Hans Pfitzner (1869 – 1968)

Palestrina

(1. & 3. Aufzug)

 

Musikalische Legende in drei Aufzügen
Libretto vom Komponisten
Uraufführung: 12. Juni 1917, München, Prinzregententheater

Konzertante Aufführung der Württembergischen Staatsoper
r. live 7. Mai 1947, Stuttgart, Großes Haus der Staatstheater

Leitung: Bertil Wetzelsberger

 

Papst Pius IV Otto von Rohr
Giovanni Pierluigi Palestrina Anton John
Ighino, sein Sohn Lore Wissmann
Silla, sein Schüler Hetty Plümacher
Carlo Borromeo, Kurienkardinal Max Roth
Die Erscheinung der Lukrezia Res Fischer
1. Meister Hans Blessin
2. Meister Fritz Barth
3. Meister Wolfgang Windgassen
4. Meister Gustav Grefe
5. Meister Marc Nohé
6. Meister Alexander Welitsch
7. Meister Kurt Berger
8. Meister Otto von Rohr
9. Meister Walter Hagner
1. Engel Lore Wissmann
2. Engel Luise Roehm
3. Engel Hetty Plümacher
1. Kapellsänger Gustav Grefe
2. Kapellsänger Marc Nohé
3. Kapellsänger Fritz Barth
4. Kapellsänger Hans Blessin
5. Kapellsänger Kurt Berger

 

Württembergisches Staatsorchester

 


 

Die Handlung

Ort und Zeit: Rom 1563, kurz vor Abschluss des Konzils von Trient

 

Erster Aufzug
Im Haus des Tonmeisters Giovanni Pierluigi Palestrina

 

Palestrinas Meisterschüler Silla spielt und singt ein eigenes Stück. Entflammt versucht er Ighino, Palestrinas halbwüchsigen Sohn, für einen in Florenz entstandenen neuen, weltzugewandten Musikstil zu begeistern. Da tritt der alte Meister zusammen mit dem Kardinal Carlo Borromeo ein. Dieser ist vom Trientiner Konzil angereist, um Palestrina einen Kompositionsauftrag zu überbringen. Er zeigt sich erbost über die ihm fremden, neuartigen Töne im Hause des klassischen Kirchenkomponisten. Kopfschüttelnd vernimmt er, dass Palestrina der jungen Generation ihre Freiheit lässt und seinem Schüler kein doktrinäres Regelwerk aufnötigen will: Das ist die neue Zeit, die in ihm gärt … Ob jetzt die Welt nicht ungeahnte Wege geht / und, was uns ewig schien, / nicht wie im Wind verweht?

 

Borromeo hält weltnahe Inhalte und deren Umsetzung in sinnliche Klänge für Irrungen. Er möchte die hergebrachte Polyphonik wiederbelebt sehen; das ist das Motiv, das ihn nach Rom zu Palestrina geführt hat. Er erteilt dem Meister im Namen von Kurie und Konzil den Auftrag, bei der Erreichung des großen Ziels — nicht weniger als die Rettung der Kirchenmusik — mitzuwirken und dazu eine neue Messe zu schreiben: Wenn denn ein solches Werk gelänge,/ dies hat der Papst mir zuerkannt,/ so sei gelöst des Fluches Strenge,/ die die gesamte Kunst noch bannt;/ der neuen Messe Stil und Haltung,/ sie sei fortan die feste Norm./ So brächte dieses Werks Gestaltung/ der Tonkunst Richtung und Reform. Zum ungläubigen Erstaunen, sodann empörten Zorn des Kardinals ersucht Palestrina um Entbindung von diesem ehrenvollen Auftrag. Seit dem Tod seiner Gattin Lukrezia sei er geistig und seelisch ermattet, am Ende seiner Schaffenskräfte. Er verweigert sich dem Begehren der Kirche. Kein Ruhm lockt ihn mehr. Keine Ermutigung, keine Drohung Borromeos kann ihn umstimmen. In höchster Erregung und mit den Worten Nach Schwefel riecht’s in Eurer Näh! verlässt der Kardinal das Haus.

 

Tieftraurig bleibt Palestrina zurück. Er fällt in schmerzvolle Erinnerungen an die geliebte Frau, die allzu früh von ihm ging, beklagt seine mentale Einsamkeit. Da hat er eine Vision: Die großen Tonmeister der Musikgeschichte erscheinen, ermutigen ihn zu neuem Schaffen, fordern ihn auf, sein Lebenswerk mit der Schöpfung einer großen neuen Messe zu krönen. In einer Apotheose erscheint Lukrezia mit einem Chor von Engeln. Diese diktieren dem Meister ein neues Werk gleichsam in die Feder. Palestrina arbeitet wie im Rausch, bricht dann erschöpft zusammen. Am Morgen entdecken Silla und Ighino die über Tisch und Boden verstreuten Notenblätter des neuen Werks, das in einer einzigen Nacht erschaffen wurde.

 

Der zweite Akt, der in unserer Aufführung nicht geboten wurde, spielt in Trient, der Stadt des Konzils, in einer Halle im Palast des Fürstbischofs Madruscht, dann im Plenum des Konzils. Als Protagonisten treten die Kurienkardinäle Giovanni Morone, des Papstes erster Legat, Bernardo Novagerio, ein zynischer Kirchenpolitiker, der unwirsche Fürstbischof und eine Reihe repräsentativer Kardinäle (so aus Lothringen und Prag) auf, dazu der Patriarch von Ägypten, der Orator des Königs von Spanien, diverse Bischöfe, Äbte, Ordensgenerale, Gesandte, Prokuratoren, Theologen, Doktoren, Gardisten, Stadtwachen. Im ersten Teil wird der Konflikt um die Zukunft der Kirchenmusik diskutiert, im zweiten gelangt dieser vor die Konzilsversammlung. Morone hat die Zustimmung des Kaisers zu der angestrebten Kompromisslösung erreicht. Borromeo hingegen muss schamvoll von der Weigerung Palestrinas berichten, den ihm übertragenen Kompositionsauftrag auszuführen. Wegen dieser Widersetzlichkeit ist er eingekerkert worden. Die Kardinäle suchen das heikle Problem mit Verfahrensabkürzungen zu umgehen. Daraus entstehen Fraktionskämpfe mit großenteils ganz anderen Hintergründen und Motiven. Die Versammlung steuert auf einen Eklat zu. Morone bricht sie ab und vertagt sie. Verzweiflung und Wut bemächtigen sich der Konzilsleiter.
 

Dieser zweite Akt bildet strukturell ein Zentrum der Oper, doch seine Handlung hat nur periphere Bedeutung für die Entwicklung und Zielführung des Dramas. Er ist in Dichtung und Komposition ein Meisterstück großer temperament- und spannungsvoller Bühnendramatik, angereichert mit burlesken Szenen, markanten Charakterzeichnungen, plastischen Motivations- und Konflikt-Darstellungen. Das Libretto ist durchtränkt mit demaskierender Ironie, in scharfem Gegensatz zu den bewegenden Schilderungen der Rolle des vereinsamenden Künstlers, seiner Seelenlage und seiner Schaffensbedingungen in den Aufzügen 1 und 3.

 

 

Dritter Aufzug
Rom, wieder in Palestrinas Haus

 

Im Schein der Abendsonne sitzt Palestrina in seinem Lehnstuhl. Er ist von den Qualen des Kerkeraufenthalts gezeichnet. Erst sein Sohn Ighino hatte den Schergen der Kurie die Partiturnoten zur neuen Messe überbracht und den Vater damit aus der Haft befreien können. Nun warten Palestrina und Ighino gemeinsam mit Chorsängern auf die Resonanz des soeben vor Papst und Kardinälen aufgeführten Chorwerks. Im Gegensatz zu den hochgespannt wartenden Vertrauten scheint der Meister in sich versunken und des Anlasses kaum bewusst.

 

Da erschallen auf der Straße Jubel und näher kommende Hochrufe: Evviva Palestrina! Dem Retter der Musik! Mitglieder der päpstlichen Kapelle drängen ins Haus. Sie verkünden den großen Erfolg des neuen Musikwerks. Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Begeisterung erscheint Papst Pius IV höchstselbst. Er gratuliert dem Künstler, rühmt ihn als Fürst der Musik und ernennt ihn auf Lebenszeit zum Leiter der Kirchenmusik in der Sixtina. Pius entfernt sich mit der jubelnden Menge, als Kardinal Borromeo eintritt. Er fällt dem Musiker zu Füßen, bittet ihn um Verzeihung, preist ihn als Gefäß der Gnade. Mit von Tränen benetztem Antlitz reißt er sich schließlich aus Palestrinas Armen.

 

Silla, der sich neuen Musiktendenzen widmen will, ist nach Florenz abgereist. Ighino bleibt mit dem nun hochberühmten Meister allein zurück. Von Freude überwältigt, wundert er sich, dass vom Vater so wenig Euphorie ausgeht. In jugendlicher Begeisterung läuft er auf die Straße, um sich dem Jubel hinzugeben. Palestrina vertieft sich gedankenverloren in das Bild seiner Lukrezia. Dann setzt er sich an die Hausorgel und improvisiert ein paar musikalische Phrasen. Sein Resümee fasst er in die Worte: Nun schmiede mich, den letzten Stein / an einem deiner tausend Ringe, / du Gott. Und ich will guter Dinge und friedvoll sein. Mit einem Orgelpianissimo klingt Pfitzners Werk aus.

 



Der Meister-Misanthrop

und sein Gesamtkunstwerk

 

Hans Pfitzners Musikalische Legende Palestrina wird zu den großen musiktheatralischen Hervorbringungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezählt. Stilistisch ist es stark von den nachwagnerischen Tendenzen, namentlich der Spätromantik, geprägt und ist insoweit auch ein großes Beispiel für die Einbettung der Musik des Jahrhundertwechsels in einen Vorhall der Moderne. Pfitzner hat den Palestrina aus guten Gründen als sein Lebenswerk bezeichnet: Es ist sein umfangreichstes, einheitlichstes, in vielem anspruchsvollstes Opus, entstanden in langer Reifungszeit. Und es kann als eine Art Selbstportrait des Dichterkomponisten als Kunstschöpfer gesehen werden, als Abbildung der Identität des kreativ Schaffenden im Kontrast zum interessengeleiteten, politischen, institutionell hierarchisierten Weltenwalten. Eine ausdrückliche Nähe, wenn nicht Adaptionsabsicht zu Richard Wagners Modell des Gesamtkunstwerks ist unübersehbar. Dichtung und Musik bedingen einander, erlangen gleichrangige Wertigkeit von Ideengehalt, Dramaturgie und musikalischer Komposition.

 

 

Idee und Umsetzung in Meisterform

Der meisterlich begabte (wenngleich unzeitgemäße, misanthropische, mitunter querköpfig und reaktionär agierende) Komponist erreicht mit diesem musiktheatralischen Hauptwerk außergewöhnliche Höhen der Einheit von Text und Musik, deren beider autonomer Schöpfer er ist. Es gelingt ihm, den ideellen, nahezu philosophischen Gehalt mit überzeugender Bühnenwirksamkeit umzusetzen. Die Handlung kommt ohne erotische Beigaben und Effekte aus. Mit Ausnahme des Kurzauftritts der Lukrezia sind die handelnden Personen ausschließlich männlich — durch die Präsentation der beiden jugendlichen Schüler in Hosenrollen für Sopran und Mezzo dennoch um belebende Farbsetzungen bereichert.

 

Die Dichtung ist weitgehend frei von opernhaften Plattheiten und Schwülstigkeiten, vielmehr im Kontrast zu ihren tragisch-pathetischen Anteilen mit einer Fülle von Zwischentönen und scharfen Profilzeichnungen zwischen Ironie und Burleske ausgewogen und meisterhaft verwoben. Obwohl die Aufführung nur des ersten und dritten Aufzugs, die unserem Tondokument zugrunde liegt, vor allem den gefühls- und gedankenschweren, weithin elegischen Teil von Drama und Vertonung vorführt, klingen die komödiantischen, parodistischen Elemente, die dann im zweiten Aufzug zu voller Entfaltung kommen, in Untertönen und Szenendetails an — so beim großen Auftritt des Borromeo oder in den Dialogen der Schüler.

 

Pfitzners Musiksprache ist deutlich von Richard Wagner beeinflusst. Sie wendet eine durchgängige, kunstvolle, an vielen Stellen kraftvoll-prägnante Leitmotivik an. Zwei dieser Motive sind der Missa Papae Marcelli entnommen, mit der nach der Legende der originale Giovanni Pietro da Palestrina (1515 – 1594) die Rettung der Kirchenmusik bewirkte. Die durchwegs diatonische, also den klassischen Sieben-Ton-Rahmen verwendende Harmonik greift bewusst die Kirchentonarten auf und setzt sie in vielfältigen Quart- und Querverbindungen ein, orientiert sich also nicht an der seit Wagners Tristan und Isolde attraktiven Chromatik. Dadurch wird ein zwischen Klassik und Romantik verortetes Klangbild mit nahezu archa-isierenden Effekten erzeugt. Der Hörer kann bei luzidem, spannungsvollem Dirigat schon von den breit angelegten Orchester-Einleitungen ähnlich gefesselt sein wie bei denen in Lohengrin und Tristan. Der große Vortrag des Borromeo im ersten Aufzug erinnert an Wotans Erzählung in der Walküre, die Einleitung zum kurzen dritten Aufzug strukturell und stimmungsmäßig an die Introduktion des dritten Tristan-Aktes, der Engelchor im Finale des ersten Aufzugs an Klangstellen von Tannhäuser und Lohengrin, das große Konzils-Tableau im zweiten Aufzug dramaturgisch an Passagen in Akt 1 und 2 der Meistersinger.

 

Ereignishafte Interpretationen

Die denkwürdige Uraufführung des Palestrina am fand am 12. Juni 1917, also unter den Bedingungen der Hochphase des Weltkriegs, im Münchner Prinz-regententheater unter der Leitung des Jahrhundertdirigenten Bruno Walter statt. Auch das Premierenensemble hatte Spitzenrang, der Bedeutung des Ereignisses angemessen. Der legendären Karl Erb (Titelpartie), Fritz Feinhals (Borromeo), Friedrich Brodersen (Morone), Paul Kuhn (Novagerio), Maria Ivogün (Ighino), Emmy Krüger (Silla), Gustav Schützendorf (Luna) und Paul Bender (Papst Pius) — eine glanzvollere Besetzung wäre schon damals an keiner Weltbühne verfügbar gewesen.

 

Das Werk ist ein Reservat großer Weltbühnen geblieben. Seinem Eingang ins ständige Repertoire auch kleinerer Opernhäuser stehen die enormen Ansprüche an die Sängerbesetzung entgegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der politisch deutschnational und kulturhistorisch bissig-feindselig konservativ eingestellte Pfitzner, der (ähnlich wie der Dichter Benn) zunächst vom NS-Regime geblendet war, überdies als problematische Erscheinung.

 

Erst seit den 1950er Jahren, als sich führende Dirigenten seiner Orchesterkom-positionen annahmen und immer wieder auch musikdramatische Werke erneut zur Aufführung brachten (Der arme Heinrich, Die Rose vom Liebesgarten, Christ-elflein, Das Herz — alle liegen inzwischen auch in Einspielungen vor), gewann der Palestrina seine Sonderstellung als eine Art Festtagsoper und im Festspiel-repertoire zurück. Doch erst 1972 kam es endlich zu einer hochbesetzten Studio-Koproduktion von DG und BR unter Rafael Kubelik mit Gedda, Fischer-Dieskau, Weikl, Ridderbusch, Donath, Faßbaender, Kesteren, Prey. Alle weiteren greifba-ren Einspielungen sind Mitschnitte, jeweils unter bedeutenden Dirigenten wie Heger, Kraus, Kempe, Sawallisch, Suitner.
 

In der von Karl Erb wohl für immer Maßstab setzend interpretierten Titelrolle gewannen wenige Sänger Berühmtheit oder boten bleibende Individual-Eindrücke: Julius Patzak, Max Lorenz, Lorenz Fehenberger, Richard Holm,
Ernst Haefliger, Anton Dermota, Fritz Wunderlich, in neuerer Zeit Peter Schreier. Der berühmteste Borromeo des Jahrhunderts war zweifellos Hans Hotter.

Direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Aufführung des zentralen Pfitzner-Werks in Betracht zu ziehen, glich einem Wagnis. Dass es — wenn auch nur konzertant und in wichtigen Teilen — schon 1947 an einer großen Staats-Musikbühne möglich wurde, ist (nach der grandiosen Tat der deutschen Uraufführung von Hindemiths Mathis der Maler, szenisch und komplett, am selben Ort schon 1946) dem damals in Stuttgart als Chef des gerade wieder erstehenden Staatsorchesters wirkenden Bertil Wetzelsberger zu danken, mit einem maßstäblichen Musikereignis in ganz kunstferner Zeitphase, unter Trümmern, Elend, Hunger und lauter Provisorien.

 

Vorklänge einer großen Opern-Ära

Eindrucksvoll ist der Mitschnitt auch als Informationsdokument zum wieder entstehenden Stuttgarter Musikbetrieb, dem wenige Jahre darauf der Beginn einer legendären Opern-Ära folgen sollte. Die Stuttgarter Oper hatte in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende gerade keine Erstfachtenöre, wie sie später in Windgassen und Traxel für die Palestrina-Partie ideal gewesen wären. Sie setze den scharf profilierten, vielseitigen Anton John ein, der eigentlich ein dramati-scher Charaktertenor war (und als solcher viel stärker in Erinnerung bleiben sollte), aber kaum mit Tonaufnahmen dokumentiert ist. Er liefert ein markant-interessantes, weniger elegisch-leidend als denkend-wägend angelegtes Portrait, stimmlich von eigener Faszination.

 

Dem Titelträger gegenüber Stuttgarts denkwürdiger Heldenbariton Max Roth, ein Sachs und Wotan der ersten Reihe, persönlichkeits- und stimmstark, zu der kernig-körnigen Timbrekategorie gehörig, auch er in tönenden Spuren allzu rar. Großartig sonor und gewichtig die Basslegende Otto von Rohr mit dem Auftritt des Papstes. Attraktiv und informativ die frühen Tonzeugnisse der beiden späteren Stuttgarter Spitzensängerinnen Wissmann und Plümacher in den Hosenrollen, wunderbar lyrisch und prägnant zugleich. Unter den Comprimarii bedeutende Namen, die in den 1950ern als Erstfachsänger Ansehen, zum Teil internationale Berühmtheit gewinnen sollten: Res Fischer, Windgassen, Welitsch, Grefe, dazu Ensemblestützen, wie man sie heute kaum mehr kennt: Blessin, Hagner, Barth, Nohé. Ein großer Abend — als Tondokument eine Trouvaille, mehr noch: ein Zeugnis unwiederbringlich scheinender großer Opernkultur.

 



Großes Opernschaffen
im Nachkriegs-Stuttgart

 

Protagonisten von Rang und Ruhm und eine Nebendarsteller-Schar aus lauter Erstfachsolisten — welch ein Sieg kompetenten Künstlertums über eine extrem destruktive Materie im zerstörten Deutschland! Selbst international als führend geltende Opernhäuser von heute bringen keine so einheitliche Spitzenbesetzung für ein anspruchsvolles Bühnenwerk mehr zusammen wie die Stuttgarter Oper unter ihrem Interims-Chef Wetzelsberger im Jahre 1947 — schon gar nicht aus einem festen Stamm-Ensemble.

 

Bertil Wetzelsberger (∗ 1888 ‑ † 1962) war ursprünglich Kunstwissenschaftler mit Staatsexamen und Promotion, dann Kompositions- und Dirigierschüler bei Franz Schalk und Arnold Schönberg. Stark beeinflusst war er durch Begegnungen mit Karl Kraus, Adolf Loos, Oskar Kokoschka. Nach ersten Gelegenheits-Dirigaten (als Engelbert W.) gelangte der Anfänger durch einen Ruf Bruno Walters an die Münchner Oper. Ab 1921 arbeitete er als Solokorrepetitor und Assistent von Richard Strauss an der Wiener Staatsoper. Der junge Dirigent setzte sich engagiert für die Musik von Pfitzner, Strauss, Strawinsky, Bartók, Hindemith, Weil und Krenek ein. 1921 wird er als Bart W. Kapellmeister am Landestheater Salzburg. 1923 geht er ans Opernhaus Düsseldorf, 1926 ans Stadttheater Nürn-berg. 1933 avanciert er zum Opernchef und Leiter der Museumskonzerte in Frankfurt/M., wenig später auch zum Leiter des dortigen Hoch’schen Konser-vatoriums. 1937 leitet er in Frankfurt die Uraufführung von Carl Orffs Jahr-hundertwerk Carmina Burana, 1940 in München die Uraufführung von Werner Egks Ballett Joan von Zarissa. Zugleich übernimmt er neben Clemens Krauss eine Kapellmeisterstelle in München, geht 1939 ganz an die Bayerische Staatsoper, wirkt nach Kriegsende maßgeblich bei der Wiederaufnahme des Opernbetriebs im Prinzregententheater mit. Zur Spielzeit 1946/47 wird er als Musikdirektor und Intendant an die Württembergische Staatsoper berufen. Dort bringt er in deutschen Erstaufführungen Strawinskys Geschichte vom Soldaten, Orffs Agnes Bernauer und Hindemiths Mathis der Maler heraus. Er leitet den Aufbau des Spielplans mit einem Ensemble aus alten und neuen Kräften, dirigiert vielfältiges Repertoire von Entführung über Rigoletto bis Verkaufte Braut. Er hat diese Position bis 1949/50 inne. Danach arbeitet er nur noch als Gastdirigent, vor allem bei europäischen Klangkörpern, mit denen auch Tonaufnahmen entstehen, bei Rundfunkorchestern, schließlich auch als TV-Moderator. Sein lebenslanger Einsatz für die Werke der Spätromantik und der Moderne setzte Marksteine der neueren Musikgeschichte. Das Grab des bedeutenden Musikers liegt auf dem Stuttgarter Pragfriedhof. Es ist kaum glaublich, dass sich Wetzelsbergers Spur in der heutigen Fachpublizistik und in Tonträgerverzeichnissen kaum mehr findet. Umso wichtiger das vorliegende Tondokument.

 

Anton John (∗ 1910 ‑ † 1967) war einer der interessantesten Tenöre der 1940-60er Jahre — kaum medial vermittelt, doch von spezifischem Profil und oft faszinie-render Wirkung. In Stuttgart war er der Vertreter eines Fachspektrums, in das sich später drei Erstrang-Tenöre — Windgassen, Traxel, Tobin — teilten, als eine Art jugendlich-dramatischer Charakter- und Alles-Sänger. Sein Aufstieg vollzog sich zögerlich. Nach ganz kurzer Ausbildung begann er 1933 als Chorist am Pfalztheater Kaiserslautern, war dann Mitglied der Opernchöre in Augsburg und Kassel. Nach weiterer Ausbildung wurde er dort 1939/40 als Solist engagiert. 1940 bis 1942 war er als lyrischer Tenor am damaligen Stadttheater Hanau, danach am Nationaltheater Mannheim. 1943 gelang ihm der Sprung als Erstfach-Tenor mit universellen Aufgaben an die Württembergische Staatsoper, wo er bis 1950 unter Vertrag blieb. Danach war er Ensemblemitglied an den Opernhäusern von Gelsenkirchen und Augsburg, hatte dazu einen Gastvertrag mit dem Opern-haus Bern, gastierte an zahlreichen deutschen Opernbühnen. 1963 beendete er seine Laufbahn in Augsburg als Erik im Fliegenden Holländer, immer noch frisch und kraftvoll bei Stimme und universell einsetzbar in lyrischen, jugendlichen, Spinto- und Charakterpartien: Tamino, Florestan, Max, Siegmund, Parsifal, Radames, Canio, Hermann, Bachus, Pedro, Brandenburg, sogar Othello. Seine tönende Hinterlassenschaft ist äußerst schmal, sein Palestrina somit eine veritable Fundsache.

 

Max Roth (∗ 1886 ‑ † 1961) war die zentrale Besetzung der Württembergischen Staatsoper für große Partien zwischen Heldenbariton und Charakterbass. Er gehörte dem Stuttgarter Haus als Ensemblemitglied, später als Stargast, 27 Jahre lang an und war einer angesehensten Sänger der Vor- und Nachkriegsära. Seine Ausbildung erfuhr er an der Musikhochschule Köln, debütierte 1915 in Koblenz, ging 1919 ans Opernhaus Breslau, war dann bis 1924 am Staatstheater Wiesbaden engagiert. Seit 1924/25 wirkte er an der Staatsoper Berlin, ab 1929 zugleich am Deutschen Opernhaus Berlin und als Gast an Otto Klemperers Kroll-Oper. Dort war er 1930 Titelheld in Ernst Kreneks Das Leben des Orest. 1930 sang er an der Staatsoper in der Uraufführung von Milhauds Christopher Colomb. Ein Season-Gastspiel band ihn 1930/31 an die US-amerikanische German Opera Company. 1932 wurde er Mitglied der Württembergischen Staatsoper, seinem Stammhaus bis 1959. Dort gab er in den Uraufführungen von Paul von Klenaus Opern Michael Kohlhaas (1933) und Rembrandt van Rijn (1937) die Titelrollen. Er etablierte sich rasch als 1. Heldenbariton und, neben den Tenören Fritz Windgassen und Ludwig Suthaus, führender Wagnersänger des Hauses. Regelmäßig gastierte er an den Opernhäusern München und Frankfurt/M. 1927 bis 1941 war er Protago-nist der Wagnerfestspiele in der Waldoper Zoppot: Wolfram, Telramund, Gunther, Amfortas, Sachs, Wotan. Er trat auch in London (Covent Garden), Brüssel (LaMonnaie), Den Haag, Monte Carlo, Österreich, Schweiz, Italien auf. Sein Rollenrepertoire umfasste auch Don Pizarro, Fürst Ottokar, Holländer, Rigoletto, Amonasro, Jago, Großinquisitor, Escamillo, Scarpia, Alfio, Tonio, Sebastiano, Borromeo, Reuters Gouverneur und Gersters Enoch Arden. 1966 wurde er zum Ehrenmitglied der Württembergischen Staatstheater ernannt.
In seinen letzten Lebensjahren betätigte er sich noch als Industrieller.

 

Lore Wissmann (∗ 1922 ‑ † 2007) wurde ab 1939 an der Musikhochschule Stuttgart ausgebildet und konnte drei Jahre darauf im Soubrettenfach als Kordula in Lortzings Hans Sachs an der Stuttgarter Staatsoper debütieren. Man übertrug ihr zunächst kleine Aufgaben. 1946 erreichte sie die Position eines Ersten Lyrischen Soprans im deutschen, italienischen, französischen und slawischen Repertoire. Im Lauf ihrer Karriere erweiterte sie ihr Rollenspektrum ins jugendlich-dramatische Fach. Zugleich wurde sie als Interpretin der Moderne eingesetzt, so in Werken von Hindemith, Strawinsky, Orff, Cikker. Bald war sie auch international als Gast gefragt: am Opernhaus Zürich, an den Staatsopern München, Hamburg, Wien, der Grand-Opéra de Paris, dem Teatro dell’Opera Rom, dem Sao Carlos Lissabon, dem Maggio Musicale Fiorentino und vielen süd- und mitteleuropäischen Opernhäusern. Typische Partien ihres Repertoires waren Cherubino, Pamina, Fiordilligi, Margiana, Frau Fluth, Baronin Freymann, Undine, Micaela, Antonia, Marie, Mimi, Liù, Zdenka, dann auch Agathe, Desdemona, Manon Lescaut, Lisa, Jenufa, sogar Donna Anna, Minnie und Octavian. Auch im zeitgenössischen Repertoire war sie erfolgreich, so mit Hindemiths Regina, Strawinskys Ann Truelove und Egks Ninabella. Sie zählte
zu den Solisten der Bayreuther Festspiele 1951 bis 1956, u. a. als Eva in den Meistersingern. Sie war die Gattin des berühmten Wagnertenors Wolfgang Windgassen. Dem Ensemble der Württembergischen Staatsoper gehörte sie 30 Jahre lang an — als eine der beim Publikum beliebtesten Sängerinnen des Hauses.

 

Hetty Plümacher (∗ 1919 ‑ † 2005) war Rheinländerin aus Solingen, studierte an der Musikhochschule Köln und debütierte 1943 am Deutschen Theater in Oslo. Nach mehreren Kurzengagements kam sie 1946 an die Württembergische Staatsoper, der sie 30 Jahre lang die Treue hielt. Sie entwickelte sich vom Spiel-Alt zur universellen Mezzosopranistin im lyrischen und Charakterfach aller Genres und Stile, mit Rollen in Werken jeder Richtung von Monteverdi bis Egk (u. a. in der Uraufführung von dessen Revisor). Sie gastierte in ganz Europa, so an den Staatsopern Wien und München, bei den Festspielen von Bayreuth (1953 bis 1957), Salzburg (1959 bis 1965) und Schwetzingen (1957 und 1966). Ihr Spektrum war nahezu grenzenlos, mit Schwerpunkten bei Mozart und Richard Strauss. Vor allem als burschikos-gewitzte Schelmin in der deutschen Spieloper hatte sie lange kaum Konkurrenz. Sie war auch eine gefragte Konzertsängerin mit internatio-nalen Auftritten in Passionen von Bach und Oratorien von Händel über Mendels-sohn bis zu Verdis Messa da Requiem. Ab Mitte der 1970er Jahre wirkte sie als Professorin am Salzburger Mozarteum.

 

Otto von Rohr (∗ 1914 ‑ † 1982) war der führende Bassist der Württembergischen Staatsoper und ein gefeierter Favorit des Stuttgarter Publikums, zugleich ein international geachteter Protagonist vor allem im deutschen Repertoire. Er hatte bei Hermann Weißenborn (dem späteren Lehrer Fischer-Dieskaus) studiert, debütierte 1938 als Sarastro in Duisburg, wurde dort sofort als Nachfolger Robert von der Lindes als 1. Bass verpflichtet. Schon 1941 holte ihn die Stuttgarter Staatsoper, die bis zu seinem Bühnenabschied sein Stammhaus blieb. Seit 1946 hatte er auch einen Gastvertrag am Opernhaus Frankfurt/M. Infolge dieser Präsenzen kam er zu vielen Solo- und Gesamtwerk-Aufnahmen aus unter-schiedlichen Repertoires beim Südfunk und beim Hessischen Rundfunk. Im Fach des Basso profondo war er bald weltweit gefragt: Scala di Milano, Grand-Opéra Paris, Staatsoper Wien, San Carlo Lissabon, Maggio Musicale di Firenze, Teatro Colón Buenos Aires, San Francisco, Rio de Janeiro, führende Opernhäuser in Deutschland (Berlin, Hamburg, München), Schweiz (Zürich, Basel), Italien (Bologna, Genova, Torino, Napoli), Frankreich (Marseille, Strasbourgh). Er sang das gesamte Serioso-Repertoire, von Händel bis Strawinsky, dazu Oratorien, Lieder, Balladen. Sein Wirken ist, namentlich bei Rundfunkanstalten und in Live-Mitschnitten, breit dokumentiert. Das Hamburger Archiv hat ihm eine CD-Edition gewidmet.

 

Res Fischer (∗ 1896 ‑ † 1974) war eine Institution der Opernlandschaft im Allgemeinen und des Opernstandorts Stuttgart im Besonderen. Sie verkörperte die Tradition des Contralto deutscher Provenienz, war eine Bühnenerscheinung von intensiver Ausstrahlung und wie gemeißelter Optik, geschaffen für archaische oder skurrile Frauengestalten wie Erda, Quickly, Ulrica, Knusperhexe, Herodias, Klytämnestra, Amme, Jokasta. Sie studierte in Berlin, Prag, Stuttgart, war auch Schülerin der legendären Lilli Lehmann. 1927 debütierte sie in Basel, blieb dort bis 1935, ging bis 1941 ans Opernhaus Frankfurt/M., war danach für 22 Jahre Ensemblemitglied der Württembergischen Staatsoper. Von dort gastierte sie an den großen Häusern in Wien, München, Hamburg, Milano, Rom, Florenz, Paris, Brüssel, Amsterdam, London, Buenos Aires und in Osteuropa. Sie wirkte in Ur- und Erstaufführungen von Pfitzner, Weingartner, Toch, Hindemith, Wagner-Régeny, Orff mit. Gefeiert waren ihre Auftritte als Orpheus, Ortrud, Fricka, Waltraute, Eboli, Amneris, Gräfin in Pique Dame und Küsterin in Jenůfa. 1942 gab sie die Marcellina in Mozarts Figaro bei den Salzburger Festspielen,
1959 bis 1961 die Mary im Fliegenden Holländer in Bayreuth. 1965 wurde sie zum Ehrenmitglied der Württembergischen Staatstheater ernannt.
 

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© Klaus Ulrich Spiegel