Centaines de personnalités
Alexis Boyer
Bühnen-Proteus im Age d‘Or

Sängerinnen und Sänger in Aufnahmen ab ca. 1902 ff. waren seit mehr als einem Jahrzehnt - nämlich seit dem Einbruch des stile nuovo (genannt Verismo) in die musikdramatische Werkewelt - vom klassischen Belcantogesang nahezu „entwöhnt“. Auf italienischen Bühnen hatte sich spätestens seit 1890 (der Uraufführung von Mascagnis Cavalleria Rusticana) in universeller Fülle das neue Repertoire durchgesetzt: Exponenten belcantistischen, also artifiziellen = verzierten Singens traten längst in dramatisch aufgeladenen Verismo-Partien auf - europaweit und interkontinental, dominant auch in Ur- und Erstaufführungen.

Dieser fast stürmische Umschwung vollzog sich aber kaum in der französischen Kulturszene. Sie und ihr Zentrum Paris blieben von den stilistischen Wirkungen des neuen Musikdramas weitgehend unberührt. Es gab praktisch keinen französischen Verismo, au contraire: Über Jahrzehnte mit expansiver Tonträgerproduktion liegen uns von den Plätzen der Scène culturelle française weiterhin Beispiele für meisterliches, nach Prinzipien und Regeln der klassischen Gesangskunst zweier Jahrhunderte geschultes und dennoch individuelles Singen in bewertungsfähiger Fülle vor.

Beispielhaft dafür wirken auf den kritisch vergleichenden Hörer vor allem die dokumentierten Männerstimmen, so mit den Tenören Escalais, Clément, Dalmorèz, Franz, Thill, oder den Bassisten Plançon, Belhomme, Payan, Nivette, Journet … In der reinsten Form aber scheint sich die spezifisch französische Kunst der Tonbildung, Artikulation und Phrasierung in den Baritonen erhalten zu haben. Ihre tönenden Zeugnisse reichen von  Jean-Baptiste Faure (1830-1914 - dem Uraufführungssänger von Thomas‘ Hamlet und Meyerbeers Africaine-Nelusco), über Stars der Jahrhundertwende wie Lasalle und Renaud, weiter Fugère, Soulacroix, Melchissédec, Gilibert, Noté, Albers, Dufranne, Gilly, Billot, Cambon, Bernac und Singher bis in die Nachkriegsära mit Jansen, Mollet, Souzay, Massard, Roux, Borthayre, Blanc, Bacquier, Lafont … Ungebrochen durch stilistischen oder rezeptiven Wandel bilden sie beinahe eine eigene Kategorie in ihrer generellen Stimmlage - B-as‘ / A-g‘ / G-fis‘ - ausgewiesen durch spezifische Eigenschaften und Prägungen.

Maîtres de chant

Der typische Baryton Français offeriert nicht vibrante Intensität und üppige Tonentfaltung, nicht den metallischen Höhenstrahl italienischer Baritone und auch nicht die dunklere, oft gaumige, gelegentlich raue Klangpotenz deutscher Fachkollegen. “Charakteristisch für die vokale ars gallica“ - keineswegs nur der Baritone - „sind Eleganz und Leichtigkeit, Klarheit der Artikulation und Eloquenz der Aussprache, Anmut, Intellekt und Noblesse“ (Jürgen Kesting). Das ist auch bedingt durch die sprachlichen Vorgaben des Französischen, das die gesungenen Worte weit vorn platziert bilden, den Ton eng an die Konsonanten gebunden und darum mit konzentrierter Nutzung der vorderen Resonanzräume formen muss. Schallender, gar dröhnender Sound wird so kaum erzeugt. Die französische Männerstimme klingt zwar sonor, aber primär lumineux, résilient, legère, biegsam, plastisch - und häufig mit dezent nasaler Beifärbung. Diese Sänger sind keine Cannoniers, eher vokale Florettfechter.

Der Charakterisierungsversuch bestätigt sich an nahezu allen genannten und noch einer Dutzendschaft weiterer Meistersänger - mögen sie nun dem Typus des sog. Kavalierbaritons (mit der Lyrique-Variante Baryton Martin wie Bernac/Souzay) oder Charakterbaritons (wie Noté/ Massard/ Lafont) angehören. Prinzipiell können sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Zeugen großer klassischer Stilepochen gelten. Es gab wenige Abweichungen, die uns meist von der gewerblichen Tondokumentation vorenthalten wurden. So in einer markanten Ausnahme, die - bezeichnenderweise? - in den großen, wichtigen Enzyklopädien, Musik- & Sängerlexika wie auch neueren Monographien von Steane, Scott, Kesting, Fischer allenfalls am Rande erwähnt ist. Diese Ausnahme war der (wenn man den Begriff einführen darf:) Baryton universel Alexis Boyer - zwar integrativ in die lange Reihe namhafter Fachvertreter eingeordnet, dennoch einer Wiederbelebung seines Rangs und Ruhms bedürftig: als Représentant wie als Phénomène exceptionnell  von gleichem Interesse.

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ALEXIS BOYER Bariton 
* 3. Dezember 1876 Cazouls d’Hérault/Okzitanien - † 1954 Paris

Was charakterisiert diesen selbst unter Sammlern nicht selbstverständlich geläufigen Sänger als Exponenten und zugleich als Sonderfall? Seine zahlreichen Tondokumente - die ersten angeblich schon ab 1897 - lassen einen zwar stilsicheren Vokalisten des Beau Idéal hören, aber auch den Sound einer eher italo-hispanischen „mittleren“ Naturstimme, rund, resonant, cremig, flexibel, frei schwingend, weich im Timbre, doch „mit Kern“ - ideal für Mozart-, Rossini-, Donizetti-Partien. Der Eindruck verstärkt sich anhand der Odeon-Acoustics ab ca. 1906-10 mit dunklerem, fülligerem Klang und nunmehr gedeckter, glockig schwingender Höhenlage, näher bei Verdi, Ponchielli, Boitò. Das belegt eine ganz natürlich sich präsentierende Material-Expansion, die sich in den letzten Aufnahmen bis 1930 zur polychromen Version eines Basse-chantant  ausgewachsen hat. 

Allein diese - in Dutzenden Beispielen hörbare - Entfaltung vokaler Mittel über drei Jahrzehnte räumt dem Sänger Alleinständigkeit in seinem Metier, mehr noch in seinem Kollegen-Umfeld ein und kontrastiert ihn mit der stolzen, auch gesangshistorisch stets vorrangig behandelten Reihe repräsentativer Barytons. Wir haben es also mit einem Maître de chant nicht nur in vokalen und sängerischen Aspekten zu tun, sondern in gleichem Maß mit einem Sängerdarsteller von Graden, der diesen Status im Gegensatz zu Ausdrucks-Gestikulanten des Verismo mit rein vokalen und sängerischen Mitteln aufzeigt.

Présences partout. 

Auch die künstlerische Biographie und Karriere des Sängers stellen ihn außerhalb der Konstanten. Er stammte aus dem äußersten Süden Frankreichs, nahe beim Pyrenäenkleinstaat Andorra, war also auch von katalanischen Kultur-Einflüssen geprägt - dies möglicherweise ein Indiz für die eher mediterrane als frankophone Anmutung seiner Stimmfärbung. Über seinen familiären und gesellschaftlichen Hintergrund, Werdegang und sogar Ausbildungsweg ist kaum mehr zu erfahren als der Nachweis eines Studiums am Conservatoire National de Paris. Sein Bühnendebüt hatte er in der Spielzeit 1900/01 gleich an der Opéra-Comique de Paris - als Barnabé in Le Maître de chapelle von Fernand Paër, einem Prüfstück für Canto fiorito, das er ausweislich seiner Einspielungen von 1908 und 1912 grandios gemeistert haben muss (CD 1 / Tracks 13+14)

Darauf eine krasse Wende: Zwei Spielzeiten blieb Boyer an dem berühmten Pariser Institut, dann gab er das Engagement auf und schlug eine ganz unübliche Laufbahn ein - als freiberuflicher Gastsänger an allen Opernhäusern des französischen Sprachraums, wohl veranlasst durch spektakuläre Starterfolge in Paris mit sich häufenden Gastspiel-Einladungen. 18 Jahre lang gewann er so individuelle Berühmtheit, ständig bereichert durch Auftritte in den Pariser Aufnahmestudios von Pathé, G&T, Odeon, Zonophone, Beka, Eden, Anker, Grammophone. An die 300 Einspielungen inkl. Mehrfach-Tracks entstanden so - eine für die Zeit fast unglaubliche Anzahl, teilweise mit namhaften Partnern wie Marthe Bakkers und Charles Rousselière, auch einem nicht mehr verifizierbaren Mittelklasse-Mezzo namens Mm. Bontoux. 


Der ubiquitäre Sänger war nach zwei Jahrzehnten einer so varianten wie brillanten Praxis eigentlich schon am Höhepunkt seiner Karriere angelangt, da vollzog er noch eine Kehrtwendung: nun zurück in ein festes - allerdings hochberühmtes - Ensemble. 1920 ging er für weitere 25 Jahre, den Rest seiner Künstlerlaufbahn, an das legendäre Théâtre de La Monnaie in Brüssel, eines der großen europäischen Opernhäuser und neben Paris wichtigste Musikbühne der Culture musicale française.  Für ein Vierteljahrhundert unangefochten, gehörte er dauerhaft zu den Stars des Hauses. Während dieser langen Zeit entwickelte sich seine Sängerstatur zur Künstlerschaft ohne Grenzen: Lirico, Drammatico, Basso, Sängerdarsteller für alle Fächer von Drame tragique bis Comédie bouffe. Ein ganzes Genre spätromantischer und Spielopern, im deutschen Kulturraum sträflich gemieden, wurde zu seiner Domäne: Gretry, Adam, Auber, Bazin, Messager, Lecoq, Audran, Maillart, Offenbach … 

Voilá un artiste!

Doch damit nicht genug. In Brüssel wirkte Boyer gleichsam obligatorisch in einer Reihe von Ur- und französischen Erstaufführungen mit: 1924 in Le Prince Igor von Borodin. 1926 als Pong in Puccinis Turandot. 1929 als Alexis in Prokofievs Le Jouer. 1930 als Truffaldin in R.Strauss‘ Ariane sur Naxos. 1932 als Gorgibus in Les précieux ridicules von Lattuada. 1937 als Général Polkan in Rimskij-Korsakovs Le coq d’or. 1938 als Don Ferrante in Zadonais La farse amoureuse und als Cancian in Wolf-Ferraris Les quatre ruffians. Er erschien auch in den Premieren von R.Strauss‘ Cavalier de rose (Faninal), Ravels L’Heure espagnole (Inigo), Massenets Manon (Brétigny), Mussorgskijs Boris Godunov (Warlaam), Johann Strauß‘ Le Baron tzigane (Zsupan). Eine Krönung seiner Buffo-Gestalten war jahrelang der Jupiter in Jacques Offenbachs Orphee aux enfers

1945 nahm der unglaublich vielseitige, vielstimmige, vielgesichtige - und vielgeliebte - Sänger seinen Bühnenabschied als immer noch großstimmig auftrumpfender Warlaam. Er siedelte wieder nach Paris, betätigte sich dort nur fallweise als Sänger-Betreuer, mehr als Bonvivant, Flaneur, Discutant in der Pariser Kulturgesellschaft. Zu seinen wohl bekanntesten Tondokumenten gehört der Mercutio in der noch akustischen, dennoch dauerhaft beliebten Pathé-Gesamtaufnahme von Charles Gounods Roméo et Juliette, 1911 Paris, mit Austarello Affre; Yvonne Gall, Marcel Journet. Seine klingende Hinterlassenschaft, die mit G&B-Cylindern 1897-1901 begann, endete mit achtbar frischtönenden Electrics 1930. 

Welch eine Spanne! Was für eine Persönlichkeit! Welch ein Schatz für Kenner, Sammler, Vokalomanen!  Qu'il soit béni !

                                                                                                   KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel