumann, Klaus König, Wolfgang Millgramm, Wilfried
Krug, Günther Kurth, Reiner Goldberg; der maßstäbliche Altist Jochen Kowalski; die Baritone Werner Faulhaber, Rudolf Asmus, Karl Paul, Kurt Rehm, Günter Leib, Olaf Bär, Siegfried Lorenz, Hans-Joachim Ketelsen, Roman
Trekel; die Bassbaritone & Bässe Gerhard
Frey, Heinrich Pflanzl, Siegfried Vogel, Gerd Wolf, Reiner Süss, Rolf Kühne, Falk Struckmann, Ekkehard Wlaschiha, Fritz
Hübner, René Pape …
Darüber hinaus erreichte eine Handvoll bedeutender Sänger aus
der DDR Weltruhm und internationale Medienpräsenz. Allen voraus zwei Sänger - beide sächsisch geprägt, beide aus der Bachpflege-Tradition der der Kreuz- & Thomanerchöre: der
Tenor Peter Schreier (1935-2019) und der Basso
cantante Theo Adam (1926-2019) - bis heute Namen, die jeder Opernfreund kennt und großenteils in seinen
Tonträger-Archiven hat.
Tenore protagonista der
Republik
Der zweite deutsche Staat hatte aber auch seinen populären
Tenorstar für alle Publikumsgruppen: die Klassikpuristen, die Gesangskundigen, die Kulturbürger, die Operetten- & Show-Konsumenten, also die breite Menge der vokal begeisterten Mediennutzer,
somit der von sinnlich-schmeichelndem, leuchtendem oder strahlendem Tenorglanz begeisterten Hörer und Sammler: eine Art Rosvaenge, Wittrisch, Anders, Schock der
Republik.
Das
war Martin Ritzmann - ein Repräsentant der Spezies Belami, Bonvivant & Bravado, zugleich klassischer Lirico
spinto im „seriösen Fach“. Er kam aus der thüringischen Provinz, durchlief ebendort seine künstlerische Sozialisation und Ausbildung, vollzog eine beinahe prototypisch ostdeutsche Laufbahn - und
hätte als einer der zentralen Tenöre seiner Ära europäische Karriere machen können. Doch er blieb den Optionen und Occasionen seiner Herkunft, Bindung, Prägung treu und erreichte, was ihm daraus
attraktiv erscheinen mochte - gefragt, gefeiert, geliebt, überdies dokumentiert und dekoriert.
Martin
Ritzmann - Tenor
* 21.
Februar 1919 in Oberschönau
(Krs.Schmalkalden-Meiningen in
Thüringen) -
† 7.
August 1984 in Ost-Berlin
Er stammte aus einfachen Verhältnissen, die man „proletarisch“ nannte, verschaffte sich Zugang zu Bildung und Kultur über die Bildungsangebote der
Arbeiterbewegung. Nach dem als Grauen erlebten Kriegsdienst in der NS-Wehrmacht fand er in sowjetischer Gefangenschaft Trost durch Freundschaft mit russischen Soldaten, die ihn mit Musik und Gesang
zu kulturellen Erfahrungen brachten. Dabei wurde seine Naturstimme entdeckt, gefordert, entwickelt. Als er nach drei Jahren heimkehrte, stand für ihn fest: Er wollte bei der Kunst
bleiben.
Das Erfurter Konservatorium nahm ihn 1949 als einen der
ersten Nachkriegs-Studierenden an. Nach nur zwei Jahren schloss er mit der Bühnenreife-Prüfung ab. Im selben Jahr 1951 erhielt er ein erstes Engagement am Landestheater Altenburg/Gera mit seinem
Bühnendebüt in der Ténor-léger-Partie des Chapelou in Adams Postillon von
Lonjumeau. Dessen Hohes D‘‘‘ saß perfekt. Ein Festengagement folgte umgehend. In vier Altenburger Spielzeiten übernahm der Debütant 24 Partien in Opern und
Operetten, stand pro Monat 20mal auf der Bühne.
Beginn und Aufstieg im
leichten Fach
Ein Gastauftritt am Berliner Metropol-Theater brachte den
Durchbruch an die DDR-Spitze: Der Metropol-Chef Hans Pitra, ein ausgewiesener Talentfinder, holte den bühnenattraktiven Lirico fest an sein Haus und damit nach Berlin. Seine erste
Operettenkavalier-Rolle dort war der Dichter Manuel in Eberhard Schmidts Bolero. Bis 1958 war Ritzmann Ensemble-Mitglied mit zahlreichen klassischen und neuen Operetten, Singspielen, Revuen. Er wurde Berliner auf
Lebenszeit.
Schon in den Metropol-Jahren wuchs sein Ruf landesweit. Für
die DDR-Rundfunksender, dann auch für das staatliche Plattenlabel Eterna, entstanden Studio-Einspielungen, erst aus dem Operetten- und Unterhaltungs-Repertoire, dann in Opernpartien, nicht nur mit
geläufigen Tenorstücken, sondern auch als Spinto im jugendlich-dramatischen Fach. Bereits 1956 war es soweit: Die Deutsche Staatoper Unter den Linden, wie seit dem Kaiserreich so auch in der der DDR
das erste Opernhaus, bot ihm einem Gastvertrag, verpflichtete ihn dann ab 1958 als ersten Tenor für die zentralen Partien der deutschen, italienischen, französischen, slawischen Oper, also für das
gesamte Kernrepertoire.
Ritzmanns Spektrum entwickelte sich schnell, doch
kontinuierlich und sinnvoll. Er begann als Lirico, schritt weiter zum Spinto, dann auch zum Drammatico - mit (in Auswahl:) Mozarts Belmonte & Don Ottavio. Webers Max. Verdis Duca, Alfredo,
Manrico, dann Riccardo & Don Carlos, später Alvaro, Radames, Otello. Wagners Erik & Stolzing. Bizets Don José. Leoncavallos Canio. Puccinis Cavaradossi & Pinkerton, später Kalaf.
Tschaikowskis Lenski & Hermann. Dvoráks Prinz. Richard Strauss‘ Bacchus, Kaiser, Apollo. Johann Strauß‘ Eisenstein. Dazu auch Partien in zeitgenössischen Werken, darunter die Uraufführungen von
Paul Dessaus Puntila (als Bibelius) und
Einstein (als Leonardo).
Die Favorit-Partie:
Lohengrin
Sein auch in internationalem und historischem Maßstab
glänzendstes Rollenportrait war die Titelpartie in Wagners Lohengrin. Sie ist in einer Szenenfolge mit der Staatskapelle Berlin unter Otmar Suitner (+ Kuhse,
Dvorakova, Adam) dokumentiert. Über diese Interpretation schrieb der Musikwissenschaftler Ernst Krause (Präsident der Internationalen
Richard-Strauss-Gesellschaft): „Ritzmanns Lohengrin wird in der Erinnerung Tausender bleiben, die das Glück hatten, den Künstler in dieser Partie zu erleben. Waren ihm nicht
Glanz und Wonne des Schwanenritters förmlich aufs Stimmband geschrieben? Stimmkultur und Schmelz verbinden sich hier mit einer heldischen Pracht der Kantilene, wie sie anderen Tenören nur bei Verdi
gegeben ist - selbst in den gefährlich isolierten Spitzentönen des Parts immer präsent, mit unverbildeter Frische und Schlankheit des Tons … Ritzmann war seiner Sache sicher: Mit diesem
Wagner-Helden, den er liebte, war er weit und breit einer der Besten.“
Eine deutsch geschulte
deutsche Stimme
In der Tat präsentiert Ritzmanns tönende Hinterlassenschaft eine von Natur lyrische, doch aufs dramatische Fach hindeutende, einerseits schlanke und
hellfarbene, aber (mit minimalen sandigen Spuren individualisierte) metallische deutsche Tenorstimme - ideal für jugendliche Bühnengestalten mit dramatischen Optionen. Sie belegt in Färbung und
Timbre deutsche Herkunft, dem jungen Peter Anders verwandt, in Faktur und Führung nach deutscher
Gesangstradition, im dramatischen Zugriff nahe dem attitüdenreichen Helge Rosvaenge. In den unteren Lagen strahlt sie wenig Glamour aus, wirkt
mitunter sogar flach = wenig belebt. Das ändert sich mit der Zufuhr von Atemdynamik und im Mezzavoce-Legatofluss. Sofort animierend und bis zu feuriger Forte-Entfaltung expansiv, macht die Stimme
Effekt durch schier grenzenlose
Höhendimensionen, in strahlenden Spitzentönen wie in fein artikulierten Phrasenverläufen auf hoher und höchster Tessitura. So in der Finalphrase von Kalafs „Nessun dorma“, einem Prachtstück
klangdynamischer Modulation in strahlendem Gepräge.
Ritzmanns sängerisches Rüstzeug ist, ungeachtet seiner
Orientierung an der musikdramatischen deutschen Stiltradition der 1920-40er Jahre, solide, sein varianter Einsatz souverän - mit sauberer Intonation, großen Atemressourcen, gut verblendeten
Registern. Der Aufstieg zu Spitzentönen vollzieht sich in entspanntem Legato, und in der obersten Stimm-Etage zwischen H‘‘-Cis‘‘‘ scheint sich der Tenor erst richtig wohl zu fühlen. Die Nummernfolge
seiner fächerübergreifenden Opern-Recitals ist ein ständiges Hör-Menü tenoraler Köstlichkeiten, die - in ihrer oft plakativen Fülle konsumiert - auch zur Völlerei ausarten
können.
Dabei verblüfft fallweise manche interpretative Umsetzung:
Nemorinos Romanze „Heimlich aus ihrem Auge“ aus Donizettis Liebestrank
wird zügig, geradezu stürmisch angefasst - ohne
sehnsuchtsvollen Ausdruck, ohne Abschlussphrase und belcantistische Elemente. Und die Sänger-Arie aus dem Rosenkavalier kommt als beinahe dramatische Einlage, nicht als Lento-Stück mit lyrischem Impuls daher,
ein Höhenlage-Kraftakt immerhin. Was also dem Einsatz des offenbar hochbelastbaren Stimm-Materials weithin fehlt, ist ein Ausgleich durch Farbenfülle= Chiaroscuro-, Morendo-, Sfumato-Effekte, die dem
darstellenden, interpretierenden Gesang erst „Face in the voice“, also Wirkung als Medium gesungener Inhalte verleihen.
Sehr andere Ausstrahlung durch sängerische Manier bieten
einige Operetten-Favoriten, so aus Lehárs Paganini
und
Kattniggs Balkanliebe. Da ist der chevalereske Leggero-Schwung, die akustisch vermittelte Lust und Leichtigkeit,
die dieses Genre braucht - noch keine Vokal-Verführung à la Tauber, aber starke Nähe zu Wittrisch oder Schock. Überhaupt belegen Einzelfunde aus dem breiten Solorecital-Angebot, dass Ritzmann
keinesweg nur höhenprotzender Bravoursänger war, sondern - namentlich im dramatischen Zwischenfach - mit starken, beeindruckenden, bewegenden Interpretationen überzeugen konnte. Zu seinen
wertvollsten Einzelaufnahmen gehören die Soli aus Verdis Don
Carlos, Puccinis Turandot, Verdis Macht des
Schicksals, Webers Freischütz, Beethovens
Fidelio und natürlich Wagners
Lohengrin. Am höchsten ist ein vier Minuten langes Arioso aus
Berlioz‘ Trojanern zu bewerten. Da gibt Ritzmann mit wunderbarer Klangfärbung, strömendem Legato und
ausgewogener Phrasierung einen Lehrmoment exemplarischen Bühnengesangs - darin berühmtesten Kollegen seiner Ära ebenbürtig.
Ein bescheidener
Bedeutender
Der Sänger war seinem Lebensort Berlin und seiner
Schicksalsbühne eng, ja leidenschaftlich verbunden. Ein Vierteljahrhundert lang, bis zu seinem allzu frühen Tod, blieb er als ein Primus inter pares im Verband des berühmten Opernhauses. Seine
dominante Position als führender Operettentenor der Republik, auch als Mensch und Persönlichkeit populärerer Sängerstar wurde - nun in Medien, vor allem Radio und LP - noch gesteigert. Gastsauftritte
im Ausland gab er auch - so in Wien, München, Paris, Moskau, Budapest, und mit dem Ensemble der Deutschen Staatsoper in Brüssel, Lausanne, Bukarest, Kairo … Sein Staat zeichnete ihn mit dem
Kammersänger-Titel aus, verlieh ihm den Großen Kunstpreis der DDR (1962) und den Vaterländischen Verdienstorden in Gold
(1979).
Mit erst 65 Jahren starb Martin Ritzmann am 7. August 1984 in
Ost-Berlin. Er fand seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Pankow IX
in Berlin-Französisch Buchholz. Unter seiner klingenden Hinterlassenschaft haben die Szenenfolgen aus
Wagners Lohengrin, Verdis Macht des
Schicksals und Mussorgskijs Boris
Godunov die größte Breitenwirkung erreicht. Von beiden Dessau-Opern gibt es Gesamtaufnahmen. Im Beethoven Sinfonien-Zyklus mit der Tschechischen Philharmonie
unter Paul Kletzki ist Ritzmann mit dem Tenorpart der Neunten zu hören. Zwei Eterna-Recitals präsentierten seine wichtigsten Studio-Einzelaufnahmen. Die HAfG Edition ist die größte bisherige Sammlung
von Ritzmanns Tondokumenten - zum Gesamtportrait erweitert durch bisher unveröffentlichte Live-Mitschnitte.
Martin Ritzmann hatte die ihm wichtigen Stationen und
Positionen eines erfüllten und resonanzreichen Sängerlebens erreicht. Unter anderen politischen Verhältnissen hätte sich seine Karriere auch auf die großen europäischen und interkontinentalen
Musikzentren ausgedehnt. Als Lohengrin etwa kann er noch vom Tonträger den Vergleich mit allen Nachkriegsbesetzungen in Bayreuth bestehen. Das und mehr sichert ihm seinen Platz in der
Gesangshistorie
KUS