Quel canto mi conquide
                                (Verdi / OTELLO / atto 4)

Stuttgarts Spinto in seiner Ära:
EUGENE TOBIN, Tenore

Die Ensembles der großen und mittleren Opernhäuser nach Ende des zweiten Weltkriegs waren noch ganz von einer zuvor ehernen Regel geprägt: Man spielt „Deutsche Oper“ – also auch nichtdeutsche Werke in deutscher Sprache, in deutschen Häusern unter deutscher Leitung und zumeist deutschen Dirigenten mit überwiegend deutschen Sängerinnen und Sängern. Das galt durch die Rest-1940er bis in die Mitte der 1950er (mit nur wenigen Einzel-Ausnahmen) flächendeckend.

Nur die immer schon weltweit ausstrahlende Wiener Oper mit ihrer Tradition internationaler Sänger-Starensembles, zumeist aus osteuropäischen Kulturnationen, präsentierte schon in den ersten Nachkriegsaufführungen im Interimsquartier internationales Bühnenpersonal - lange vertraute Publikumslieblinge wie Cebotari, Dermota, Rosvaenge oder neu am Haus wie die die Kroatin Dragica (Carla) Martinis, die Bosnierin Sena Jurinac, die Bulgaren Ljuba Welitsch, Todor Mazaroff, Marjan Rus, der Slowene Josef Gostic, der Holländer Theo Baylé, die Ungarn Sándor Sved und Lászlo Szemere, der Italiener Giuseppe Taddei und manche mehr – dazu als Star und Vorbote einer baldigen US-Sängerinvasion: der rasch weltberühmte Canadian-American George London.

An den deutschen Staats- und Großbühnen setzte jene Phase, die man Internationalisierung nennen kann, erst während der 1950er Jahre ein, als sich die zerstörten Häuser im Wiederentstehen befanden, die Spielpläne erneuert und die organisatorischen wie technischen Apparate konsolidiert waren, sich eine blühende Radiokultur entfaltete, der eine noch regional orientierte Plattenindustrie nachstrebte. Der Trend wurde dominant aus einem bald unerschöpflich scheinenden Reservoir von Newcomern gespeist: Sängerinnen und Sängern aus den USA.

Diese waren vielfach von Weltrangmusikern im Exil geprägt und ausgebildet worden, somit an europäischen kulturellen Traditionen und Schulen orientiert. Angesichts der damals noch nicht sehr reichen US-Opernlandschaft stand die Anzahl neuer bedeutender Stimmen und großer musiktheatralischer Talente in keinem Verhältnis zu den weithin beschränkten heimatlichen Möglichkeiten für Auftritte oder gar Engagements. Den Besten unter ihnen wurden von Lehrern und Ausbildungsinstituten gezielt Erfahrungsgewinne durch Europa-Aufenthalte empfohlen. Und so standen den deutschen Opernhäusern und Agenten mit Beginn der 1950er unverhofft Sänger mit enormem Potential, perfekter professioneller Ausbildung und bemerkenswerter Vielseitigkeit zur Verfügung.

Die Reihe solcher in Europa zu Rang und Bekanntheit gelangten Namen ist selbst in Auswahl beachtlich: man denkt an die Sopranistinnen Gloria Davy, Leonora Lafayette, Mattiwilda Dobbs, Anne Bollinger, Camilla Williams, Annabelle Bernard, die Mezzo/Altistinnen Grace Hoffman, Irene Dalis, Vera Little, Margarete Bence, die Tenöre Donald Grobe, Jean Cox, Howard Vandenburg, die Baritone James Pease, Lawrence Winters, Thomas Tipton, Barry McDaniel, Raymond Wolansky, Hugh Beresford, die Bassisten Kieth Engen, Edmond Hurshell, Frederick Guthrie, Thomas O‘Leary und dazu weitere ein bis zwei Dutzend an deutschen Stadttheatern oder mit Gastverträgen. Ihnen folgten auf dem Weg zum Ruhm durch deutsche „Provinz“ spätere Weltstars wie Marilyn Horne oder Jess Thomas.

American Artist goes Europe

Auch an der Württembergischen Staatsoper war das italo-französische Repertoire zunächst im Besitz deutscher Tenöre, die eigentlich anderen Fächern zugeordnet gehörten sollten und aus ihren Tondokumenten auch als solche identifizierbar sind. Neben Stefan Schwer, eigentlich Charaktertenor, der in Stuttgart seit Kriegsende (nach zunächst Anton John) immer die „zentralen Italiener“, also Verdi und Puccini, gegeben hatte, sangen Wolfgang Windgassen und Josef Traxel, die prominentesten Tenöre des Hauses, zwischen Mozart und Wagner auch mit Radames und Pinkerton (Windgassen) oder mit Don Carlos und Erik (Traxel), beide bei Gelegenheit sogar Cavaradossi.

Mit der Erweiterung des Stuttgarter Repertoires und dem Rückzug von Stefan Schwer als Comprimario ins Charakterfach wurde der Bedarf nach mindestens einer Erstfachbesetzung für die italienischen und französischen Tenorpartien, einem Lirico spinto, möglichst einem mit dafür typischem Timbre und Flair, so unabweisbar wie dringlich.

In dem Amerikaner EUGENE TOBIN (* 1.11.1917) fanden die Württembergischen Staatstheater 1955 diesen Protagonisten. Er war aus Philadelphia gebürtig, hatte zunächst als Büroangestellter gearbeitet, dann ein Musikstudium begonnen und war, nach umfassenden  Studien und Konzert- wie auch Bühnenjahren 1946-1952 in USA, nach Deutschland gekommen. Sein Personal Reference Leaf  nennt als Lehrer und Coaches: in NYC Hermann Weigert und Leo Taubmann, in Wien Heinrich Schmidt, in Stuttgart Konrad Brenner, in Bayreuth Walter Aign. Tobin hatte in Europa zunächst zwei Jahre lang in Spanien gelebt und an der Universitat de Barcelona Musik und Sprachen studiert. Danach sang er Englisch, Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Griechisch, in Oratorien natürlich auch Lateinisch. In USA hatte er in den 1940ern erste Engagements am Broadway, so in Call Me Madame (Irving Berlin), Call Me Mister (Harold Rome), Two On The Aisle (Jule Styne), Finian’s Rainbow (Burton Lane) und Love Life (Kurt Weill). Drei Jahre lang war er Solist in Konzert-Tourneen der National Concert Artist’s Corporation.

In Deutschland erhielt der Tenor sofort Festengagements. Zuerst in
Düsseldorf, an der im Verbund mit dem benachbarten Opernhaus Duisburg späteren Deutschen Oper am Rhein. Dort schon wurde er als Erlösung vom Altgewohnten begrüßt und gefeiert, war rasch ein deutschlandweit bekannter Name. 1955 holte ihn Generalintendant Walter Erich Schäfer nach Stuttgart. Von seinem Hausdebüt als Radames an dominierte er dort Repertoire und Spielplan. Wenig später wurde er auch ständiger Gast an der Hamburgischen Staatsoper, der Städtischen Oper Berlin (DOB) und am Opernhaus Köln. Er trat an zahlreichen europäischen Bühnen auf, so in München und Wien (dort als Radames, Don José, Canio, Cavaradossi, Calaf, Erik, Froh und Sänger im Rosenkavalier), in Brüssel, Paris Nizza, Lille, Marseille, Lyon, Strasbourg, in Amsterdam, Frankfurt/M., Wiesbaden, Athen, Tel Aviv, später wieder in seiner amerikanischen Heimat, so in Chicago, San Francisco, San Diego, Seattle. Abendgastspiele im deutschen Sprachraum gab er in Vielfalt an Staats- und Stadttheatern, bei Konzerten und im Rundfunk.


Tobin war zwischen Ende der 1950er bis weit in die 1970er ein führender und allerorten gefeierter Interpret der großen Tenorpartien seines Fachs, ein Lirico spinto von der Art seiner Zeitgenossen Campora, Penno, Limarilli, Picchi, Cecchele, Prevedi, Fernandi. Und weil es eine Spinto-Italiano-Stimme dieses Typs auf deutschen Opernbühnen kaum gab, erlangte er für einige Jahre etwa den Status, den der Kollege Giuseppe Zampieri während der Karajan-Ära in Wien innehatte – als ein Ensemblesänger ersten Ranges für das Kernrepertoire italienischer, französischer, slawischer und auch deutscher Oper bis zu den jugendlichen Helden von Beethoven-Romantik-Wagner-Verismo-R.Strauss.

Gastierte Tobin überall in Deutschland und Europa mit kaum mehr als einer Handvoll Exklusiv- oder jedenfalls Gusto-Partien (Manrico, Radames, Cavaradossi, Calaf, Don José, Canio, kaum andere), so erarbeitete er sich am Stammhaus in Stuttgart auch ein zwischen Spinto und Drammatico positioniertes Repertoire, das ihn zum gleichrangigen Cover für Windgassen und Traxel, wenig später auch Jess Thomas, machte, in gleichsam natürlicher Expansion diverse Zwischenfach- und Drammatico-Partien: Macduff, Riccardo, Gabriele Adorno, Alvaro, dann Otello, Erik, Stolzing, Parsifal, Bacchus, sogar Samson und Siegmund.


Weltruhm live: Legend on DVD

1961 erlangte er interkontinentale Beachtung, als er in einer TV-Übertragung der Tosca aus dem Großen Stuttgarter Haus neben Renata Tebaldi und George London als Cavaradossi glänzend bestehen und einen triumphalen Erfolg erzielen konnte. Die DVD ist weltweit im Handel, inzwischen zu einer Art Kultdokumentation geworden.

In Tobins Karrierebuch sind weiter verzeichnet: neben kleineren Rollen in Bayreuth Auftritte bei Festivals in Holland, Frankreich und Italien. Seit 1965 war er wieder festes Mitglied an der Deutschen Oper am Rhein, deren Stammhaus Düsseldorf einst Ausgangspunkt seiner europäischen Laufbahn gewesen war. Mit Beginn der 1970er Jahre verlegte er Wirken und Wohnsitz zurück nach USA, wo er mit Eroico- und Wagner-Partien nur mehr Einzelgastspiele gab. Er wählte einen leisen, gelassenen Übergang in den Ruhestand, war aber noch als 70-80jähriger ein vitales, vielseitig interessiertes, kontaktfreudiges, Herzlichkeit ausstrahlendes Mannsbild. Zuletzt lebte er im US-Bundesstaat Indiana, nahe bei der Familie seines Sohnes, hielt aber steten Kontakt zu Freunden und Kollegen aus seiner deutschen Wirkungszeit. Dem Stuttgarter Publikum ist er als einer der großen Zeugen der Schäfer-Leitner-Ära in Zuneigung unvergessen.

Memorial zum Memento

Eugene Tobin hatte eine „klassische“ Lirico spinto Stimme: Hellfarbenes, bei Bedarf auch baritonal schattierbares, metallisch glänzendes bis strahlend sich entfaltendes Material von zwischen Silber und Stahl changierendem Gepräge, durchschlagskräftig, belastbar, in dramatischem Ausbruch bisweilen trompetenhaft-exuberant, doch auch von souveräner Führung beim Fil di voce und Mezzoforte. Er verfügte nicht über den Reiz eines ausgeprägt individuellen oder gar erotisierenden Timbres wie Tagliavini, di Stefano, Corelli bis Carreras, auch nicht über die Eroico-Stamina eines del Monaco oder die ausgefeilte Stilkunst eines Carlo Bergonzi. Er war vom Schlag der Tenori tipici italiani, beweglich und flexibel, mit sicherem Registerausgleich und metallisch schimmerndem Kern, doch stets mit einer Nuance Lohengrin im Timbre. Perfekt geschult wie nahezu alle American Opera Singers, hatte er kaum Probleme mit Genrewechseln, sprachlichen Adaptionen oder interpretativen Varianten. Er war ein professioneller Künstler, früher Zeuge der Internationalisierung über Repertoire- und Fachgrenzen hinweg.

Tobins Tondokumente sind rar. Es gibt kaum „offizielle“ Einspielungen. Schon Mitte der 1950er brachte das damalige Label Telefunken eine 45-Upm-Single mit Arien aus Aida, Carmen und Tosca heraus, Stücken aus seinem ständigen Basisrepertoire. Dem folgte die DVD-Dokumentation der gesamten Tosca von 1961. Für einen Otello-Studioquerschnitt sang er 1963 unter István Kertesz die Titelpartie. Mitschnitte von Konzertauftritten sind Trouvaillen, die seit über 50 Jahren nicht mehr erklungen waren – sie immerhin machen auch spurenhaft mit dem Wagner-Tenor bekannt. Nicht weniger rar und technisch kaum präsentabel ein Live-Dokument als Samson aus Vervièrs mit der Compagnie der Opéra de Liège.


Weit weniger befähigte Tenöre der jüngeren Zeit mit breiten, ja umfassenden Tondokumentationen können vor der hörbaren Klasse Tobins kaum bestehen. Diese schmale Sammlung verstreuter Tonspuren versucht, die große Lücke ein wenig zu verkleinern. Eugene Tobin starb am 8. November 2014, wenige Tage nach seinem 97. Geburtstag, in seinem Haus in Indiana. Er verdient bleibende Erinnerung – nicht nur jener Opernfreunde, die ihn live hören konnten. Er zählt zu den wichtigen Sängern seiner Zeit.

                                                                                  

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© Klaus Ulrich Spiegel