Baritono in mano ornato
Der exzellente Gesangsstilist Giuseppe Campanari

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war in Europa das Opernrepertoire (neben Wagner und Spätromantikern) bereits vom sogenannten Verismo geprägt. Das trieb den Wandel der Gesangskunst voran zum dramatisch determinierten ‚Ausdruckssingen‘, zu vokalem Exhibitionismus und affektgeladener Rampen-präsenz. Der Beginn dieser Entwicklung, in der viele Kritiker auch einen Verfall erkannten, machte sich schon in den 1880er Jahren kenntlich. Auslöser waren die Vorgaben zur Interpretation von Wagners Musikdramen (vor allem in deren Bayreuther Kodifizierung) einerseits und der Siegeszug der ‚Giovane Scuola Italiana‘ mit ihrer Fülle effektreicher Opern-Novitäten andererseits. Der klassische Belcantogesang mit seinen Prämissen für Stil, Schönheit, Virtuosität, Eleganz ging für Jahrzehnte verloren.

An einigen zentralen Plätzen tradierter Kulturpflege verzögerte sich dieser Trend. So vor allem in Paris: Die französische Tradition eines stilreinen ‚l‘Art du Chant‘ blieb dort bis ins zweite Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts verbindlich. Wir verdanken diesem Umstand wesentliche Anteile an der tönenden Dokumentation klassischen Singens in der akustischen Ära: Die Aufnahmen französischer oder französisch geprägter Vokalisten dominieren ganz eindeutig den verfügbaren Bestand. Während auf den Opernbühnen Italiens das neue Repertoire mit glanzvollen Stimmen expandierte und bald auch den Gesang prägte, blieben die Sängerbesetzungen in den Pariser Häusern wie auch am Covent Garden London noch lange dem klassischen Ideal verpflichtet. Auch das 1883 eröffnete finanzstarke Metropolitan Opera House in New York City stand zu Beginn und später erneut im Bann der Belcanto-Tradition.

Die MET war mit Gounods Faust eröffnet worden. Ihr Spielplan war zunächst ganz auf Vokalglanz ausgerichtet - mit Mozart, Gluck, Rossini, Bellini, Donizetti, Auber, Boieldieu, Thomas, Meyerbeer, Gounod, dazu Verdi. Wagner spielte bald darauf mit den „German Seasons“ (1885-91) eine Hauptrolle. Die Veristen und Puccini erschienen erst ab 1890. Und 1891 begann das, was unter dem Begriff Golden Age die Erinnerung verklärt. Für die ‚Alte Schule‘ des Singen standen glanzvoll die Sängerstars des nunmehr World-famous-institute: Sembrich, Scalchi, Albani, Melba, Eames, Nordica, Blauvelt, de Lussan, Sanderson, Fabbri, Mantelli, Campanini, Capoul, Stagno, Valero, Kaschmann, Maurel, Ancona, Lasalle, Tamagno, Plançon, Journet, Jean & Edouard de Reszke.

In der triumphalen Season 1894/95 stieß zu diesem illustren Kreis ein Sänger, der diese Orientierung typgerecht und stilistisch verkörpern sollte, hingegen kein künstlerisches Vorleben analog den Spitzenstars einbringen konnte, vielmehr ohne Vorlauf und über Umwege auf den Sänger-Parnass der Epoche gelangte, ein Repräsentant der Kategorie Baritono nobile, der dennoch für lange
in diversen Repertoirebereichen des Hauses ein Utilité blieb: GIUSEPPE CAMPANARI, Italiener von Herkunft, doch eher eine Art Ornato mediterrano,
ein vom klassischen, eher französischen Stilbewusstsein geprägter Bewahrer
des Ideals.

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Giuseppe Campanari
  (* 17.11.1855 Venezia –  † 31.5.1927 Milano)

Er studierte Musik und Streicherspiel in Milano, schloss mit Diplom ab, begann eine Laufbahn als Cellist, wurde Mitglied regionaler Orchester. Zugleich absolvierte er eine Stimmbildung am Conservatorio di Milano, kam auch zu einem vorzeitigen Debüt am Milaneser Teatro dal Verme. Nach eher diffusen Quellen erwies er sich aber als noch nicht bühnenreif, erzielte also keine große Resonanz. Er blieb zunächst beim Cellospiel, dies mit Erfolg: Er avancierte zum Orchestermitglied am Teatro alla Scala. 1884, im 30. Lebensjahr, wanderte er nach Nordamerika aus, eine Einladung des Boston Symphony Orchestra, schon damals eines der höchstdotierten Klangkörper der USA, in der Tasche. Er nahm ein dauerhaftes Engagement an, konzertierte mit dem Spitzenorchester in den Musikzentren der USA. Neun Jahre lang lebte er eine künstlerisch und materiell zufriedenstellende Musikerexistenz.

Erst 1893 entschloss er sich – nach offenbar autodidaktischem Training – wieder als Sänger aufzutreten. Er wurde Mitglied einer Opern-Tourneetruppe unter Führung von Gustav Hinrichs, dem späteren Chef der San Francisco Opera, dann in Hollywood erfolgreichen Filmmusiker. Hinrichs leistete in der Neuen Welt Pionierarbeit, hielt das Niveau seines Reise-Ensembles hoch: Mit ihm bestritt er am 15.6.1893 in New York die amerikanische Erstaufführung von Leoncavallos
I Pagliacci, mit Giuseppe Campanari als Tonio, also in einer Partie für dramati- schen Charakterbariton. Dieser Abend und die folgenden Auftritte in New York blieben nicht ohne Resonanz: 1894 wurde Campanari an die gerade zehn Jahre alte Metropolitan Opera Company verpflichtet. Seine Antrittspartie war Conte
di Luna in Verdis Il Trovatore.


Auf hohem Niveau vielverwendbar

16 Spielzeiten lang blieb der spätberufene Sänger zentrales Mitglied des Met- Ensembles. Sein Rollenspektrum war italienisch dominiert, doch von einiger Vielfalt im Fachbereich eines Baritono lirico e spinto mit dramatischen Optionen: Verdis Rigoletto, Luna, Germont, Renato, Amonasro, Ford, weiter Mozarts Figaro und Papageno, Rossinis Figaro, Meyerbeers Nevers und Nelusco, Donizettis Enrico, Wagners Fritz Kothner, Gounods Valentin und Mercutio, Bizets Escamillo, Saint-Saëns‘ Grand-Prêtre, Mascagnis Alfio, Leoncavallos Tonio, Puccinis Marcello, dazu ein paar Comprimarii, schließlich Graf Peter Homonay im Zigeunerbaron.

Campanari absolvierte stolze 498 Aufführungen (239 davon auf Met-Tourneen) in 23 Partien – darunter die US-Premieren von Verdis Falstaff (neben Victor Maurel), Mozarts Zauberflöte (neben E. de Reszke, Gadski, Sembrich, Salinac), Saint-Saëns‘ Samson et Dalila (neben Mantelli und Tamagno) und Puccinis La Bohème (neben Melba, Cremonini, Gilibert, Journet). Mit dem Alfio in Cavalleria Rusticana gab er 1912 seinen letzten Auftritt an der Met. 1898 gastierte er am Royal Opera House London. Sein Auftrittsbuch vermerkt sonst nur Einzelabend-Gastspiele, meist an amerikanischen Bühnen. Eine Weltkarriere im heutigen Sinn war das nicht – und dennoch Position und Leistung, die ihn in die erste Reihe der Baritone seiner Generation stellten, ein Fixpunkt an einem World Center House und, für heutige Rezeption wichtiger: auch nach seinen Tondokumenten in Schulung, Stil und Wirkung ein Sänger des 19. Jahrhunderts.

Campanaris tönende Hinterlassenschaft ist schmal. Die überschaubare Zahl der Zeugnisse aus 1903 bis 1909 wird noch dadurch reduziert, dass ein erheblicher Teil der Nummern in Doubletten vorliegt, nicht in Mehrfach-Tracks, sondern in Neuaufnahmen an verschiedenen Daten. Doch die Aufnahmen zeigen den Bariton in allen Aspekten von gleicher Form und Qualität, stimmlich, sängerisch, stilistisch. Eben dies begründet seine Bedeutung als exemplarischer Vertreter der ‚Alten Schule‘, des am klassischen Belcanto orientierten Phrasierens und Modulierens, ohne demonstrative Anwendung des Canto fiorito (dieser wäre in der Mehrzahl seiner Partien, von Mozart, Rossini, Donizetti abgesehen, gar nicht gefragt gewesen).

Exempla classica einer Epoche

Giuseppe Campanari soll rd. 50 Tonaufnahmen hinterlassen haben. Gut zwei Dutzend davon werden in dieser Edition vorgestellt. Leider fehlt Rigolettos „Pari siamo“. Hingegen liegt eine Reihe von Doubletten vor, die wir zur Bildung einer Gesamtübersicht präsentieren. Auch darum folgt das Tracklisting bewusst den Aufnahmedaten. Es gibt weitere Tondokumente in den Live-Ausschnitten der Colonel Mapleson Cylinders Series aus der Met 1901-1903, u.a. als Valentin, Nelusco, Amonasro. Deren Klang ist so fragmentarisch, dass kein gültiger Höreindruck möglich ist.

Der Sänger lohnt eine Wiederentdeckung – denn seine schmale Hinterlassen-schaft ist auf modernen Medien bisher nur in Teilen, meist in Einzelstücken oder Kleingruppen, zugänglich gewesen. Der Eindruck vom puren Rohstoff Stimme
ist kein suggestiver oder gar überrumpelnder wie bei Ruffo, Magini-Colletti, Amato, Viglione-Borghese. Das Timbre ist nicht sehr eigenprofiliert, es drängt sich auch nicht ausdrücklich für dramatisch-gewichtige Partien wie Amonasro oder Nelusco auf. Wir hören ein typisches Organ der Klasse ‚Kavalierbariton‘, allerdings körperhafter und expansionsfähiger als etwa bei einem französischen ‚Bariton-Martin‘.


„Die Stimme hat klare Grenzen, zumal in Kraft, Attacke und Vollhöhe. Sie klingt oft ein wenig unausgeglichen – aber definitiv schön. Er war sicherlich keiner der ganz großen, künstlerisch individuellen Sänger – doch absolut hörenswert und sängerisch immer wieder ganz erstaunlich gut.“ (Michael Seil). Gerade das macht den Wert dieser Gesangsdokumente und die Berechtigung dieses Sängers für Nachruhm aus. Campanari zählt zu jenen Vokalisten, die mit begrenzten stimmlichen Ressourcen durch technisches Können und künstlerisches Bewusstsein bedeutende Ergebnisse schaffen, gleichsam den ‚Sieg des Geistes über die Materie‘ verkörpern (ähnlich Schipa, Tauber, SchiØtz, Scotti, Bernac, Marcoux). Hat man erst einmal vertieften Hörkontakt zur Persönlichkeit der Stimme aufgenommen, sich auf die Details von Intonation, Klangstrom, Phrasierung, Modulation, vor allem auf die Inflektionen der Wort-Ton-Behandlung konzentriert, vernimmt man exzellente Gesangskunst in stilbewusster, eleganter, zugleich suggestiver Form und Führung, dazu meisterliche Beherrschung von Registerausgleich und Dynamisierung.

Campanaris Bariton verfügt über ein ausgewogenes Klanggepräge mit metallischem Kern. Die eigentlich hellbeige Färbung evoziert kaum Anmutungen an Bösewichter, Finsterlinge, Herrscher, Väter. Wir assoziieren eine maskuline, beinahe athletische Jugendlichkeit. Bei klarer, markanter, doch immer in den Klang integrierter Artikulation weiß der Sänger den weit vorn platzierten Ton blitzschnell mit Klang zu füllen; dadurch gewinnt die prinzipiell lyrische Grundtönung an Substanz und Gewicht. Wie bei vielen Italo-Baritonen (selbst bei Ruffo) verliert die Tonskala in den Tiefenregionen an Körper, Farbe, Resonanz. Doch die schön gedeckte Höhe muss sich nicht spreizen oder mit Drückern verstärken, entfaltet bei immer schlanker Formatierung markante, oft schneidende Wirkung. Der Sänger beherrscht die Grundregeln der sängerischen Grammatik. Selbst bei leichtem Abbau von Stimmgewicht zum Ende seiner Laufbahn rangiert er immer noch immer noch über  späteren berühmten Lyrik-Baritonen wie etwa den deutschen Hammes, Hüsch, Schmitt-Walter.

Entdeckerneugier und Hörvergnügen

In Stil und Manier ist Campanari in Bestform nahe bei dem vielleicht wichtigsten Repräsentanten klassisch geprägten, belcantesken Singens: Mattia Battistini – wenn auch nicht so individualistisch in Spontaneität, Magie und Raffinessen wie dieser, insofern auch ein ‚moderner‘, doch noch deutlicher traditionsbewusster Sänger. Überrascht beobachtet man sich dabei, wie man seine Versionen altbekannter, fast-vernutzter Recitalstücke (noch dazu in Doppel-Einspielungen) mit größerem Hörvergnügen, mitunter stärkerer Beglückung rezipiert als die
von faszinierender timbrierten und ausdrucksgewaltigeren Baritonstars der Gesangshistorie.


Nach seinem Bühnenabgang als 57jähriger Künstler wirkte Campanari in
New York als Gesangslehrer. Mit dem Haus, an dem er seine Erfolge feierte, blieb er gesellschaftlich verbunden. Inzwischen hatte seine Tochter Marina auf italienischen Bühnen eine respektable Kariere als Soprano lirico. Auf ihr Drängen übersiedelte er zurück nach Milano, eröffnete dort ein Gesangsstudio. Er starb 71jährig in der lombardischen Metropole, die ihn als erstrangigen Orchester-musiker, aber nicht als Bühnensänger erlebt hatte.


Giuseppe Campanari gehört, als (Lehr-)Beispiel für die Regelstandards eines auch unter dramatischen Anforderungen klassischen Singens, zur  schmalen Phalanx dokumentierter Zeugen des Golden Age – auch im Vergleich mit Favoriten der heutigen Belcanto-Renaissance ein Maßstab.

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© Klaus Ulrich Spiegel