Tausend Künste kennt der Teufel,
 aber singen kann er nicht.
Denn Gesang ist ein Bewegen
unsrer Seele nach dem Licht.

 

Ein letzter Kavalierbariton?
Eleganz, Virtuosität, Spielfreude:
Der bravouröse Lirico-Spinto Jörn W. Wilsing

Künstlerkarrieren im darstellenden Metier stehen in Zeiten globaler Medienmacht vielfach unter irrationalen und darum ungerechten Einwirkungen. Die dokumentierte Gesangshistorie bietet Beweise dafür: Kamen noch in der frühen Ära der akustischen Tonaufzeichnung nahezu alle, selbst nur regional bedeutsame Vokalisten auf die Tonträger, so reduzierte sich deren Präsenz mit der elektrischen Aufnahmetechnik und erst recht im Digital-Zeitalter stetig zugunsten internationaler bis weltweiter Prominenz.

Das bewirkt immer stärkere Zuspitzungen auf wenige sog. Top-Stars mit multimedialer Vermarktbarkeit - auch für Tonfilm, TV, Internet, auf CD, MP3, MMC. Gleich ob in Recitals oder Werk-Gesamteinspielungen: der Mega-Vermarktung wegen besetzen Produzenten immer beliebiger mit schon hochgepuschten, absatzsicheren Matado-ren und Idolen. Die einen hinterlassen Diskographien ohne Grenzen, die anderen allenfalls Spuren. Die einen gelten als Jahrhundertstimmen, die anderen als Fälle fürs Regional- oder Lokal-Archiv.

Dabei verstärkt sich die Gefahr, dass die Erschaffung der Gesangsstars von außermusi-kalischen, außer-vokalen, außer-sängerischen Kriterien bestimmt wird - mit der umge-kehrten Folge, dass gleichrangige, mitunter sogar bedeutendere Solisten außer Betracht bleiben. Das Hamburger Archiv hat einige aus den Archiven geholt und in Editionen für die Gesangsgeschichte gesichert. In dieses Projekt fügt sich die vorliegende Präsentation des hochrangigen, entdeckungswürdigen Bühnensängers Jörn W. Wilsing..

Exkurs über den Bariton
Die mittlere Männerstimme - lt. Teldec-Genealogie „from very light to very heavy - great variety of types“, nach Herzfeld „die der menschlichen Sprechstimme meistentsprechende Stimmfarbe1) - ist eine Frucht des 19. Jahrhunderts. In Barock, Wiener Klassik, Belcanto kannte man nur den Basso. Man kann es an den Zuordnungen für Kirchen-Kantaten und -Oratorien ablesen, mehr noch an den Stimmzuweisungen der Opera romantica & buffa Rossinis, Cimarosas, Paisiellos. Der Stimmumfang ist durchwegs identisch; allenfalls der individuelle Stimmcharakter in Tonfülle und Färbung differiert: Figaro +Bartolo, Dandini + Magnifico + Alidoro, Mustafà + Taddeo, ähnlich bei Donizetti: Belcore + Dulcamara, Pasquale + Malatesta …

Erst mit den belcantesken Musikdramen von Verdi, Pacini, Mercadante, Gomes und im Verismo wird eine Expansion um bis zu eine Terz nach oben manifest, die Steigerung des Basso cantante (oder lirico)  in tenorale Bereiche vorangetrieben und zur Dominanz des Verdi-/Verismo-Baritons entwickelt.


Der Regel-Umfang der heute als Bariton rubrizierten Stimmtypen reicht vom G/A/B
im Bassschlüssel bis zum Fis‘/G‘/As‘ - je nach Rollenvorgabe. Der Varianten gibt es viele, aufzuteilen in „seriöse“ und „Spiel- + Charakterfächer“. Das Spektrum reicht vom Lirico über den Spinto und Drammatico bis zum Eroico. Die Übergänge sind jeweils fließend, strenge Abgrenzungen gibt es nicht: Ein Umstand, dem wir breite Vielfalt nicht nur in Ausdrucksformen, sondern auch in Fakturen und Farben verdanken. Das ist eines der Faszinosa des Universums Oper.


Die deutsche Operntradition aus Zeitphasen mit durchwegs landessprachlicher Auf-führungspraxis nahm - als Grundmuster der Ensemblebildung an Opernhäusern - drei Fachzuweisungen mit Hilfsbegriffen vor: Spielbariton - Kavalierbariton - Heldenbariton. Der Spielbariton ist ein Lirico-Leggiero, entsprechend dem französischen „Bariton Martin“, typisch für Partien der Spielopern, Singspiele, später auch Operetten. Der Heldenbariton, seit Wagners Musikdrama ein vor allem deutsches Phänomen, entspricht dem Fach, das noch bei Wagner „Hoher Bass“ hieß, dem Basso cantante des Belcanto. Der Kavalierbariton (Reichweite A-G‘/-As‘) hingegen ist ein Lirico mit dramatischen Optionen, analog etwa dem italienischen Spinto, jedoch vorrangig den Regeln klassi-scher Gesangkunst verpflichtet: Legato, Registerflexibilität, Phrasierungskunst. In weniger eleganter, dafür rau-kerniger, markanterer Ausprägung wurde er auch als „Charakterbariton“ geführt.

Ein Kavalierbariton, Vertreter des zentralen Baritonfachs im deutschen Opernbetrieb, war in der Regel deutschsprachiger Interpret aller Fächer zwischen Mozart und Moderne, mit Schwerpunkt im klassischen Repertoire inkl. der italienischen, französi-schen, osteuropäisch-russischen Genres. Heute sind die genannten Hilfsbegriffe außer Gebrauch. Die letzten prominent als Kavalier- (wie auch Charakter)-bariton  einge-stuften Vertreter auf Tonträgern bis zu den 1950ern waren beispielhaft Heinrich Schlusnus, Gerhard Hüsch, Willi Domgraf-Fassbaender, Mathieu Ahlersmeier,  Hans Reinmar, Arno Schellenberg, in einer lyrischeren Variante auch Karl Schmitt-Walter.

Der Bariton, dem diese Edition gewidmet ist: Jörn W. Wilsing, war von Natur ein deutscher Lirico, der im Verlauf von Professionalisierung und Praxis zum Repräsen-tanten der italienischen Schule wurde und dabei Ressourcen hin zum dramatischen Charaktersänger entwickelte. Er wäre als Nachfolger in die genannte Reihe zu stellen - wenn ihm die Umstände günstiger (ein wenig auch, wenn ihm stärkerer Aufstiegsdurst, Ehrgeiz, Biss zu eigen) gewesen wären.

 

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JÖRN W. WILSING (Bariton)
* 25.Oktober 1940  Hamm (Westf.) - † 19. September 2010 Stuttgart

In Selbstportraits wies er sich aus als „ein echter Hammer“. Schon der Ansatz wies auf
ein sanguinisches, lebenszugewandtes, selbstironisches  Naturell. Zeitzeugen berichten von einer humorvollen, integrativen, positiven Persönlichkeit. Das drückt sich akustisch in seinen Interpretationen aus - als „Face-in-the-voice“ und in lustvollen Attitüden. Das „W.“ im Namen ist eine Reverenz an seinen Vater Wilhelm.


Seine Geburtsstadt Hamm, auf der Nord-Süd-Trennlinie zwischen Münsterland und Sauerland westlich Dortmund am Eingang der Soester Börde gelegen, ist weder durch Kulturdenkmäler noch von Kulturstätten geprägt. Wilsings Sozialisation als motivierter Nachwuchskünstler kam wesentlich aus dem eigenen Familienverband, in dem Musik und Gesang eine zentrale Rolle spielten - mit Chorsängern, Kirchenmusikern, Instru-mentalisten, Orgelbauern. Seine Mutter war ausgebildete Konzertsängerin, Schülerin des legendären Stimmbildners Clemens Glettenberg, der seit den 1930ern eine Professur an der Musikhochschule Köln innehatte und dort von Schülern überlaufen war. Zu diesen zählten die arrivierte dramatische Sopranistin Walburga Wegner, in den 1950ern der Tenor Eberhard Katz und der Bassist Franz Crass.

Jörn entdeckte noch vor dem Stimmwechsel seine Leidenschaft fürs Singen, trat als Gymnasiast bereits in Schulkonzerten auf, war schon da entschlossen, professioneller Sänger zu werden. Getreu der Familientradition stellten sich die Eltern nicht dagegen, nötigten ihn aber, „erstmal einen Brotberuf zu erlernen“. Die Möglichkeit dazu eröffnete sich dem 18-Jährigen mit einer ersten Ausbildungsstelle im Bochumer Bergbau, die neben dem Erwerb des Kaufmannsbriefs auch ein Praktikum als Zimmermann und als Statiker im Untertagebau einschloss. Nach zwei Praxisjahren strebte der fertige Indu-striekaufmann in seinen Wunschberuf. Er erreichte ein Vorsingen an der Kölner Hoch-schule. Der große Glettenberg hatte vorerst keine Vakanz, empfahl ihn zum Einstieg an einen dortigen Lehrbeauftragten, seinen Schüler Peter Witsch, Tenore leggiero, erfolg-reicher Opernbuffo und gefragter Oratoriensänger im Rheinland. Nach ersten Studien bei Witsch gelangte der Eleve 1960 doch zu Glettenberg, der ihm  30 Minuten wöchent-lich , pro Monat also ca. zwei Stunden Unterricht offerieren konnte.

Stimmbildung - Partienstudium - Bühnenpraxis
Naturbegabung, Konzentration und Meisterpädagogik machten in weniger als zwei Jahren aus dem stimmbegabten Laien einen komplett stimmgebildeten Sänger, dem allerdings die Voraussetzungen für eine Bühnenlaufbahn noch fehlten. Die Semester 1962-64 wurden für ihn entscheidend: Ein Glettenberg-Schüler fand in der Szene offene Türen. Wilsing erlangte einen Platz in Glettenbergs Sommerakademie am Mozarteum
in Salzburg, war dort primär auf die Erlernung von Partien aus vielfältigen Opernreper-toires konzentriert. Etwa gleichzeitig wurde ihm von der Landeshauptstad München ein Stipendium, ergänzt um einen Zuschuss vom Bayerischen Rundfunk, zu einem Vollzeit-studium am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium in München zuerkannt. Es ermöglichte eine Wohnadresse in der bayerischen Landeshauptstadt, die ihm nach eigener Schilderung als Kultur- und Kommunikationsplatz zur Heimat wurde. Unter dem Supervising der Schauspiellehrerin Christa Gernot-Heindl erlernte er das Bühnen-handwerk: Darstellung, Artikulation, Sprachen, Bewegungslehre, Tanz & Pantomime … 1964 wurde ihm das Abschlussdiplom der Bühnenreife ausgestellt.


Damit war der Sänger Jörn W. Wilsing Kandidat für die Kader maßgeblicher Agenten. Vor Beginn der Opernspielzeit 1964/65 erhielt er ein Angebot zum Voll-Engagement am Landestheater Coburg - einem mittelgroßen Dreispartenhaus mit 550 Zuschauerplätzen am Schlossplatz des zauberhaften Städtchens, mit ca. 40.000 Einwohnern damals nicht größer als Goslar, Singen, Freising, Wetzlar, doch mit einem auf weite Einzugsgebiete abgestimmten Hochleistungs-Spielplan. Kaum vorstellbar: Es eröffnete die Spielzeit mit Wagners Lohengrin; und der Bühnendebütant Wilsing hatte seinen ersten Auftritt als Heerrufer - einer fast obligatorischen Bariton-Debütpartie (von Titta Ruffo 1888 bis Gerd Nienstedt 1954). Er war noch gar nicht motiviert für existenzielle Berufsausübung, hätte gern lange weiterstudiert. Man musste ihn förmlich zum Schritt ins Sängerleben nötigen.

Der Starterfolg bestätigte den Einstieg. Schlag auf Schlag folgten Erstfach-Partien. Er wechselte nach Giessen, dann nach Karlsruhe, wo er bis 1969 zum Ensemble gehörte. Zeitgleich begann seine Verbindung zum Sommerfestival Eutin. Schließlich holte ihn Intendant Kurt Pscherer fest ans Münchner Gärtnerplatztheater, als ersten Lyrischen Bariton neben dem hier etablierten Heinz Friedrich. Bis zum Beginn der 1970er hatte er sich als neue Größe im deutschen Opernbetrieb verankert, beherrschte schon zwei Dutzend Bühnenrollen: Mozarts Figaro-Graf,  Jeletzky in Tschaikowskys Pique Dame, Rossinis Barbier, Giorgio Germont in Verdis Traviata, Liebenau in Lortzings Waffen-schmied, Fluth in Nicolais Lustigen Weibern, Marcel in Puccinis Bohème.

Zwischen Provinz & Professionalität
Im Münchner Engagement avancierte Wilsing rasch zum unverzichtbaren Universa-listen, vom Publikum geliebt, von der Dramaturgie in praktisch allen Rollenfächern eingesetzt - von Mozart über Romantik und Spieloper, im italienischen, französischen, slawischen Repertoire, bis zur am Haus dominanten klassischen Operette. Das ging so fünf Jahre lang; dann wurden dem immer noch jungen Sänger Momente der Über-forderung, der Verheizung in pausenlosen Einsätzen bewusst. Er spürte die Not-wendigkeit eines Wechsels, ja Neubeginns. Er sondierte, erhielt ein Agenten-Angebot an die Dortmunder Bühnen - seit 1965 im modernen großen Haus unter der Generaldirektion des bedeutenden Operndirigenten Wilhelm Schüchter am Beginn einer Ära. Wilsing wechselte 1974 in die seiner Heimat so nahe Industrie-stadt, gewann dort zunächst mehr Freiräume, ruhigeres Studieren, Proben, Auf-treten, dazu neue Partien von Donizetti bis Richard Strauss. Nur eine Spielzeit, dann ereilte Schüchter unerwartet früh der Tod. Der inzwischen zu erheblichem Format gewachsene Sänger verabschiedete sich und ging - nunmehr im Status eines ersten Fachvertreters - erneut ans Staatstheater Karlsruhe, wo seinem Repertoire wieder neue, diesmal ins dramatische Fach ausgreifende Partien zufielen.

Die Kontinuität seines Aufstiegs schien gesichert, denn nun öffneten sich Opern-häuser der ersten Reihe für Gastauftritte mit Medienresonanz: die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, die Hamburgische Staatsoper, die drei Berliner Opernhäuser Staatsoper, Deutsche Oper & Komische Oper, dazu Staatstheater deutscher Bundesländer. Dann ereignete sich eine so unerwartete wie absurd erscheinende Zäsur: Am Karlsruher Staatstheater wechselte 1976/77
die Inten-danz. Der bisherige Regisseur Günter Könemann avisierte eine „Verjüngung des Ensembles“, brachte neue Solisten mit, reduzierte das Stammensemble. Das traf auch den bereits angesehenen Jörn W. Wilsing.

Doch dieser war längst kein Lückenfüller mehr. Er hätte mit Gastspielverträgen und Rundfunkarbeit eine Laufbahn weiterführen können, die Mann und Familie solide gesichert hätte. Doch dem Niederschlag folgte gleich der Auftrieb: Die Württembergische Staatsoper Stuttgart, eines der großen deutschsprachigen Häuser von europäischem Rang, legendär seit der Nachkriegsära Schäfer & Leitner, als Winter-Bayreuth von Wieland Wagner, medienberühmt mit einem Ensemble der Stars, offerierte ihm ein festes Engagement. Er nahm an - und hatte ein Haus- und zugleich Rollen-Debüt als Phoenix in Händels Deidamia.

Er füllte eine Vakanz: Das durch Stars wie Mödl, Eipperle, Borkh, Wissmann, Pütz, Hoffman, Plümacher, Windgassen, Traxel, Tobin, Welitsch, von Rohr, Neidlinger u.v.m. repräsentierte Ensemble hatte - nach an die 40 Jahren mit Engelbert Czubok als Platzhirsch - dringend Bedarf an Nachfolgerbaritonen fürs Lirico- und Spinto-Fach. Mit Raymond Wolansky und Wolfgang Schöne waren exzellente Lösungen gefunden worden. Für die lyrischeren, breiter sortierten, komödiantischen und belcanto-nahen Aufgaben stand mit Wilsing nun eine,
wie sich beweisen sollte, ideale „Kombi“-Lösung ins Haus.


Resonanz ohne Medienbasis
Stuttgart wurde zum Ziel und Gipfel der Sängerlaufbahn des Jörn W. Wilsing. Hier fand er optimale Arbeitsbedingungen, vielfältige neue Gestalten in einem Breitspektrum von Werken - darunter adäquate Spielräume für sein Komödiantentalent in Spieloper und Buffa, für Charakterisierung, Vitalisierung, Suggestion. Dazu ein sachverständiges, begeistertes, treues Publikum. Sein Rollenrepertoire wuchs weiter. Es umfasste nun sämtliche Epochen, Kulturen und Sparten der Opernspielpläne. Diese erweiterten sich noch in externen Konzertauftritten, Funkproduktionen, TV-Shows.

In durchaus reduzierter Auswahl seien genannt: von Mozart Don Giovanni, Masetto, Guglielmo Sprecher, Papageno. Webers Graf Ottokar. Kreutzers Jägersmann. Rossinis Figaro, Dandini, Haly, Rudolphe. Donizettis Enrico, Belcore, Impresario, Malatesta. Lortzings Zar Peter, Konrad, Graf Eberbach. Wagners Wolfram, Melot, Beckmesser, Kothner, Donner, Gralsritter. Verdis Conte di Luna, Marquis Posa, Ford. Gounods Valentin. Bizets Escamillo. Aubers Kookborne. Offenbachs Orpheus, Roi Carotte, Bobèche, Bobinet, Choufleury. Jh.Strauß‘ Dr. Falke, Frank & Homonay. Tschaikowskys Onegin & Tomsky. Smetanas Thomas, Krushina, Micha. Dvoráks Jäger. Leoncavallos Silvio. Puccinis Marcello, Sharpless, Ping. Giordanos Roucher. Humperdincks Peter. R. Strauss‘ Faninal, Musiklehrer, Harlekin, Justizrat. d’Alberts Morruccio. Prokofievs Don Ferdinand. Orffs Petrus. Suppés Boccaccio. Millöckers Erminio. Lehárs Danilo.

Auch die überregionalen Auftritte setzten sich fort. 1973 war Wilsing bei den Salzburger Festspielen als Arbace in Mozarts Idomeneo herausgestellt worden. 1988 präsentierte die Stuttgarter Oper bei den Schwetzinger Festspielen Rossinis La Cenerentola unter Gabriele Ferro mit Rockwell Blake, Doris Soffel, Wolansky, Berger-Tuna und Jörn Wilsing als Dandini - einer Partie, die zu seiner gefeierten Glanzrolle werden sollte. In Wiederbelebungen aus dem vorklassischen Metier glänzte er mit Singprüfungen wie Kitheron in Rameaus Platäa oder Conte Perucchetto in Haydns La fedeltà premiata. Im neuzeitigen Repertoire brillierte er auch als Sängerdarsteller: Lehrer in Jasager/Neinsager und Dreieinig-keitsmoses
in Mahagonny von Kurt Weill. Narr in Kreneks Das geheime Königreich. Doktor
in Die Nase von Schostakovich. Escalus in Romeo und Julia von Sutermeister. Mammon in Das verlorene Paradies von Penderecki. 1994 wurde er zum Württem-bergischen Kammersänger ernannt.


Herausragende, bleibend wichtige Auftritte hatte der Sänger bei Rundfunk-anstalten - beim SWR & SFB, Studio + Live. In Berlin gab es zwischen 1978 und 1992 in einer Produktionspartnerschaft des Berliner Opernhistorikers, Archivars und Dokumentaristen Einhard Luther mit dem Sender Freies Berlin und dem Berliner Konzertchor des Dirigenten Fritz Weisse eine mehrjährige Aufführungs- und Sendefolge weniger bekannter Opernwerke konzertant in der Berliner Philharmonie. Zur Aufführung kamen Werke von Lortzing, Marschner, Dvorák, Moniuszko und als eine Art Krönung Ruggiero Leoncavallos für Kaiser Wilhelm komponierte Brandenburg-Oper Der Roland von Berlin von 1904. In den zentralen Bariton-Partien war stets Jörn Wilsing besetzt.

Einhard Luther war ein erklärter Wilsing-Fan, überzeugt davon, dass dessen Bühnenrepertoire ungeachtet seiner Breite und Fülle noch lange nicht die stimm-lichen & sängerischen Ressourcen des Baritons erfasse. Er arrangierte deshalb im SFB auch Aufnahmesitzungen mit Arien-Recitals aus Charakter- und Dramma-tico-Partien. Sie gelangen mit dieser CD-Edition erstmals auf Tonträger und in die dokumentierte Gesangsgeschichte. Die Ergebnisse sind - wie zu hören - von umwerfender Attraktivität. Sie helfen, heute eine Präsenzlücke zu füllen, die dem erstklassigen, in vielem maßstäblichen Vokalisten und Bühnensänger von einer maßstabfernen Tonträger-Industrie zugemutet wurde.


Ein deutscher Belcantist
Wer den Namen Wilsing kannte und - der Medienrealität folgend - für einen guten Bariton der zweiten Reihe mit Schwerpunkt im leichten und Unterhal-tungsgenre hielt, kann beim Anhören der hier versammelten Tondokumente von einer Überraschung in die nächste, schließlich in Begeisterung bis zur Fanship fallen. Wir hören, repertoire-übergreifend, eine perfekt geschulte, an Eignungs-vielfalt kaum überbietbare, wohlklingende Baritonstimme der Kategorie Kava-lierbariton. Allein die äußeren Merkmale Timbre, Faktur, Volumen, Umfang stellen sie neben weit bekanntere, Fachkollegen und an die Seite anerkannter deutscher First-rate-Baritone der Epoche, etwa Poell, Braun, Kunz, Oeggl, Günter, Blasius, Gester, Peters, Grumbach, McDaniel, Wolfrum, Tichy - dann Gutstein, Waechter, Brendel und nicht zuletzt Prey, der in weithin identischen Partien, dazu Lied- und Song-Beständen grenzenlose, nahezu provokant extreme Vermarktung erfuhr.

Provokant mag deshalb die Feststellung wirken: Wilsing ist all denen und auch ihm in nahezu allen Kriterien ebenbürtig, in Details sogar überlegen. Das ist beweisbar - unter vokalen, vor allem aber sängerischen Gesichtspunkten. Maß-stäbe kommen aus dem Vergleich - für Wilsing mag die Grammatik der klassi-schen Gesangskunst reichen. Charakteristik und Färbung der Naturstimme sind die eines Baritono lirico mit dramatischen Optionen, (um zu allbekannten Vor-bildern zu greifen:) etwa in Nähe zu den Deutschen Schlusnus, Reinmar, Hüsch, den Italienern Campanari oder Tagliabue, den Franzosen Renaud oder Albers. Stimmbildnerisch weist er die für Glettenberg-Schüler typische Manier auf, die ein Perfektions-Indiz ist: Präzise, doch unaufdringliche Intonation, schwingende Legatoführung auf pulsierendem Atem, vor allem bruchfreie Registerverblen-dung, gekrönt von kaum gedeckter, dafür flammend-strahlender brillanter Höhe über G‘/Gis‘ hinaus. In späteren Wirkungsjahren, wenn sich die Stimme als ein wenig gesetzter, breiter darbietet, tönt auch das tiefere Register um noch einen Hauch gewichtiger = sonorer.

Weil der Sänger über eine nahezu vollkommene Technik gebietet, vermag er variante Klanggestalten zu formen und suggestiv zu vermitteln - vom schlanken Jünglingston zum körperhaft- maskulinen Kerl-Charakter. Anders als diverse Fachkollegen deutscher Provenienz beherrscht er meisterlichen Canto fiorito, also souveränen Umgang mit Verzierungen, Koloraturen, Figurationen, etwa hörbar in seiner Glanzpartie als Rossinis Dandini. Es versteht sich, dass er - wieder viel natürlicher als der immer etwas sentimentalisch-plüschig klingende Hermann Prey - ein geradezu geborener Bühnenkomiker, Bonvivant, Charmeur in Buffa, Operette, Musical war. Seine sanguinische, grundheitere Persönlichkeit vermittelt sich überdies in den Ausdrucksnuancen seines Singens: Er wusste mit rein musikalischen Mitteln im Gesang zu lächeln, zu bezaubern, zu verführen. Mehr als ein Sänger also: ein singender Mime - und ein Stilist.

Stagione lirica conclusa
Am Ende der 1990er Jahren erkrankte der Sänger schwer. Ein Herzleiden und ein aggressiver Diabetes zwangen ihn zu tiefgreifender Umstellung seiner Lebensweise. Unter starken Medikamenten, die seine Motorik einschränkten, verlor er an Beweglich-keit und Belastbarkeit. Doch er mochte vom geliebten Metier und vom ihn liebenden Publikum nicht lassen. So gab er schrittweise große und fordernde Rollen auf, zog sich auf Episodisten und Comprimarii zurück, die er mit Charakterisierungskunst, Präsenz und Selbstironie erfüllte. Er überstand die Frist bis zur Verrentung diszipliniert, ohne Einbußen an Humor und positiver Weltsicht. Zum sogenannten Lebensabend blieben ihm kaum fünf Jahre, beeinträchtigt von eskalierenden Leiden.

Sein Tod verstörte Freunde und Kenner. Die Trauerrede hielt ihm der Freund und Kooperationspartner aus vielen Begegnungen und GDBA2)-Projekten  Dieter Lindauer: Jörn Wilsing glänzte in Seria, Semiseria und Buffa, wobei er nicht zuletzt eine strahlende Höhe demonstrierte, die ihn ohne weiteres ein G, Gis und As erreichen ließ… Auch die Operette gehörte zu seinen Domänen... Bei Partien Rossinis und Donizetti vereinte sich seine komödiantische Ader mit bewundernswerter stimmlicher und darstellerischer Virtuosität. Erntete er mit atemberaubender Zungenfertigkeit - so beim Racheduett in Don Pasquale - Ovationen, so gestaltete er den Wandel der Komödie ins Tragische bei Fords Monolog im Falstaff so anrührend glaubaft, dass man von einer Sternstunde des Musiktheaters sprechen konnte …

Der Sänger ist beigesetzt auf dem Stuttgarter Friedhof Heslach. In den Erinnerungen zahlreicher deutscher, vor allem Stuttgarter Opernfreunde hat er einen Ehrenplatz - als Idealbild eines meisterlichen Sängers und als Bühnenphänomen
von Graden.


Jörn W. Wilsings tönende Hinterlassenschaft war allzu lange ein ungehobener Schatz
in Archiven und Privatsammlungen. Die marktbezogenen handelnde (häufig nicht-handelnde) Tonträgerbranche hat diese Ressource an Stimme, Gesang, Singdarstellung kaum genutzt
3). Nahezu ein Jahrzehnt nach seinem Hingang ist es hohe Zeit für ein Wilsing-Revival. Es müsste zur Entdeckung werden. Diese Edition soll helfen, sie in Gang zu setzen.
                                                                                                            KUS
 

1)
Friedrich Herzfeld: Magie der Stimme - Ullstein 1961
2)
GBDA - Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger. JWW war Obmann dieser Berufsvertretung für die Württembergische Staatsoper.
3)
Jörn W. Wilsing kam auf „offiziellen“ Tonträgern nie in Hauptrollen zum Zuge, nur mit  wenigen Comprimario-Momenten (Smetana/Verkaufte Braut, Leoncavallo/La Bohème, Strauss/Intermezzo , Sutermeister/Romeo und Julia) ferner gab es Mitwirkungen bei Operetten-Querschnitten.


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© Klaus Ulrich Spiegel