Dramatischer Gesang
als Vokalkunst
Glanz, Intelligenz, Impression:
Der exzellent-expressive Alexander Kirchner
Im auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert galt im deutschsprachigen Raum
vorrangig Richard Wagners Werk als Maßstab für qualitativen dramatischen Bühnen-gesang. Besonders die Tenorhelden, vom jugendlichen (C-C‘‘) bis zum heroischen (C-B‘) sog. Heldentenor (Tenore
drammatico & eroico) bildeten, zumal wenn sie gute Bühnen-erscheinungen waren, eine Anwärterspezies für Starruhm und Publikumsverehrung. Mit wenigen Ausnahmen, vielfach mediterraner Herkunft
oder Schulung, können die historisch wichtigen, auf Tonträgern überprüfbaren Repräsentanten dieses Fachs aber den Anspruch an Fähigkeiten und Fertigkeiten am Maßstab der klassischen Schule des
Singens nicht recht bestätigen. Sie beeindrucken heute noch mit großen, markanten, vielfach schallkräftigen Naturorganen. Doch nur eine Minderheit wird dazu auch den Kriterien großen Gesangs
gerecht.
Wonach sich solche Einordnung bemisst: Eine von Bayreuth ausgehender vornehmlich
sprachakzentuierte, wort- und damit konsonantenbetonte Deklamationsweise galt – als Mittel dramatischer Vermittlung und interpretativ angelegten Ausdruckssingens – weithin für maßgebend; sie
bestimmte vor allem den Singstil der Wagner-Interpreten. Den Ansprüchen an große sängerische Kunst entsprachen auf den Tondokumenten nur wenige, selbst unter den Berühmtheiten. Viele klingen
schwingungsarm, mitunter dumpf, phrasieren schwergängig und angespannt. Um den Sänger-Kompendiator Jürgen Kesting zu zitieren: „Der Versuch, einen deutschen Wagner-Stil zu finden, war nicht sehr
erfolgreich. Kaum einer der Heldentenöre, sieht man von Sängern wie Jacques Urlus oder Heinrich Knote ab, war ein erstklassiger Vokalist.“
Zur Aufstellung von Vergleichsgrößen, lassen sich die beiden illustren Namen vermehren, etwa
um Leo Slezak, Giuseppe Borgatti (Toscaninis ersten Siegfried), Francisco Viñas, Ivan Ershov, Paul Franz, Karel Burian, Isidoro Fagoaga, José Palet, dazu eine Reihe skandinavischer Tenöre von David
Stockman bis Einar Beyron. Die Überzahl dieser nicht aus apodiktischer Bayreuther Stilbildung hervorgegangenen, mehrheitlich nicht reichdeutschen Fachvertreter zeugt von Prägung durch die
Istruzone classica, die Basis des Belcanto, an.
Einer der wenigen prominenten Vertreter des jugendlichen und dramatischen Tenor-fachs dieser Zeit, der in einem breiten und variablen Rollenrepertoire auch, dann vorrangig als Wagner-Tenor zu glänzen
wusste, war der Wiener Alexander Kirchner. Nach Kestings Urteil haben nur „wenige Wagner-Tenöre so schöne Aufnahmen hinterlassen“ wie er. Seine Position in der Gesangshistorie ist
vergleichbar mit der von Gunnar Graarud und Martin Oehman – beide aus sehr ähnlicher Fach-Herkunft mit nahezu identischer Rollenpraxis. Kirchners tönende Hinterlassenschaft gilt seit
Jahrzehnten eher als Raritas, wenn nicht gar als Stoff für Disko-Extremisten. Doch sie bietet Material für Kenner und Liebhaber des Singens als Kunst schlechthin – und gehört deshalb ins Archiv der
Gesanghistorie.
Alexander Kirchner - Tenor
(* 16. März 1876 in Wien – † 3. Dezember 1948 in Wien)
Er kam aus dem gehobenen Bürgermilieu der K.u.K.-Monarchie. Sein eigentlicher Familienname war Schramek. Nach
standesüblicher Gymnasialzeit mit musischer Förderung begann er ein Gesangs- und Bühnenstudium bei zwei hochberühmten Kory-phäen der Musikbühne: Adolf Robinson in Brno (dem Lehrer von Leo
Slezak, Joseph Schwarz, Rudolf Berger) und Amalie Materna in Wien (der Brünnhilde und Kundry der Bayreuther Uraufführungen von Ring und Parsifal 1876 & 1882). Er war
stimmlich, sängerisch wie auch bühnendarstellerisch gründlich ausgebildet – und schon 33 Jahre alt, als er mit dem Status eines Meisterschülers an die Wiener Hofoper verpflichtet wurde und 1909 dort
gleich in einer Primo-Uomo-Partie – als Des Grieux in Massenets Manon – sein Bühnendebüt geben konnte.
Das weltberühmte Opernhaus hatte zu diesem Zeitpunkt elf (!) weitere Tenöre im
ersten Fach unter Vertrag. Kirchners Auftrittsmöglichkeiten blieben begrenzt. Die Antrittspartie konnte er 10mal präsentieren, dazu nur Bizets Don José (2mal), Gounods Faust (2mal) und den Bertel in
Leo Blechs Opern-Kleinod Versiegelt (8mal), später noch je 1mal Puccinis Rodolfo und Gounods Roméo. Insgesamt also 24 Abende in 16 Monaten – das ist nach damaligen Maßstäben kaum mehr als
die Strecke eines Einspringers oder Understudys. Dem Neuling auf Weltrangniveau war das, auch seines späten Einstiegs wegen, berechtigterweise allzu wenig, bot erkennbar keine
Entwicklungsperspektiven.
„Exotischer“ Karrierebeginn im Norden
So suchte und fand der Sänger eine höchst ungewöhnliche Wechsel-Option mit Effekt- und Resonanzpotential: Nach nur einer
Wiener Spielzeit wechselte er im Herbst 1910
an die Königliche Oper Stockholm – in ein Ensemble von europäischem Rang und Ruf, dem vor allem frühe Golden Age Repräsentanten großen Wagner-Gesangs angehörten: Ellen Gulbranson, Olga Blomé, Sigrid
Arnoldson, Magna Lykseth, Karin Branzell, Modest Menzinsky, David Stockman, Fredrik Lundquist, Carl Lejdström, Johannes Elmblad, Ernst Svendelius … Hier konnte Kirchner gleich mit weitgespanntem
Rollen-Repertoire, darin ersten Wagner-Partien, als Protagonist agieren. Nach wenigen Monaten an der ‚Kungliga Operan‘ enstanden ab 1911 in Stockholm auch Tonauf-nahmen des Tenors, auf den die
schwedische Grammophone Gesellschaft geradezu gewartet zu haben schien.
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Ein solcher Karriere-Frühverlauf ist völlig ungewöhnlich, dies umso mehr für die damalige
Zeit der festen Ensembles auch an größten Häusern. Kirchner muss also in Wien Zugriff auf Verbindungen, Förder- und Bürgschaften gehabt haben, ohne die ein karenzfreier Standort-wechsel, noch dazu
zwischen sehr verschiedenen Kultur- und vor allem Sprachwelten, nicht vorstellbar gewesen wäre. Dass Künstler aus den skandinavischen Randbereichen Europas in die Kern- und Basiswelten der
Opernbühne, also italienisch, deutsch, französisch, auch US-amerikanisch, wechselten und sich dort oft lebenslang etablieren konnten, war und ist bis heute geradezu eine Regel. Doch der umgekehrte
Laufbahnweg, überdies aus südost-europäischen Kulturzonen ausgerechnet in eine Metropole des Nordens, mit vielfältigen Rollendebüts und Tondokumenten in der dortigen Nationalsprache – das ist ohne
voraus-gehende, wohlvorbereitet-fundierte Aneignung nicht vorstellbar. Leider findet sich in Nachschlagewerken, Archiven, Fachbüchern, Netzzugriffen zu Alexander Kirchner nicht ein Wort darüber. Wir
müssen es vorerst bei dem belegten, in der Gesanghistorie alleinständigen Vorgang belassen – und seine Wirkungen betrachten.*)
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Königlich-schwedischer Resident
In Stockholm reüssierte Alexander Kirchner, über sein bisheriges Schmalspektrum an großen Lirico-Partien hinaus, auch als
Spinto, also „Jugendlicher Heldentenor“, mit Verdi und Verismo wie auch im deutschen Fach, mit Mozart, Beethoven, Weber, den Romantikern und jugendlicheren Wagner-Heldenrollen wie Erik, Lohengrin,
Stolzing. Ausgewählte Lyrique-Partien der französischen Oper, so Roméo, Faust, Hoffmann, Wilhelm, bezog er ein. Zwei Spielzeiten lang ersang er sich herzliche Publikums-Wertschätzung, baute eine
bleibende Bindung an die schwedische Kapitale auf und blieb ihrem Opernhaus bis 1918/1919 als Gast verbunden.
Um 1912 war sein Ruf, auch aus gelegentlichen Gastauftritten im deutschen Sprach-raum, gefestigt und verbreitet. Mit
Beginn der Spielzeit 1912/13 folgte er einem Angebot nach Berlin und wurde dort als Erstfachtenor an beiden großen Instituten tätig: Zuerst am Charlottenburger Deutschen Opernhaus, ab 1914 (bis 1927)
auch an der Hof-, dann Staatsoper Unter den Linden. Er zählte hinfort zu den führenden europäischen Tenören deutscher Provenienz, favorisiert auch für deutschsprachige Opern-Erstaufführungen. Schon
1914 gab er bei den Bayreuther Festspielen unter Siegfried Wagners Dirigat neben Barbara Kemp, Walter Soomer und Michael Bohnen den Erik im Fliegenden Holländer. An der Berliner Hofoper war
er 1916 Bacchus in der Berliner Premiere der Ariadne auf Naxos von Richard Strauss.
Stetig erweiterte Kirchner nicht nur sein Rollen-, sondern auch sein Fachspektrum, hin zu dramatischeren Heldenpartien.
In Berlin gab er den Florestan im Fidelio, Max im Freischütz und Hüon im Oberon, Pedro im Tiefland, dann (als einer der ersten Nachfolger Carusos) 1913 Dick
Johnson in Puccinis Fanciulla (Das Mädchen aus dem Goldenen Westen). Als späte Krönung seiner Laufbahn präsentierte er sich dem Berliner Publikum noch als Verdis Otello.
Der spätromantischen und zeitgenössischen Oper stellte er sich mit dem Titelhelden
im Lobetanz von Ludwig Thuille, dem Callimaco in Mandragola von Ignaz Waghalter und einem spektakulären Auftritt als Giovanni Salviati in der Berliner Premiere der Mona
Lisa von Max von Schillings (1915). Von ähnlicher Bedeutung seine Rollen-Erstportraits als Phoebus in Notre Dame von Franz Schmidt (1918), als Hoffegut in der Aristophanes-Oper Die
Vögel von Walter Braunfels (1921), als Rinuccio in Puccinis Gianni Schicchi (1923).
Cantabilität für Wagner
Wagner-Partien an beiden Berliner Häusern rückten immer stärker ins Zentrum von Kirchners Bühnengestalten: Erik,
Lohengrin, Walther, Loge, Siegfried, Parsifal. Nach dem Weltkrieg zählte er zu den gefragten Wagnertenören – dies bei deutsch-österrei-chischer Provenienz eher dem Lager der genannten Wagner-Sänger
zugehörig. Kein Wunder: Er arbeitete stetig daran, seinem Drammatico-Organ lyrische Legatofülle, Flexibilität und hellmetallischen Ton und sich dabei fachüberschreitende Vielseitigkeit in Stimm- wie
Singqualität zu erhalten. Darum sang er auch Pylades in Glucks Iphigenie auf Tauris, Mozart-Partien wie Ferrando in Così fan tutte und Tamino in der Zauberflöte, Lyonel in
Flotows Martha, Herzog in Verdis Rigoletto, Don José in Bizets Carmen, Linkerton in Puccinis Madame Butterfly. Lenskij in Tshajkovskijs Eugen
Onegin.
Nach seinem Bayreuth-Auftritt wurde er zu Gastspielen eingeladen. 1914 debütierte er in London, als Tamino bei der
Beecham Opera. 1919 hörte man ihn an der Dresdner Semperoper, ab 1922 wieder an der Wiener Oper, dort als Erik, Lohengrin, Manrico, Radames. Er gastierte am ROH London, an der Opéra Paris, in den
Niederlanden, der Schweiz und natürlich in Stockholm. Er gab auch Arien- und Lied-Recitals, nahm an Oratorien-Aufführungen teil. Nach ersten, teils auf Schwedisch gesungenen Acoustics für Grammophon
(1911 ff.), machte er Aufnahmen für diverse Labels: HMV, Anker, Pathé, Polyphon, Homochord (Berlin ab 1913). Auch als Operetten-Bonvivant (mit späten Einspielungen in Franz-Völker-Nähe 1928-30) war
er erfolgreich (Tondokumente bei Kalliope & Artiphon). Legendär und besonders gesucht ist die Aufnahme-Serie mit Parsifal-Szenen (Anker 1914) mit dem Wien-Bayreuther Bassisten Rudolf
Moest.
Beweiszeuge klassischer Gesangstradition
In der Tat besaß Alexander Kirchner das typische Spinto-Organ jener Wagner-Tenöre, die auch im italofranzösischen
Repertoire glänzen konnten. Er gehörte also nicht der Schwergewichtsklasse der Recken und Heroen an, war kein Tenor für Tannhäuser, Tristan, Siegmund, sondern erinnerte eher an die frühen Drammatici
der Wagner-Uraufführungsära: mit hellem, eher silbernem als stählernem Farbgepräge, mit jugendlicher Ausstrahlung statt athletischer Masse, ähnlich Generationsgefährten wie Sembach, Vogelstrom,
Graarud, Enderlein, Ritter. Kirchners Stimme war nicht extrem voluminös, man hört ihr die Entwicklung aus lyrischer Substanz an. Wichtiger: Sie war nicht sehr weit im Umfang, auch nicht mit
gleißendem Höhenstrahl gekrönt. Die eigentlich „kurze“ Vollhöhe wird durch kluge Intensivierung und natürlich-leichte Platzierung über schwingendem Atem erzeugt, durch Nutzung der vorderen
Reso-nanzräume gerundet und gesteigert. Eine Tenorstimme von „mittleren“ Dimensionen, deren Einsatz von Konzentration, Maß und Musikalität profitiert.
Ein Vergleich der frühen Kirchner-Aufnahmen von Lirico-Stücken (Mozart, Flotow, Donizetti, Gounod) mit
Drammatico-Portraits (Wagner, Meyerbeer, Verdi, Verismo) belegen die völlig kontinuierliche Entwicklung des Stimmbesitzers wie des Künstlers aus musikalischem Bewusstsein. Er verfügte über jene
Qualitäten, die den Vertretern der Categoria massima weitgehend fehlte: die Fähigkeit, Phrasen zu spinnen, mit beherrsch-ter Emission und ausgeglichener Dynamik auch bei dramatischer Steigerung
integrierte Klanggestalten zu erzeugen, kurz: ausdrucksreichen Legato-Gesang zu bieten. „Selbst in hoher Tessitura liegende Stücke … werden nicht im Presston gebildet, sondern
schwingend-klangschön gesungen, wobei das Wort leicht auf dem ‚Atem liegt.“ (Kesting).
Diese Qualitäten entfalten sich aufs Schönste in mittelschwerer, doch expansiv-drama-tischer Musik, wie in Webers
Oberon und Meyerbeers Prophet, und – unbeschädigt trotz ausgedehnten Wagner-Interpretationen – auch auch in (freilich zeitgemäß fioriturenfrei realisierten) Belcanto- und
Lyrique-Stücken. Nur die sonst fehlerlose, schöne Phrasie-rung des Sängers ist infolge Mangels an Atemressourcen gelegentlich begrenzt.
Alexander Kirchner wird von Vokalhistorikern wertungsfrei meist unter dem Hilfs-begriff „Zwischenfachsänger“ rubriziert.
Das war er – jedoch nicht in dem Wortsinn als Vokalist „zwischen den Fächern“, vielmehr als einer, der mit sängerischen Mitteln Fachgrenzen überschritt und dennoch zu den historisch wichtigen, von
Singen als Kunst zeugenden Wagner-Tenören seiner Ära zu zählen ist.
KUS
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Autor und Herausgeber sind dankbar für jeden ergänzenden Hinweis auf Fakten,
Hintergründe oder Auskunftsquellen.