Belcantist aus Holland
Tenore leggiero versatile


Der niederländische Tenor John van Kesteren gehört zu den interessantesten,
in seinem Fachspektrum vielseitigsten Sängern der 1950er bis 1980er Jahre (und länger) in Mitteleuropa. Zentrum seines Wirkens war lange das Staatstheater am Gärtnerplatz in München. Dort brillierte er als Tenore Lirico & di Grazia und Operettenheld, später auch Charaktertenor, mit vielen Dutzenden Bühnen-partien, vom Barock bis zur Moderne. Doch er war auf weit mehr Feldern erfolgreich - neben Helmut Krebs zeitweise als markantester Vertreter tenoralen Kirchengesangs in englischer und Bachischer Tradition. Seine besonders hell gefärbte, mit schier grenzenloser Höhe ausgezeichnete, im Klang filigrane, in Intonation, Tonbildung und Phrasierung meisterlich geführte Tenorstimme von mediterranem Timbre-Reiz war besonders geeignet für Partien aus dem Canto-fiorito-Repertoire, also der Barockoper, der italienischen und französischen Romantik und Opera Buffa, aber auch für Spezial-aufgaben mit skurrilem oder intrigantem Profil und scharfer Charakterzeichnung.



Start aus prominenter Schulung
Kesteren wurde zunächst als Elektroingenieur ausgebildet. Bis in seine Twen-Jahre sang er zum Vergnügen und im Rahmen häuslicher Kulturpflege. „
Purer Zufall bewirkte, dass ich Sänger wurde. Auf einer Gesellschaft, bei der sich jeder Gast mit einer Darbietung produzieren musste, trug ich Schuberts Du bist die Ruh vor. Unter den Anwesenden war der Concertbebouw-Chef Eduard van Beinum; ihm gefiel der Vortrag. Der große Dirigent vermittelte mir bald ein Gesangsstudium am Königlichen Konservatorium Den Haag.“ Schon nach kurzer Studienzeit war der junge Tenor bühnenreif. Dramatischen Unterricht erhielt er noch beim legendären Prager Regisseur und Operndirektor Lothar Wallerstein, musikalische Meisterkurse bei der nicht minder berühmten Komponistin und Pianistin Nadia Boulanger.

Spezialist fürs Leggiero-Fach
Als 26‑Jähriger debütierte Kesteren in Scheveningen bei einer Gastspielauf-
führung der Wiener Staatsoper als Sänger im
Rosenkavalier. Er professionali-
sierte sich weiter in holländischen Operetten-Produktionen und an der Oper
von Utrecht. Dann ging er nach Salzburg für erneute Gesangsstudien bei der prominenten Sopran-Diva Vera Schwarz. Von dort wurde er Walter Felsenstein empfohlen, an dessen Ost-Berliner Komischer Oper er 1951 ein mehrjähriges Festengagement erhielt. Zuvor war er noch in Amsterdam gastweise in kleinen Partien aufgetreten — so als Steuermann im
Fliegenden Holländer oder Melot in Tristan und Isolde neben Größen wie Flagstad, Lorenz, Hotter, Thorborg, Weber. 1952 gab Kesteren in der ersten niederländischen TV-Opernproduktion den Bastien in Mozarts Jugend-Singspiel Bastien und Bastienne. 1956-58 war er auch
an der Städtischen Oper Berlin (heute DOB) zu Gast. 1958 wurde er schließlich ans Münchner Gärtnerplatz-Theater verpflichtet, wo er bis in die 1980er Jahre
im Festvertrag blieb und eine lange erfolgreiche Laufbahn hatte - ein Liebling des Münchner Publikums bis zu seinem Bühnenabschied.


Neben dieser ungewöhnlich ensembletreuen Tätigkeit gastierte derbald arri-vierte Tenor regelmäßig in ganz Europa und bei Festspielen, meist wenn pro-filierte Comprimario-Rollen - wie Jacquino, Pedrillo, Basilio, Flavio, Bucklaw, Dancairo, Tanzmeister, Abdisù - hochrangig besetzt werden mussten. Eine Reihe solcher Partien interpretierte Kesteren auch für Schallplatten. Im Radio und in Arienkonzerten bot er zudem ein extrem weit gespanntes Repertoire aus Klassik, Romantik und Belcanto - so von Gluck, Haydn, Sacchini, Cimarosa, Simone Mayr, Rossini, Bellini, Adam, Auber, Halévy, Gounod, Thomas, Bizet bis zu russischen und slawischen Werken und zur Moderne.

Komödiant, Liebhaber, Bonvivant, Charakter
Immer wieder erschien der Sänger auch auf der Bühne in dominanten Hauptpartien. So als Nureddin im
Barbier von Bagdad, Chapelou im Postillon
von Lonjumeau
, Almaviva im Barbier von Sevilla, Titelheld im Comte Ory, Belmonte in der Entführung, Ernesto im Don Pasquale, sogar Tamino, Don Ottavio, Fenton, Ernesto, Fernando, Duca, Alfredo. Auf seiner Gastspiel-Agenda standen füh-rende Opernhäuser wie die Wiener Staatsoper, die Deutsche Oper am Rhein,
die Staatsopern München und Stuttgart, die Scala di Milano, die Festspiele in Salzburg, Drottningholm, Ludwigsburg, Schwetzingen, Bühnen und Podien in Zürich, Genf, Amsterdam, Kopenhagen, Brüssel, USA (Boston, Dallas, Cincinnati) und Südamerika (Rio, Buenos Aires, Montevideo), dazu alle wichtigen Musikzentren im deutschen Sprachraum, von Hamburg, Berlin, Hannover, Köln, Frankfurt/M. bis immer wieder München.


Früher Zeuge der Belcanto-Renaissance
Maßstäbe kommen aus dem Vergleich. Die detaillierte Hör-Rezeption und vergleichende Analyse von Kesterens Vokalressourcen, mehr noch seiner sängerischen Fähigkeiten und Leistungen, weisen auf eine vokalhistorische Einordnung, die seiner tondokumentarischen Vermarktung nicht sofort und zeitgebunden entspricht. Sein Opernrepertoire ordnet ihn der Gruppe der Tenori di grazia zu. Konzertmitschnitte und Radio-Studioaufnahmen stellen
ihn mit überraschenden U-Musikstücken & Tenor-Hits wenn nicht in Konkur-renz, so doch in Nachbarschaft zu Tenorfavoriten eines Breitenpublikums

(s. CD 7).

Doch sein Stimmtypus, sein Timbre, vor allem seine sängerischen Mittel, ensprechen dieser Zuordnung nicht wirklich. Denn Kesteren war ein früher Vertreter, ja ein vorauswirkender Akteur der in den 1970er Jahren einsetzenden, bis heute weltweit wirkmächtigen Wiederbelebung der klassischen Gesangs-kunst des Golden Age, somit der stilprägenden Kunst des Legato, der Messa di voce, der Appoggiaturen, Portamenti, Koloraturen und Fiorituren - also primär sängerischer Perfektion vor vokaler Attraktion.

Die großenteils fabulös bewältigten Stücke aus Hochbarock, Belcanto, Buffa, Opéra comique & Opéra Lyrique auf CDs 1-3 demonstrieren es -mit Händel, Haydn, Mozart, Gluck, Cimarosa, Rossini, Bellini, Mayr, Donizetti. Da hören
wir einen Vorläufer der heute arrivierten Maestri del canto ornato - schon weiter als Martini, Landi, Valletti, Alva, Monti und vorausweisend auf Bottazzo, Gonzales, Palacio, Blake, Florez … Kesterens Stimmcharakter und Timbre muten im Gegensatz zu diesen eher keusch und kirchenmusikalisch als verführerisch-sinnlich an. Doch seine gesangstechnischen Mittel, einschließlich einer virtuosen Phrasierungs- und Verzierungskunst, definieren ihn als einen frühen Zeugen, ja Vorläufer der heute in Blüte stehenden Kategorie der Tenori virtuosi. Dies unbeschadet seiner bleibenden Dominanz als Oratorien-, Passionen-, Kantaten-, Melodramen-Konzertsänger.


Als solcher war John van Kesteren ein vielverpflichteter Protagonist - und
dazu ein viel zu wenig gewürdigter Liedsänger. Das belegt besonders Schuberts romantische Idylle
Auf dem Strom D.943 mit dem wunderbaren Liedpianisten Hans Altmann oder Bachs weltliche Kantate BWV 205. Geradezu alleinständig die wohl letzte Tonaufnahme für den Plattenmarkt: als großbesetzter Patriarch Abdisu in Rafael Kubeliks Gesamteinspielung von Hans Pfitzners Palestrina (neben Gedda, Fischer-Dieskau, Weikl, Donath, Faßbaender, Ridderbusch), einem meist von Buffotenören auf die Ebene Pedrillio, Monostatos, Jacquino minimierten Bühnencharakter, den Kesteren zum sängerdarstellerischen Ereignis aufwertet.

Gesichertes Andenken
Der Sänger veröffentlichte 1978 autobiographische Erinnerungen:
Notities van
een notekraker
. Mit seiner Frau Luise Rouner verbrachte seinen Lebensabend in Jupiter/Florida. Dort starb er am 11. Juli 2008. Seinen letzten großen öffentlichen Auftritt hatte er im Jahr 2000 bei der Eröffnung der Helen K. Persson Concert Hall an der Palm Beach Atlantic University.

John van Kesterens Andenken ist in München und in den Niederlanden lebendig, seine Wertschätzung in der europäischen Gesangshistorie gesichert. Neben einer holländischen CD-Box war eine eher ausschnitthafte Einzel-CD beim HAfG lange sein einziges Recital. Mit der vorliegenden Edition erfährt
der alleinständige Universalist erstmals ein umfassendes Sängerportrait - mit unschätzbaren Raritäten, Radioaufnahmen, Regionaleinspielungen, Live-Mitschnitten, großenteils aus Privatsammlungen.

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© Klaus Ulrich Spiegel