Primat für Gesangskunst
Der epochale Wagnersänger Anton van Rooy

Wenn man einmal von Kriterien für Gesangskunst wie Legato, Stil, Technik, Virtuosität absieht und sich nur auf die Substanz von Stimmen konzentriert, kann man trotz „Bell-Canto“ und „Bayreuth-Bark“ feststellen: Im Fach des „Hohen Basses“, also Basso cantante, Bassbariton oder Heldenbariton, haben die frühen Bayreuther Festspiele unter dem Diktat von Cosima Wagner und Julius Kniese, ca. 1889–1914,  eine beachtliche Phalanx beeindruckend großer,
ja gewaltiger Stimmen präsentiert – von nicht tondokumentierten Legenden
wie Betz und Perron über Scheidemantel, Bachmann, Bertram, Demuth, Soomer zu Braun und Bohnen. Ein jeder gebot über Materialfülle, Stamina, Schallkraft und ein Expansionsspektrum vom tiefen C/D’ des Basso bis zum hohen Fis/G’’ des Kavalier- oder Charakterbaritons. Das lässt sich an zahlreichen technisch ordentlichen Tondokumenten nachweisen – und macht im Vergleich deprimie-rend klar, dass es an der Wende zum 20. Jahrhundert einen Stimmtypus reichlich gab, der heute ausgestorben scheint. Der Eindruck steigert sich, wenn man zu den „Bayreuthern“ noch international gefeierte Fachkollegen vom Format David Bisphams oder Clarence Whitehills anhört. Einen historischen Spitzenplatz in dieser Reihe nimmt der nicht nur stimmlich, sondern auch sängerisch faszinierende Meistersinger ein, dem diese CD gewidmet ist: Anton van Rooy.


                                                           „Die Meisterregeln lernt beizeiten ...“

ANTON (Antonius Maria Josephus) VAN ROOY

     * 1. Januar 1870 Rotterdam. † 28. November 1932 München

Der niederländische Bürgersohn war in vieler Hinsicht ein “outstanding artist” seiner Epoche. Das beginnt schon mit seiner Ausbildung: Er studierte in Frank-furt/M. bei dem wohl berühmtesten Gesangspädagogen nördlich der Alpen, dem legendären Konzert- und Liedsänger Julius Stockhausen. Dieser, als Autor gültiger Fachbücher über Gesangskunst hoch respektiert, war als Lehrer so namhaft wie als Sänger. Zu seinen Schülern gehörten Johan Messchaert, Karl Scheidemantel, Therese Behr, Jenny Hahn, Hermine Spieß, Max Friedländer ...

So exzeptionell wie dieser Einstieg war auch van Rooys Erscheinen auf der Musikszene. Nach dem Vorbild des Lehrers hatte er 1894 im Konzertsaal debü-tiert und dann in ganz Europa als Solist auf den Podien Erfolge gesammelt. Sein Ruf als eminente Musikerpersönlichkeit verbreitete sich schnell. Der weltbe-kannte Dirigent und Komponist Felix von Weingartner drängte den jungen Sänger zu einer Opernkarriere, veranlasste ein Vorsingen in Bayreuth. Cosima Wagner war enthusiasmiert: „Das hätte der Meister hören müssen!“.

So machte der erst 27jährige Anton van Rooy sein Bühnendebüt im Sommer
1897 als Wotan bei den Bayreuther Festspielen – ein Ereignis, das wohl nur in dem Erstauftritt der Astrid Varnay 1941 an der Met in New York eine Parallele hat. Der Erfolg wurde als „überwältigend“ notiert: „Mit einem Schlag galt er als bedeutendster Wagner-Sänger seines Stimmfachs“. Bayreuth war sein Reich. 1899, 1901, 1902 wiederholte er die Wotan-Partien, 1899 gab er den Hans Sachs. Und 1901 war er der erste Titelrollenträger in der ersten Bayreuth-Produktion des Fliegenden Holländer, unter Felix Mottl, alternierend mit Theodor Bertram, neben Destinn, Burgstaller/Kraus, Heidkamp, Schumann-Heink.


Des Sängers Ruhm breitete sich weltweit aus. Das Jahr 1898 markiert die Grundlagen dafür: Erstmals trat van Rooy an der Königlichen Hofoper Berlin auf, gastierte dann als Konzert- und Opernstar in europäischen Musikzentren. 1898-1913 war er alljährlich am Royal Opera House Covent Garden in London zu Gast. Und am 28.12.1898 eröffnete er als Wotan in der Walküre eine zehnjährige Zugehörigkeit zum Weltrang-Roster der Metropolitan Opera New York. Dort nahm er 1903 als Amfortas neben Milka Ternina, Alois Burgstaller, Robert Blass und Otto Goritz auch an der von Cosima verbotenen und mit Bannfluch belegten ersten Aufführung des Parsifal außerhalb des Festspielhügels teil – und war hinfort wie alle Mitwirkenden für Bayreuth zur Feindperson, für die Musikwelt aber nun noch berühmter geworden.

An der Met sang er 1907 in der umgehend wieder abgesetzten ersten übersee-ischen Produktion von Richard Strauss’ Salome neben Olive Fremstad, Karel Burrian, Andreas Dippel und Marcel Journet den Joachanaan. Zu seinen Wagner-Partien Holländer, Wolfram, Telramund, Kurwenal, Sachs, Wotan/Wanderer, Amfortas gab er dort auch Don Fernando im Fidelio, Valentin im Faust, Escamillo in Carmen,  Salomon in der Königin von Saba – insgesamt 306 Auftritte in 15 Werken während neun Spielzeiten. Zwischen den NYC-Seasons gastierte er seit 1899, zumeist in Wagner-Werken, weiter in Europa, so in Amsterdam, Brüssel, Paris, Wien, Prag, München, Leipzig, Frankfurt/M., Köln, Zürich, Mannheim, dann wieder in US-Städten. Nach wie vor war er als Gaststar in Konzerten vielgefeiert, mit Liedzyklen und in Oratorien, vor allem mit der Titelpartie in Mendelssohns Elias.  Um 1910 zog er sich schrittweise aus dem Opernleben zurück, siedelte und verbrachte seinen (zu kurzen) Lebensabend in München. Sein Ansehen währt bis in unsere Tage.

______________________________________________________________________

Wie die meisten Sängergrößen aus dem deutschen Kultur- und Sprachraum in der Frühphase der Tonaufzeichnung (außer einer Handvoll Tenöre) war auch der Holländer Anton van Rooy, ungeachtet seiner Weltstar-Prominenz von den Tonträgerproduzenten ganz unzureichend berücksichtigt. Wir haben kaum mehr als die Füllmenge einer CD an Tondokumenten zur Verfügung. Doch sie reichen aus, um zumindest den Charakter von Stimme und Künstlerschaft des Sängers zu bestimmen und zugleich Abgrenzungen vorzunehmen.

Nach den gleichbleibenden Hinweisen in Lexika und Zeitberichten erwartet
man ein großes Heroenorgan mit Klanggewalt und hochdramatischem Gepräge, nach Art der noch in Trichteraufnahmen stimmgewaltig anmutenden Zeitge-
nossen wie etwa Bachmann und Bertram. Doch man vernimmt eine herbdunkel timbrierte Baritonstimme von Dichte und Festigkeit, hingegen nicht körniger oder gar rauer Tonstruktur, sondern warmen, runden, mit vorbildlichem Legato nahezu lyrisch-flexiblen Klanges. Gar nicht „von deutscher Art“ ist auch deren mokka-marone Färbung. Wir hören nicht den dramatischen Applomb der vom Basso herkommenden, mit breitem Vibrato eingesetzten Kammersängerstimmen vom Typus „hoher Bass“ (wie Wagner das nannte). Vielmehr ist van Rooys Organ klar ein – besonders groß dimensionierter, überdies zur Dynamisierung und Nuancierung gebildeter – Baritono, freilich vom Typus Eroico. Und der ist durch eigenständige, valeurreiche Tönung profiliert – dazu von meisterlicher Resonanzbildung erfüllt.


Anders gesagt: Nach seinen Tondokumenten, war Anton van Rooy in Stimm-charakter und Gesangsweise (zum Beispiel:) näher bei Schlusnus, Reinmar, Janssen als bei Schorr, Nissen, Prohaska angesiedelt. Sein dunkel-oliv schimmerndes, zwar basso-nahes, doch zu Aufhellung und lyrischer Phrasierung fähiges Organ positioniert ihn in schon klanglich in einer Alleinstellung. Der Ton ruht unver-spannt auf leicht fließendem, doch konsistentem Atem; er wird von ausdrucks-vollem Vibrato belebt.  Die Intonation ist präzise und nie von außermusikali-schem Mitteleinsatz verbildet. Exaltationen gibt es kaum, Registerbrüche und Konsonantenspuckerei gar nicht. Nur die Höhen sind nach deutscher Schule auch bei ihm gedeckt, was einen geschlossenen, mitunter „gefesselten“  Ton erzeugt. Dieser wird aber konzentriert gebildet, klingt darum nicht gaumig oder nölig. Emphatische oder elegische Ausdrucksverstärkungen sind natürlich vorhanden, sie entsprachen dem rhapsodischen bis martialischen Drama-Stil der Zeit. Hingegen gibt es wahre kleine Trouvaillen, so die Interpretation von Faurés Chanson Les Rameaux, nahe beim Können und Stil des „grand maître de legato“ Pol Plançon.

Man darf unterstellen, dass hier die Schulung durch einen Meister des Konzert- und Liedgesangs ihre Wirkungen zeigt. Eine bei anderen Heldenbassbaritonen seiner Zeit oft kernig-dräuende rezitatorische Expressivität wird von van Rooy nicht angestrebt. Stattdessen scheint er ein früher Vertreter bewusst gesanglicher Wagner-Interpretation gewesen zu sein – die klangreduzierende Wiedergabe der Trichteraufnahmen mag dies in Richtung Kammerton intensiviert oder gestützt haben. 

Trotz tontechnischen Einschränkungen gegenüber van Rooys historischer Origi-nalstimme, die live im Bühnenraum überdimensional schallkräftig  geklungen haben soll: Dieser Sänger war ein Zeuge klassischer Gesangkunst und also auch sinnstiftender Wagnerinterpretation. Es lohnt, seine Aufnahmen wieder und wieder anzuhören. Wenn man den sängerischen Details Beachtung schenkt,
kann er heute noch Maßstäbe liefern.


                                                                                                          KUS

Druckversion | Sitemap

© Klaus Ulrich Spiegel