“Ein Meistersinger muß er
sein“
Dezsö Ernster: Basso serioso, Herz- und
Hirnsänger
Was wert die Kunst, und was sie
gilt,
das ward ich der Welt zu zeigen gewillt.
(Pogners Preisauslobung)
Was für eine Biographie! Welche Künstlerschaft! Welche Bewährung in Lebensbahn und Interpretentum! Welcher
Wieder-Entdeckungswert verbindet sich mit dem Namen: Dezsö Ernster.
Wir wenden uns einem großen Kaumbekannten (oder Frühvergessenen) der Gesangsgeschichte zu – und bemerken, dass wir
uns dieser Gestalt in ihrer Ära von deren Ende her nähern sollten. Auf dem Weg durch eine zunächst normale, ja typische Bassisten-Laufbahn mit solidem Beginn und gemessenem Aufstieg als
Zukunftsträger war er zum Diffamierten, dann zum Gejagten geworden, dann gerettet und nahezu auferstanden, dann auf die Höhen einer Weltkarriere gehoben, dann in einer Phase souveräner Spätwirkung zu
einer Art Denkmal geworden, schließlich in kontemplativem Ausklang als Welt- und Kulturbürger von bedeutenden Zeitgenossen geschätzt und begleitet.
Der ungarische Bassist Dezsö Ernster (1898–1981) war eine der wichtigen, zeitweise
führenden Sängerpersönlichkeiten der zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dominanter Position an der Metropolitan Opera New York, als Mitglied der Wiener Staatsoper, als hochgeachteter
Gast europäischer Opernhäuser, abschließend als Erster Basso an der Deutschen Oper am Rhein. Seine tönende Hinterlassenschaft ist angesichts dessen fast skandalös schmal, wirkt eher zufällig, setzt
vor allem viel zu spät ein. Hätten wir nicht Live- Mitschnitte aus der Met der 1940er und frühen 1950er, wäre er nicht annähernd dokumentiert, eine CD-Edition wie diese nicht möglich. Doch damit ist
der Sänger kein Einzelfall, vielmehr nur einer in einer Hundertschaft namhafter bis wichtigster Gesangskünstler/innen der Jahrhundertmitte, von denen kaum Tonspuren zeugten, hätte es nicht die längst
historische Rundfunkarbeit dieser Epoche gegeben.
Die Seriosi-Profondi
Dezsö Ernster repräsentiert die heute nurmehr selten zu treffende Gruppe der kernig-körnigen, gelegentlich ein wenig
knorrig oder sogar harsch wirkenden Basso-serioso-Stimmen, die ausweislich der Tondokumente in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zentrale Stellung einnahmen, dann aber mehr und mehr in den
Hintergrund traten gegenüber den eher weichen, runden, breiten, glockigen,
zwischen Ebenholz und Mahagoni changierenden, meist mit nasalem Beiklang behafteten Profondo-Organen à la Frick, van Mill, Talvela, Roth-Ehrang, Rundgren, Meven,
Hölle, Rootering, Holl, Salminen.
Diesen gegenüber schaffen oder doch eher: schufen die „Körnigen“ markantes Profil durch schlankere Führung, betonten
Vordersitz der Tonplatzierung, verstärktes Vibrato, sichere Höhen mit eher metallisch-vibrantem als gerundet-gedecktem Klanggepräge, dazu schwarzfunkelnden, schwingenden Tiefen von scheinbar
grenzenloser Dimension. Besonders deutliche Ausprägungen dieses Stimmtyps evozieren jenen Eindruck, den man als Autorität und Persönlichkeit wahrnehmen kann – wodurch der Begriff „Charakterbass“
entstanden sein dürfte.
Zentrale Vertreter dieses Stimm- und Sängertyps waren, in kleiner Auswahl: Paul Knüpfer, Vilem Hesch, Leon Rains,
Alexander Kipnis, Josef von Manowarda, Ludwig Hofmann, Wilhelm Strienz, Herbert Alsen, Sigmund Roth, Otto von Rohr, tendenziell auch Theo Adam, Tugomir Franc, Walter Kreppel, Kurt Rydl – doch vor
allem der Wiener Bassist Emanuel List (1888-1967), der seit den 1920er Jahren ein erster Vertreter im seriösen Fach mit Weltgeltung, doch festem Engagement an der Berliner Staatsoper war, 1931-35 bei
den Salzburger, 1933 auch den Bayreuther Festspielen dominierte, dann aus der NS-Diktatur nach den USA auswanderte und bis weit in die 1940er neben Kipnis an der Metropolitan Opera NYC das deutsche –
und das hieß vor allem: Wagner-Repertoire beherrschte. An seinen Tonaufnahmen, legendär der 1. Walküre-Aufzug mit Lehmann & Melchior unter Bruno Walter (1935 Wien) ist der skizzierte
„körnige“ Klang eines sonst fülligen, beinahe lyrisch geführten, flexiblen Basso der Kategorie Serioso exemplarisch nachzuweisen.
Emanuel Lists physische Ressourcen, vor allem im oberen Register, ließen gegen Kriegsende deutlich nach. Sein
eigentlicher Nachfolger an der Met wurde 1946 für 14 Seasons Dezsö Ernster. Doch zuvor hatte er ein so hoffnungs- wie wechsel-volles Sängerleben zu durchmessen. Zwischen Glück und Tragik prägte es
seine Persönlichkeit nachdrücklich, ließ ihm markante Individualität, Vermittlungs-kraft, Ausstrahlung, Reife zuwachsen.
Namentlich: ein Erwählter
Ernster kam am 13. November 1898 in Pécs / Ungarn zur Welt, war also mehr als zehn Jahre jünger als der Wiener
Kollege List. Dezsö (zu sprechen Deschö, mit weichem Zischlaut, wie das französische „J“ in Jeanette und nicht „ß“ wie in Franz Liszt, weshalb die häufig zu lesende
Schreibweise mit „sz“ fehlgeht) ist die ungarische Version des lateinischen Namens Desiderius = der Erwünschte, der Ersehnte, auch der Erlöser.
Bis zur Jahrhundertmitte wurden ausländische Vornamen von Interpreten gern in die Sprachversion des Auftrittslandes
übertragen. So standen in den 1920ern in der Arena di Verona in Wagners Maestri Cantori Sängerlegenden wie Marcello (= Marcel) Journet als Sachs und Giovanni (= John) O’Sullivan als Stolzing
auf der Szene. In Bayreuth wurde der ungarische Tenor Pilinszky Zsigmont als Sigismund von Pilinsky annonciert, in der Stargalerie der Wiener Staatsoper steht Pataky Kálmán als Koloman von Pataky
verzeichnet. In USA und weltweit wird der Dirigent Széll György bis heute als George Szell verehrt. Aus Dezsö wurde in deutschen Landen vielfach Desider, eine Kurzform des lateinischen Originals. Man
erinnert Jahrhundertsänger wie Desider Arányi (1868-1923), der 1901 ein erster Salzburger Don Ottavio und 1902 in Prag der Uraufführungs-sänger des Pedro in Tiefland war, oder Desider Zador
(1873-1931), den wohl berühmtesten Alberich des ersten Jahrhundertdrittels. Auf den Besetzungslisten der 1920/30er findet sich also meist ein Desider Ernster.
Dieser war der Sohn des Kantors der Synagoge von Pécs. Er war vom Vater wohl für dessen Nachfolge vorgesehen,
erhielt also sehr früh Gesangsunterricht. Über seine weitere Ausbildung ist wenig erfahrbar; sicher sind Studien an den Musik-Akademien von Budapest und Wien. Erste solistische Auftritte dürften in
israeli-tischen Gemeinden stattgefunden haben – Parallelen von Hermann Jadlowker und Joseph Schwarz bis Jan Peerce und Richard Tucker sind offenkundig. Doch auch Ernster strebte die Konzert- und
Opernsänger-Laufbahn an. Sein erstes Engagement erhielt er 1923 am Stadttheater Plauen (Vogtland/Sachsen), wo er auch sein Bühnendebüt hatte – ein 25jähriger Jungmann als Landgraf im
Tannhäuser. Eine Spielzeit lang sang er in Plauen das ganze Bass-Repertoire. Dann wechselte er für 1924/25 ans Opernhaus Elberfeld-Barmen (heute also Wuppertal). Wieder nur ein Jahr weiter
gelangte er ins renommierte Opern-ensemble der Rheinmetropole Duisburg, wo Robert von der Linde als 1. Bassist gleichsam „regierte“ (und bald ein junger Berliner namens Otto von Rohr
dessen Nachfolge antreten sollte).
Duisburg war eine der Sprungbrett-Bühnen des deutschen Opernlebens. Während dreier Spielzeiten konnte Ernster dort
auf sich aufmerksam machen. Mit Folgen: 1928 kam er nach mehreren Gastauftritten fest an die Berliner Staatsoper, führende Musikbühne der Republik, Ziel der Sängerkarrieren. Doch an den drei Berliner
Opernhäusern war das Basso-Repertoire (ein Bass im Festengagement sang und singt bekanntlich alles) reich und dicht besetzt. Neben den Staatsopern-Stars Hofmann und Manowarda waren dort, oft mit
wechseln- den Auftrittspräsenzen an mehr als einem Haus tätig: Etwa der unverwüstliche „Schwarzbass“ Otto Helgers, bedeutend als Wagnersänger, sommers prominent an der Waldoper Zoppot. Dann der
legendäre Bayreuth-Protagonist Carl Braun, langjährig als Profondo, auch als Heldenbariton bester Bayreuther Standard, von Gurnemanz über Hagen bis Wotan. Dazu mit varianter Ausrichtung, auch als
Basso cantante im Italo-Fach, der balsamisch tönende Martin Abendroth. Weiter der markante, auch als Buffo populäre Eduard Kandl. Als bereits etablierter Charakterbass der bald auch international
gefragte Rudolf Watzke. Schließlich Ernsters stimmgewaltiger Landsmann Oszkár Kálmán, Uraufführungssänger in Bartóks Herzog Blaubart, neben seiner Starposition an der Ungarischen National-
oper Protagonist auch in Berlin. Neben und vor all diesen dominant der spätere Met-Protagonist Emanuel List.
Universalist im Opernmekka
So bekam Ernster erst einmal Comprimario-Partien. Das blieb nicht so. An der Berliner „Staatsoper am Platz der
Republik“ (im Volksmund bis heute gängig als „Kroll-Oper“), dem damaligen Avantgarde-Opernhaus Berlins, konnte er unter Leitung bedeutender Dirigenten wie Klemperer, Zemlinsky, Zweig bald Auf- gaben
aller Art übernehmen – so den Eremiten im Freischütz, Don Fernando im Fidelio, Zuniga in Carmen. Wie diverse Kollegen war er nicht an nur ein Haus gekettet. 1929 wirkte er
„bei Kroll“ in der Uraufführung von Hindemiths Neues vom Tage mit, 1930 an der Staatsoper Unter den Linden in der spektakulären deutschsprachigen Uraufführung von Milhauds Christophe
Colomb. Dort war er weiter in kleineren Rollen zu hören, wie Tom im Maskenball, Lodovico im Othello, Foltz in den Meistersingern, Roucher in André Chénier, Dr.Vigelius in Schrekers Der ferne Klang, Spinelloccio in
Gianni Schicchi, aber auch schon als Brander in Margarete, König in
Aida, Biterolf in Tannhäuser, Severolus in Palestrina.
Erstaunlicherweise konnte der junge Bass auch Tonaufnahmen machen, genauer: an solchen teilnehmen. Es handelte sich
um heute nahezu wertlose sogenannte „Kurzopern“ – das waren Potpourris von Partitur-Ausschnitten, nicht mit Abfolgen von Werknummern, sondern von Motiven und Passagen in willkür-lichen
Aneinanderreihungen ohne Übergänge, Opern-„Digests“ allenfalls, in zwei- bis viermal ca. Drei-Minuten-Länge. Darin waren prominente Sänger zu vernehmen, gelegentlich mit Winzig-Einwürfen auch
jüngere, noch nicht zu Popularität gelangte Nachwuchskräfte, darunter der Bassist Ernster. Leider geben diese Fragmente für eine informative Diskographie gar nichts her.
Obwohl dem immer noch jungen Ernster in Berlin, allein durch die Zusam-menarbeit mit Epoche-Dirigenten, mannigfache
Eindrücke und Kontakte zuteil wurden, war die Konkurrenz zu übermächtig für einen auch nur gemächlich-soliden Karriereaufbau. Für 1931/32 ging der Sänger als Erster Bass ans Opern- haus
der Wagner-Hochburg Dessau, wo er wieder große Erstfachpartien singen
konnte.
Sogleich folgte noch ein Karrieresprung – nun ans Mehrspartenhaus
Düssel-
dorf, zwischen Köln und Duisburg das dritte renommierte Institut mit Staats-theater-Rang am Rhein. Nun bahnte sich der Durchbruch in die „erste Reihe“ an. Noch 1931 wurde er nach Bayreuth
verpflichtet, sang dort Biterolf im Tannhäuser, Steuermann im Tristan, Titurel und 2. Gralsritter im Parsifal. Seine Bekanntheit wuchs. Das belegt ein Abendgastspiel an der
Wiener Staatsoper, am 5.10.1933
als Kardinal Brogny in Halévys Die Jüdin. Es sollte zunächst der einzige Auftritt an der Wiener Weltbühne bleiben. Doch es folgten Auftritte im westeuropäischen Ausland, sogar eine
Ensemble-Tournee nach Ägypten.
Dann aber hatten die Nazis die Macht in Deutschland übertragen bekommen. Irrationalität und Rassenwahn regierten mit
Zwang, Populismus, Gewalt. Am
30. Mai 1933 beschloss der Hauptausschuss der Stadtverwaltung Düsseldorf
die Entlassung aller „nichtarischen“ Künstler. Für den Sohn eines ungarischen Synagogenkantors war die kurze Zeit eines vielversprechenden Aufstiegs zu Ende, und eine Eskalation des Unheils begann.
Im Deutschen Reich, das die Republik getilgt hatte, fand Ernster keine Auftrittsmöglichkeiten mehr. Er brauchte einen repressionsfreien Wirkungsort, suchte im noch selbständigen Österreich, fand ihn
am angesehenen Opernhaus Graz, auch dieses bis heute
ein guter Platz für den Einstieg zu Karrieren. Ernster sang im dortigen Ensemble, hatte ferner Auftritte an den Landesbühnen, gastierte 1937 sogar mit einer Salzburg Opera Guild unter Leitung des
damals jungen, später weltbekannten Alberto Erede in den USA. Dort erreichten ihn wieder Einladungen zu Solo- Gastspielen, so von der Chicago Liric Opera, wo er 1938 als Pogner in Wagners
Meistersingern debütierte.
Erniedrigung und Lebensgefahr
Doch der Weg ins Verderben war nicht zu Ende. Als nach der Liquidierung
der Republik Österreich, nunmehr als „Ostmark“ reichsdeutsche Provinz, den Sänger erneut die Welle der Judenaustreibung traf, suchte er Lebens- und Arbeitsgrundlagen in seiner Heimat, übersiedelte
nach Ungarn. Auch dort erhielt er gleich ein Engagement, aber nur bei der 1910 gegründeten jüdischen Opern-compagnie OMIKE (dem Országos Magyar Izraelita Közművelődési Egyesület = Nationalen Ungarisch-Israelitischer Bildungsverein), die in drei Budapester Theaterräumen auftrat.
Sein Wirken dort, gleich wieder als Erster Bassist des Ensembles, währte bis kurz vor 1944. Dann trafen ihn die Diskriminierungen
der „Judengesetze“ des faschistischen Ungarn – er wurde verhaftet und nach Reichsdeutschland zum KZ Bergen-Belsen überstellt. Wie Zehntausenden Schicksalsgefährten hätte ihm dort der Shoah-Tod
gedroht, wäre sein Name
nicht kurz vor Kriegsende auf die Liste des „Komitee für Hilfe und Rettung“
des zionistischen Publizisten Rudolf Kasztner gelangt, das 1.684 Juden in die Schweiz retten konnte.
Als sich im befreiten Ungarn wieder ein Musikleben aufbaute und der große Dirigent Otto Klemperer (zu Ernsters
Berliner Zeit Chef der Kroll-Oper) 1947-1950 dort Musikdirektor der Nationaloper war, gelangte Ernster in den Umkreis seiner kulturellen Sozialisation zurück. Er hatte Auftritte in Budapest, sang
aber häufig auch in der Schweiz, dort vor allem am großen Opernhaus von Basel. Er bedurfte der physischen und psychischen Rekonvaleszenz – doch seine stimmlichen Ressourcen waren intakt und bald
gestärkt. Die Schreckensphase seines Lebens neigte sich, das Schicksal öffnete dem Sänger nun die Türen. 1946 erreichte ihn ein Angebot der Metropolitan Opera New York. Da es auf Dauer angelegt war,
reiste Ernster zu ersten Auftritten, ging dann langfristige Bindun- gen ein, nahm einen Wohnsitz in New York. Aus dieser Wirkungsphase ist er endlich mit Klangzeugnissen
dokumentiert.
Späte Weltkarriere
An der Met stand das Wagner-Repertoire schon immer in hohem Kurs, auch während der
Kriegszeit – dabei getragen von einem Weltrang-Ensemble, in dem neben dem Traumpaar des hochdramatischen Gesangs, Kirsten Flagstad und Lauritz Melchior, aus dem nazifizierten deutschen Kulturleben
ausgereiste Künstler dominierten: Lotte Lehmann, Dorothee Manski, Rose Pauly, Elisabeth Rethberg, Irene Jessner, Friedrich Schorr, Herbert Janssen, Emanuel List, Alexander Kipnis, Karl Laufkötter,
Walter Olitzki, Gerhard Pechner ...
Eine erfreuliche Fülle an Live-Mitschnitten der von Texaco gesponserten
Radioübertragungsreihe der Matinee-Aufführungen hat uns das Repertoire der Met, oftmals in Bestbesetzung, also auf Weltrangniveau, seit Beginn der 1930er Jahre, später nahezu wöchentlich, bewahrt.
Neben Kipnis und gelegentlichen Gästen war im deutschen Fach, namentlich mit Wagner-Werken, vorrangig Emanuel List beschäftigt. Man kann dessen langsamen stimmlichen Abbau gut verfolgen – und erkennt
in dem 1946 als König Marke im Tristan debütierenden Dezsö Ernster sofort den adäquaten Nachfolger, nicht nur des sängerischen und künstlerischen Ranges, sondern auch der frappierenden Nähe
von Timbre und Klangfarben wegen.
Deszö Ernster war in den USA vielbeschäftigt, nicht nur an der Met. Als Erst- fach-Interpret vor allem in Opern von
Wagner, Strauss, Mozart gewann er schnell kontinentales Ansehen, belegt durch Engagements in San Francisco und Chicago. Sein Repertoire umfasste Wagners Landgraf, König Heinrich, Marke, Pogner,
Fafner, Hagen, Gurnemanz und Titurel, Mozarts Osmin, Commendatore und Sarastro, Beethovens Rocco, Verdis Sparafucile, Filippo II, Ramfis und Grande-Inquisitore, Saint-Saëns’ Vieillard Hébreu, Strauss’
Nazarener und Ochs. 15 Jahre lang währte seine US-Karriere, mit der Met (175 Abende in 14 Spiel-zeiten) im Zentrum. Sein Ruhm wuchs über Nordamerika hinaus, manifestierte sich seit 1949 in
Gastspielen an der Grand-Opéra Paris, am Covent Garden London, am Teatro Regio Turin, am Teatro dell’Opera Rom, am Grand-Théâtre de Genève, am Opernhaus Zürich, am Colón Buenos Aires und an der Opera de Rio
de Janeiro.
Zurück zu den Wurzeln
1952 war Ernster beim Glyndebourne Festival unter Vittorio Gui Don Alfonso in Così fan tutte, 1954 unter
Furtwängler Commendatore im Don Giovanni bei den Salzburger Festspielen. Seit 1949 nahm ihn endlich auch die Wiener Staatsoper unter Gastvertrag. Bis 1956 sang Ernster dort in 78
Aufführungen (vorrangig deutsch) seine Met/US-Partien Sarastro, Osmin, Rocco, Landgraf, Heinrich, Pogner, Sparafucile, Philipp, Ramphis, Nazarener, dazu Hunding in der Walküre und Fürst
Gremin in Eugen Onegin. Er wurde nun weltweit in der ersten Reihe der Seriösen Bässe mit Schwerpunkt im deutschen Fach geführt. Nach Ende seiner US-Verträge ging er nach Europa zurück und
siedelte sich in Zürich an.
1958 schloss er einen letzten Festvertrag mit der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, damals zum Haus von
europäischem Rang aufgestiegen: Angesehene Dirigenten wie Zweig, Erede, Szenkar, Quennet prägten das Profil des Instituts; nicht weniger Sängerpersönlichkeiten wie Varnay, Zadek, Bjoner, Green,
Siebert, Paller, Schwarzenberg, Sommer, Kenney, Ekström, Wien, Deisen, Hopf, Ernest, Rietjens, Wehofschitz, H.Kraus, Imdahl, Cordes, Beresford, Mittelmann, Symonette, Andersson, Fehn, Giongo, dazu
Stargäste wie Mödl, Hillebrecht, Rothenberger, Svanholm, Traxel. Und im Zentrum der Mann mit dem Ruhm eines weltbewährten Nestors: Dezsö Ernster. Bis 1964 dauerte sein Wirken an der Rheinoper als
deren unbestrittener Basso-Doyen. Das rheinische Publikum brachte dem großen Bassisten Verehrung entgegen. Zeitzeugen berichten von singdarstellerisch erhebenden Eindrücken, vor allem als Marke im
Tristan und Gurnemanz im Parsifal. Eine Reihe damals noch neu studierter Bühnengestalten, vornehmlich aus dem Profondo-Tiefenspektrum des Bassisten, ergänzen seine Position in der
Gesangshistorie, so Peneios in Strauss’ Daphne oder Tommaso in d’Alberts Tiefland.
1964 beendete Dezsö Ernster seine Laufbahn als Sängerdarsteller im ubiquitären Dauereinsatz. Nun, nahe den 70ern,
zog er sich schrittweise ins Private zurück, nahm zuletzt noch Abendgastspiele in Zürich und Budapest wahr. In einer Konzert-Aufführung des Parsifal in der ungarischen Kapitale nahm er 1966
als Gurnemanz endgültig Abschied von den Bühnen und Podien der Welt. Er lebte noch 15 Jahre in Zürich, wach, interessiert, belesen, auf Distanz zum Kultur-betrieb, doch in Austausch und Begegnung mit
bedeutenden Geistern der Zeit.
Exponent und Individualist
Ein ausführlicher Eintrag zu Dezsö Ernster im
Großen Sängerlexikon Kutsch-Riemens positioniert ihn so: Voluminöse, dunkel timbrierte Baßstimme im Sinne eines Basso cantante. Das ist, mit Verlaub, unzutreffendes Geschwafel. Ernster
war ein autentischer Basso serioso (e profondo) klassischen Zuschnitts, das wird mit jedem Tondokument, auch mit seinem Repertoire belegt. Die einzige Basso-cantante-Partien, die er regelmäßig
geboten hat, sind Mozarts Don Alfonso in Così und Verdis Filippo im Don Carlo, im Original geschrieben für einen französischen Basse chantant, der im deutschen
Sprachraum stets mit dem
1. Bass des jeweiligen Ensembles, also durchwegs einem Basso serioso, besetzt wurde. Von kleineren Aufgaben in jungen Jahren abgesehen, die dem Univer-salspektrum jedes jungen Bassisten als
Allessänger zugehören, hat Ernster dramatisches deutsches Serioso-Fach und dazu Partien des internationalen Repertoires gesungen, die einen Sprung auf und unters tiefe ’C im Baßschlüssel erfordern,
prototypisch Sparafucile im Rigoletto mit prachtvollem „Low ’F“ und natürlich Ochs im Rosenkavalier mit sattem „Low ’C“-Finale
2.
Der Basso cantante ist bei etwa gleichem
Stimmumfang wie ein Serioso –
nämlich C - E’/F’ – mit einer um ½ bis 1 Ton höher liegender Tessitura belastet, das entspricht nahezu dem sogenannten Bassbariton oder Heldenbariton, bei Wagner „hoher Bass“ genannt. Die
durchschnittliche Tonhöhe des Serioso bewegt sich in deutlich bequemerem Feld, reicht dafür aber in die extremen Basstiefen. Deren Darbietung hängt nicht vom Erreichen, also der Verfügbarkeit dieser
Lage ab, sondern von der Fähigkeit, sie im großen Bühnenraum über einem Opernorchester mit Schallkraft auszustatten. Das genau macht den Basso serioso aus, und das ist an Dezsö Ernsters Bassgesang
auch exemplarisch zu vernehmen.
Er verfügte jedoch auch über Tugenden eines
Italo-Basso. Das wird vor allem erkennbar 1. an einer durchwegs schlanken, konzentrierten, drahtigen Ton- produktion bei bruchlos-flüssigem Legato über alle Register und 2. an der
metallisch-schimmernden, durchschlagskräftigen, dabei eher aufgehellten Klangschärfe seines Höhenregisters, das sich resonant, schwingend, leuchtend entfalten konnte – gut zu studieren an Ernsters
Hagen im Met-Ring 1951 unter Fritz Stiedry.
Dezsö Ernster war ein reintypischer Basso
profondo serioso vom Schlage der „Körnigen“. Sein Organtimbre war charakteristisch: nicht auf schroffe oder barsche Wirkung angelegt, primär von männlich-kerniger, kraftvoller, doch
edler Ausstrahlung. Er führte seine Stimme stets schlank, ließ sie farbig tönen, setzte mitunter gar lyrische Akzente. Nicht zufällig war er auch ein souveräner Konzertsänger und animierter
Liedinterpret. Seine dämonische Seite blitzte nur in Zwischentönen auf – oder vermittelte sich mit rein sängerischen Mitteln wie einem extraschwarz-schallkräftigen tiefen ’F des Sparafucile. Er
präsentierte eher herrenhaft-elegante Gestalten, kaum je brutal-dräuende Finsterlinge. So wie er selbst nach allen Zeugenberichten selbst ein Herr war, ein Intellektueller, ein wissender
Künstler.
KUS