Apropos Süddeutsche Zeitung
Hauptteil Titelseite 13. August 2013


Überlebensgroß Herr Grass

Das ist mal eine (im Grunde fällig gewesene): sommergurkenzeitbegünstigte, vorwahlorientierte, besonders durchschaubare und auch deshalb extra-schäbige SPD-Wahlkampfchose. Und, weil mal wieder der überlebensgroße Nobelpreis-träger im Spiel ist, für "seriöse" Meinungsbildnermedien wie die Süddeutsche
ein Grund, eine giftige Bemerkung zur Groß-Headline auf der Titelseite 1 des Gesamtprodukts oben, also als Hauptaufmacher des Tages, zu platzieren, von Brössler, wem sonst. Erfahrungsgemäß werden weitere Zirkusakte folgen, erstmal in öffentlich-rechtlichen Nachrichten und Magazinen. Sodann auf dem Boulevard, mit BILD an der Spitze (einem Blatt, mit dem Grass erklärtermaßen keine Tischkante, geschweige denn Rede teilen will). Dann wird der Blätterwald erbeben.


Kreiert hat das Ganze mit dem vorgeblichen Anlass "150. Geburtstag der Sozialdemokratie" der hinreichend ausgewiesene Herr Manfred Bissinger, vor drei Jahrzehnten mal links-kostümiert Gremlizas Chefredakteur bei "konkret", nach dem kürzestzeitig folgenden Konflikt erst Freischreiber für den SPIEGEL, dann Blattmach-Beauftragter bei Gruner & Jahr, dann eine Art Spitzenfeder bei der Ganske-Gruppe, dort Chef der kurzlebigen DIE WOCHE, schließlich Moderator gescheiterter Boulevard-Versuche, aber immer stark in finanziellen Ressourcen – mit Direkt-Zugang zu SPD-Größen, so vor allem dem damaligen Hannoveraner Parvenü G. Schröder.

Bissinger war der Veranstalter und V.i.S.d.PrG jener 1/1 Zeitungsseite-Anzeige
in FAZ, SZ, Welt, WamS, Bild, BamS etc. "Auch wir sind das Volk!", in dem die "mutige Reformpolitik" der Regierung Schröder & Fischer gepriesen, also für Agenda 2010 + Hartz-Gesetze trompetet wurde, mit Günter Grass an der Spitze im Verbund mit Müller-Westernhagen und Friends, vor allem aber mit Josef Ackermann/Deutsche Bank, den Vorständen von Bahn, Telekom, Stahl und Chemie, Arbeitgeberverbänden (vor allem Metallindustrie + INSM) und BDI. Derselbe Bissinger macht nun, nach eigenen Vorbildern, ein Interview mit dem immer noch namhaftesten deutschen Schriftsteller, seit 1961 als SPD-Trommler, de facto Repräsentant des rechten Kanalarbeiter-Flügels der SPD ausgewiesen, schon Ende der 1960er mit der "DraDra"-Großintrige gegen Heinar Kipphardt und die Münchner Kammerspiele im Verbund mit dem damaligen OB Dr. Vogel einschlägig geübt. Er folgt damit nicht nur dem Exempel seines damaligen Knüllers "Das Große Geld für Schröders Agenda"
(s.o.), sondern auch des ebenso konzipierten Clous Grass mit Schröder-Fischer-Scharping und BILD für den völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien, genannt "Kosovo-Krieg".

Wendetäter als Ankläger
Ziemlich direkt nach dem sog. "Asylkompromiss", also dem Verrat der
Engholm-Glotz-R.Schmidt-SPD im Verbund mit Bundesinnenminister Schäuble an Hunderttausenden Flüchtlingen und nicht zuletzt der eigenen Verfolgungs-geschichte, programmrhetorischen Humanität und Internationalität, der UN-Charta, einem zentralen Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, als unsereiner (so etwa Georg Kilian, Gabi Haussleiter, Walter Gierlich, Birgit Lang, Thomas Heckenstaller und ich) aus der SPD austrat/en, da trat auch Grass aus dieser seiner Partei, ja eigentlichen Mentalgemeinschaft, aus – natürlich mit bundesweit donnerndem Applomb, um schon kurz darauf wieder für Gerhard
& Doris die nächste Bundestagswahl-Werbeinitiative in Gang zu setzen, manifestiert in einem Volksfest in der Dortmunder Westfalenhalle, wo der Dichterfürst längere Passagen der Relation von Älterwerden und Haarefärben widmete, streng auf Nobelpreisniveau..


Und so ist es geblieben. Ein neueres Beispiel: Einer der sonst sehr respektablen Gegenwartsgeister, leider ein wenig zu eitel, der Doktor Tilmann Spengler, rühmte sich anlässlich einer Lesung hier in Münsing eines nächtlichen Currywurst-Mampfs in Lübeck mit Altkanzler Schröder am Rande der Fete
zum 85. Geburtstags von Grass 2013. Ja, mit dem Agenda-Anrichter privatim
zu verkehren, das krönt hierorts noch immer selbst für bedeutend geltende Geister, wieso also nicht Grass?


So schließen sich die Kreise. Und in solchem Kreis ist Bissinger immer mittenmang, immer auf der Klaviatur kanaliger Netzverbindungen, mit denen Grass-Winde (was sag ich: -Stürme) vor Bundestagswahlen auf die Titelseiten
zu bringen sind: pro Krieg, pro Hartz, pro SPD-Rechtskurshalter von Münte bis Steinmeier & Co. Termin und Personal und Strippen sind die gewohnten. Nostalgiker mit Grass-Selbsttäuschungserfahrungen wie ich hätten vielleicht gerade jetzt doch erwartet oder wenigstens erhofft, der renommierte Großliterat werde sich wg. Freiheit des Geistes und informationeller Selbstbestimmung wie auch Schutz des Individuellen zum globalen NSA/BND-Abhör-Abgreif-Daten-skandal äußern. Tja, aber der wurde erst manifest, als der Sommer- und Vorwahl-Knüller noch in Arbeit, der Großgeist samt Bissinger also anderweitig gebunden war.


Ja, alles ganz nach Kurt Tucholskys Erkenntnis:
"Wie sich der kleine Moritz die große Politik vorstellt – genauso ist sie!"


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Interessant, vor allem uneingeschränkt schamlos, dass ohne jeden personali-sierbaren Anlass wieder mal kein geeigneterer Anlasslieferant als der vor und
bei dem diesjährigen SPD-Desaster überhaupt nicht öffentliche, nicht mal kommentierend beiteiligte, geschweige spektakulär die SPD etwa attackierende Oskar L. herhalten muss. Jedoch: Wer sonst, wenn's darum geht, dass alles schön titelseitengriffig und boulevardverwendbar abläuft? Sein Rücktritt seinerzeit als Bundesfinanzminister aus dem wahlprogrammverhöhnend-wortbrüchigen Schröder(/Blair)-Kabinett war also der "schmierigste Verrat", den je ein Politiker begangen habe.


Als der von Grass zu Recht oft gerühmte Gustav Heinemann ebenfalls aus inhaltlichen Überzeugungsbekenntnis und wegen Programm- und Eidesverrats seines Kanzlers aus Bundesregierung und CDU austrat, um später zur (damals noch Willy-Brandt)-SPD zu finden, da war das nicht nur für den Grass eine Ruhmestat. Von Oskar L. behauptet Grass, dieser habe hinfort eine Regierung unter SPD-Führung verhindert – schändlich, schädlich, schäbig. Er weiß trotz Altersverranntheit natürlich ganz genau, dass dieser Oskar, keineswegs zu ungeteilter Freude seiner Kombattanten, jedesmal, wenn es um Regierungs-mehrheitsbildungen geht, die Unterstützung der Linken offeriert: Entweder
als Koalitions- oder als Tolerierungspartner. Jedesmal!


Wer also verhält sich  hier "schmierig": Die im Bund mit Grass jedesmal ihr Grundsatz- und natürlich aktuell ihr jeweiliges Wahlprogramm verraten? Oder jener, der aus Abscheu vor eben diesem Verrat seinerzeit seine Mitwirkung
daran versagte? Die Antwort ist ganz klar.


Edelfeder-Journalismus:
unabhängig, überparteilich

Aber nun kommt noch eine bundesrepublikanisch notorische
Kontinuität zum Tragen, die der Bissinger kennt und nutzt. Er hat sie hinreichend mitbewirkt:


Jene Medien, die Tag für Tag und Jahr um Jahr jedes Konzept, jedes Projekt, weithin gar Reden, Auftritte, Erklärungen von Repräsentanten der Partei und Fraktion "Die Linke" verschweigen, unterdrücken, unerwähnt lassen – die haben sofort ganze Seiten und ganze "Dokumentations-" bzw. Magazin-Beiträge bereit, wenn sich in, an, bei dieser Partei eine Panne, ein Irren, ein Streit aufbauschen lassen. So die geliebte SZ.

Nur auswahlweise: zuletzt zweimal im Bayernteil. Einmal zu einem kryptischen Denunziationspapier, das aus obskuren Quellen, ohne Verfasser/Absender an niemanden, keine Gliederung, kein Gremium, auch kein Medium ging, nur so
in irgendwelchen Münchner Basisgründen kursierte. Und einmal bei dem Streit-Solo eines kurz amtierenden Kassierers, der etwas von getürkten Mitgliederzahlen und mißbräuchlichen Delegiertenschlüsseln verlautete, nach sofortiger Nachprüfung und Richtigstellung durch Bundesgremien und Schiedskommission widerlegt und dafür längst aus der Partei gedrängt. In beiden Fällen füllte die Süddeutsche wochenlang ganze Rubriken, diverse Großartikel, meist im Format 2/3-Seite, dazu noch ein Ganzseiten-Interview – und solches in kampagnenartiger Dimension. Nach der nächsten Bundes-tagsdebatte wieder en suite: Kein Antrag, keine Parlamentsrede der Linken,
die der Erwähnung teilhaftig geworden wäre. Keine Meldung über Presse-erklärungen, Parteitage, Beschlusslagen, Programminhalte dieser Partei. Viel,
ja ständig Berichterstattung über politische Äußerungen aus dem Einheits-meinungs-Kartell von CDU-CSU/SPD/FDP/B'90-Grüne. So etwa Rosa-Olivgrün zum Mindestlohn – Zentralthema in Bericht, Feature, Kommentar. Doch so gut wie keine Berichterstattung dazu, als zwei Jahre zuvor eben diese Forderung erstmals von der Linken erhoben, dann zweimal als Antrag im Bundestag eingebracht – und zweimal von der SPD abgelehnt wurde.


Aber nach 14 Jahren über "schmierigen Verrat" des Oskar Lafontaine aus dem Mund des Kriegs- und Sozialabbau-Befürworters Grass: das ist aber mal eine Zeitungstitelseiten-Aufmachergeschichte. So agiert und wirkt die Konzernpresse heute, und die öffentlich-rechtlichen Medien werden folgen – so wie zu der lächerlichen "Strafanzeige" gegen Gysi wg. „Uneidlicher Falschaussage“ ohne den Hauch eines belastbaren Indizes die Medien volle drei Wochen erzitterten, mit immer neuen Zeugenschaften der einschlägig ausgewiesenen Lengsfeld & Knabe Wendegewinner, Springer-Denunziationen, LOCUS/Cicero- "Interviews", Nachahmer-Auftritten und, und, und. Bis die Sau irgendwann doch einmal durchs Dorf war, von der heute, also vor der Bundestagswahl, für die das Ganze nur inszeniert war, keiner mehr spricht.

Jetzt ist wieder der Oskar dran. Anlass: kein greifbarer, nur termingerechter. Vorgang: verfälschungsgeeignete volle 14 Jahre zurück. Zweck: völlig klar. Bewertung: extra schmierig. Nichts ist so dünn, so peinlich, so verzerrt, dass bei Bedarf daraus nicht Scheißdreck gequirlt und als News-Dinner serviert würde.


Grass verachtet öffentlich die BILD-Kloake. Doch er bedient sie zuverlässig.

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Dazu auf den NachDenkSeiten vom 13.8.2013 / 14:41 Uhr
von deren Urheber und Hauptherausgeber Albrecht Müller, SPD-MdB a.D.
Denkfabrikchef des Bundeskanzleramts z.Zt. der Kanzler
Brandt und Schmidt:

 

   Grass lässt sich wieder in eine Kampagne einspannen.

   Diesmal besonders komisch: zugunsten Merkels Machterhalt.
 

Günter Grass meint in einem von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Gespräch mit Manfred Bissinger, Lafontaine sei ein „Hemmnis“ auf dem Weg zu einem möglichen Bündnis zwischen SPD und Linkspartei. Lafontaine halte die Linkspartei mit seiner „Verweigerungsstrategie“ davon ab, Verantwortung zu übernehmen. Diese Attacke ist aus vielerlei Gründen absurd. Zum einen gab es diese Verweigerungsstrategie nie, sie war immer nur behauptet, von außen und von innerparteilichen Gegnern des früheren Vorsitzenden der Linkspartei; zum anderen kann Oskar Lafontaine schon deshalb kein Hemmnis mehr sein, weil er bundespolitisch – leider – keine entscheidende Rolle mehr spielt. Die abstruse Fehleinschätzung des Günter Grass passt gut ins Bild eines Intellektuellen, der gar keiner mehr ist. Er analysiert nicht eigenständig und macht sich zum Opfer clever angelegter Kampagnen. Das kam in den letzten 40 Jahren des Öfteren vor. von Albrecht Müller.

„Günter Grass rechnet mit Lafontaine ab“ – das ist die – ironisch angemerkt: ungemein aktuelle -Schlagzeile der heutigen Süddeutschen Zeitung. Eine Kurzfassung der aggres- siven Äußerungen zu Lafontaine findet sich in diesem Aufmacher. Das Interview selbst ist elektronisch nicht verfügbar. Es enthält aber einige erstaunliche Fehleinschätzungen und Widersprüche:

Zum Beispiel: Günter Grass beklagt, wir würden „weltweit gerade einen Höhepunkt
der Bereicherung auf der einen und der Verarmung bis hin zur Verelendung auf der anderen Seite erleben“ und lobt dann Schröders Agenda-Politik als mutig und als überfällige Weichenstellung. Vermutlich durchschaut Grass gar nicht, dass die Agenda-Politik in Deutschland wesentlich zum Ausbau eines Niedriglohnsektors und damit zur Verarmung beigetragen hat. Konsequenterweise sieht er auch den Zusammenhang zwischen Agenda 2010 bedingter Niedriglohnpolitik bei uns und der Verarmung und Verelendung in südeuropäischen Staaten nicht.

 

Zum Beispiel: Besonders drollig ist die Vorstellung des 85-jährigen Schriftstellers zur möglichen Revision grundlegender gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Ich zitiere eine längere Passage:
„Schröder hat mit der Agenda-Politik Mut bewiesen, aber nicht die Nerven gehabt, dieses Programm gleich bei den ersten Schwachstellen, die sich sehr rasch bemerkbar machten, zu korrigieren“.
Und weiter:
„Ich bin ein eingefleischte Revisionist und weiß, dass alles, auch jedes Unrecht, das durch eine Reform beseitigt werden soll, sofort ein neues Unrecht schafft. Die Reformer müssen dann offen dafür sein, dies zu erkennen und zu korrigieren.“


Wie soll denn das gehen, Günter Grass?

  • Erst die Arbeitslosenversicherung mit den Hartzgesetzen de facto abschaffen
    und dann durch Revision wieder einführen? Grass übersieht die Zerstörung der sozialen Sicherung durch de facto Abschaffung der Arbeitslosenversicherung.
    Mit kleinen Revisionen lässt sich die grundsätzliche Schwächung der Arbeitnehmerschaft und der Gewerkschaften durch die Agenda 2010 nicht revidieren.

     
  • Erst Arbeitsverwaltung weitgehend kommerzialisieren und dann wieder korrigieren? Wie soll das gehen? Herrn Weise wieder in die Wüste schicken?
    Die Gebäude und das konservative Personal der Arbeitsagenturen wieder einreisen?

     
  • Erst die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung systematisch
    und in mehreren Schritten verringern, die Privatvorsorge mit Zulagen und steuerlich fördern, und dann wieder zurück? Grass hat die Dimension der Veränderungen nicht begriffen. Sein Schwadronieren von der Revision ist leichtfertig.

     
  • Zuerst Leiharbeit fördern, entsprechende Unternehmen durch gesetzliche Förderung aufbauen, dann sagen: Pustekuchen. Wie stellt sich Grass das vor?
     
  • Öffentliche Unternehmen privatisieren und dann verkünden: wir haben uns getäuscht?
     
  • Kommunale und landeseigene Wohnungsbestände an Hedgefonds verkaufen
    und dann, wenn die Mieter dafür blechen müssen, verkünden: es tut uns leid,
    wir sind Revisionisten und revidieren?

Diese Vorstellungen von politischen Abläufen und Möglichkeiten eignen sich fürs Kabarett, aber nicht für die politische Wirklichkeit. Durch die Schrödersche und die vorherige Kohlsche Reformpolitik wurden und werden Fakten geschaffen. Nicht
einmal die Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen, die Schröder im Rahmen seiner Agenda-Politik zum 1.1.2002 eingeführt hat, ist bisher revidiert worden. Man muss ein paar Fakten parat haben, selbst dann, wenn man nur ein Revisionist sein will.

Auch die Angriffe auf Lafontaine wegen seines Rücktritts im Jahr 1999 führt Günter Grass ohne Rücksicht auf die Tatsachen. Er behauptet, Lafontaine habe damals
„eine Wende um 180° inszeniert“. Offenbar hat Günter Grass keine Ahnung von den damaligen Bewegungen und Kampagnen:

  • Er hat nicht mitgekriegt, dass Schröder noch vor der Wahl zum Bundeskanzler und ohne Rücksprache mit dem Vorsitzenden seiner Partei, Oskar Lafontaine,
    den USA die Beteiligung am Kosovo Krieg zugesagt hat.
  • Grass hat offenbar nicht mitgekriegt oder verdrängt, dass Oskar Lafontaine als Bundesfinanzminister Regulierungen der Finanzmärkte in internationale Verhandlungen eingebracht hatte und deshalb auch von ausländischen Institutionen und Medien heftig attackiert wurde, zum Beispiel vom Blatt des
    – in der Sprache von Günter Grass: schmierigen – Medienunternehmers Murdoch, der britischen „SUN“. Das Blatt nannte den deutschen Finanzminister und SPD-Vorsitzenden den gefährlichsten Mann Europas.

Von einer Wende um 180° durch Lafontaine kann keine Rede sein. Und wenn damals
ein „schmieriger Verrat“ – so der Vorwurf von Grass an Lafontaine – stattgefunden hat, dann von Seiten Schröders und seiner Freunde an den Werten der SPD. Konsequenter- weise haben damals mehr als 40% der SPD- Mitglieder die Partei verlassen.

Dass Günter Grass entgegen den Fakten heute Falsches über Lafontaines Rücktritt behaupten kann, verdankt er einer fast schon wasserdichten Kampagne gegen Oskar Lafontaine und für Militäreinsätze und für die so genannte Reformpolitik. Dass Lafontaine hingeschmissen habe, dass er seine Partei verraten habe, ist tausendfach
und im Verein von Rechtskonservativen, Sozialdemokraten und den dazugehörigen Medien in die Köpfe der Menschen gehämmert worden.

Wenn Günter Grass gegen Ende des Gesprächs feststellt, die „freiwillige Preisgabe einer unabhängigen und widerspruchsvollen Pressekultur sei zur Zeit die größte Gefahr die unserer Demokratie droht“, kann man angesichts seiner eigenen Medienabhängigkeit und Nutzung von Kampagnen dieser Medien nur noch weinen.

Günter Grass (1927-2015), Literatur-Nobelpreisträger, Präzeptor Germaniae, vor und nach SPD-Ein-/Austritt unverbrüchlich treuer SPD-Propagandist,

zu vorletzt im Verbund mit den Größen des deutschen Großkapitals unter Bissingers „Auch wir sind das Volk!“ für Schröders „Agenda 2010“ und Hartz- Gesetze, davor für den völkerrechtswidrigen, strafrechtswidrigen,  grund-gesetzwidrigen NATO-Überfall auf Jugoslawien und dessen Zivilbevölkerung – Grass der Große verstarb am 13. April 2015. Seine Beisetzung fand im engsten Familienkreis nichtöffentlich statt. Am 10. Mai 2015 vollzog sich eine offizielle Trauer- und Gedenkfeier, bei welcher „900 Repräsentanten aus Politik und Kultur“ (man beachte die Reihung in den Leitmedien) sich und dem Verewigten die Ehre gaben.

An deren Spitze als Gedenkredner: Bundespräsident und Weltverantwortungs-übernahme-Einpeitscher Joachim Gauck, 
Kultur-Staatsministerin Monika Grütters (CDU), Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) und Pawel Adamowicz (Katholische Bürgerplattform Polens), Bürgermeister von Gdańsk (Danzig), Träger des päpstlichen Ordens Pro ecclesia et pontifice. In der ersten Reihe figurierten die repräsentativen Sozen Vizekanzler Sigmar Gabriel, Altkanzler Gerhard Schröder, 1. BGM Hamburgs & SPD-Generalsekretär a.D. Olaf Scholz.


Ein Heinrich Böll, Günter Eich, Max Frisch, Peter Weiss hätten sich solche Grabgäste wohl testamentarisch verbeten, wären sie je auf den Gedanken gekommen, solchen Ehrengeleits teilhaftig zu werden. SZ-Headline zu all
dem, wie immer voll im Zeitgeist: „Vom Störenfried zum Staatsdichter.“ 

Ungeheuer oben

 
Auszug Notizen Post-Günter-Grass
                                                                                                        von Franz Dobler


Ich habe so mit achtzehn „Die Blechtrommel“ gelesen, vermutlich weil ich
gehört hatte, der Roman sei nicht nur bedeutend, sondern skandalös. Ich las
nie wieder ein Buch von Grass. Von Neuerscheinungen habe ich mal paar
Seiten gelesen, weil man manchmal wissen will, wie der deutsche Top-Autor
so schreibt; ich war immer desinteressiert bis fassungslos. Ereignisse wie Nobelpreis, SS-Geständnis, Israel-Gedicht bekam ich natürlich mit.


In dreißig Jahren Betriebszugehörigkeithabe ich eine Menge Schriftsteller kennengelernt. Egal, ob sie underground oder etabliert waren: Ich kann mich nicht an eine einzige Stimme erinnern, die gesagt hätte, wenn’s drüber ging,
wen von den Älteren man gut findet: Grass! Was mir seltsam vorkommt, wenn man sich die riesige Resonanz zu jedem Grass-Buch oder nach seinem Tod ansieht. Sagen immer nur befreundete Autoren und Empfänger eines Grass-Stipendiums was Nettes? Und ist die irre Beachtung des Feuilletons nur ein besonders krasses Beispiel für die Kluft zwischen Literaten und Literatur-verwaltung/-kritik? Keine Ahnung.


Der Bedrohte

Warum ich’s nie schaffte, noch mal mehr Grass zu lesen, ist mit dem gesagt,
was Gerhard Henschel zu dessen Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ 2006 schrieb (nachzulesen in Henschels Sammlung „Beim Zwiebeln des Häuters“): „Als die Geschichte“ mit der Waffen-SS »an den Tag gekommen war, verfinsterte sich leichtfertigen Medienkonsumenten selbst die Aussicht auf ein grassfreies Viertelstündchen“. Während Grass verkündete, „dass die Kontroverse für ihn selbst ›existentiell bedrohliche Ausmaße angenommen“ habe. Kommentar Henschel: „Es gibt nicht viele Menschen auf Erden, die existentiell weniger bedroht sind als Günter Grass. Ungeheuer oben thronend aber greint er, sobald ihm jemand widerspricht, dass man ihn zu vernichten trachte.“


Und dann die Grass-Zitate, nur ein Beispiel: „Danach ist immer davor. Was
wir Gegenwart nennen, dieses flüchtige Jetztjetztjetzt, wird stets von einem vergangenen Jetzt beschattet, so dass auch der Fluchtweg nach vorne, Zukunft genannt, nur auf Bleisohlen zu erlaufen ist.“ Henschel stimmt der Einschätzung von Eckhard Henscheid zu, dass „ausgerechnet der altbackenste, penibelste, moralinhaltigste, vereinsmeierlichste, autoritätsfixierteste und ängstlichst hierarchiebedachteste Schriftsteller der zweiten Jahrhunderthälfte (...) als barock und berserkerhaft, als üppig und revoluzzig, als anarchisch und häretisch, in summa: als humoristisch fehlkatalogisiert wurde und mitunter noch wird ...“

Und Grass hatte auch noch Martin Walser als Verteidiger: „Der Mündigste
aller Zeitgenossen kann sechzig Jahre lang nicht mitteilen, dass er ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch.“ Worum’s tatsächlich geht, erwähnt Henschel am Anfang: „In welcher Uniform
er im Frühjahr 1945 herumgelaufen ist, wäre unerheblich, wenn er bis zum Versand der Rezensionsexemplare kein Geheimnis daraus ... gemacht hätte.“


Was war mit Kipphardt?

Nicht bei Grass’ Tod, sondern nach dem Lesen von paar Nachrufen, erinnerte
ich mich ganz vage an Geschichten, von denen da nichts erwähnt wurde und dachte, da suchst du mal rum. Hätte ich wohl nicht tun müssen, wenn ich die von Klaus Bittermann herausgegebene Sammlung „Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebs-intriganten Günter Grass. Unser Ständchen zum 80. Geburtstag“ gekannt hätte. War da nicht was mit Heinar Kipphardt?
Der im Verlagstext zu diesem Anti-Grass-Buch so zitiert wird: G.G. sei einer, „der mit der SPD in alle Arschlöcher kriecht, in das des Papstes inklusive“.
Hart, aber warum?


Auf der Webseite der Münchner Kammerspiele ist der Fall dokumentiert http://100mk.de/dra_dra.html). 1971 wurde dort das Biermann-Stück
„Der Dra-Dra“ aufgeführt; „diese Drachentöterparabel handelt von einem furchterregenden Drachen, der das ganze Land arm frisst und das Volk terrorisiert.“ Chefdramaturg Heinar Kipphardt war für das Programmheft presserechtlich verantwortlich, in dem (nicht er, sondern:) Dramaturg H. und Regieassistent G. „24 Fotos von westdeutschen Machthabern aus Wirtschaft, Politik und Publizistik als symbolische Drachen“ abbilden wollten, darunter Münchens SPD-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Die Idee wurde jedoch „aus juristischen Bedenken« nicht ausgeführt – und kam dennoch an die Öffentlichkeit, zum Oberbürgermeister, zu Grass, der zum Hauptredner der dann folgenden Debatte wurde. „Am Ende wurde Kipphardts Vertrag mit den Kammerspielen vom Münchner Kulturausschuss nicht verlängert, obwohl August Everding (damals Generalintendant) ihn gern an seinem Haus behalten hätte. Die Drachen spielten ihre Macht aus. Der Denunziant ist bis heute nicht bekannt. Kipphardt musste unter großem Protest des Ensembles und von Kollegen die Kammerspiele verlassen.“


Kipphardt hatte geschrieben: „Jemand könnte fragen: Wenn nun diese gemeingefährliche Bekanntgabe von Kapitalmacht und deren Interessen-vertretung glücklicherweise gar nicht veröffentlicht wurde, warum veröffent-lichte das dann Günter Grass? Und wieso hat er gekannt, was nicht erschienen ist?“ Laut Der Spiegel 22/1971 hatte Grass in der Süddeutschen Zeitung behauptet: „Mein Schriftstellerkollege Heinar Kipphardt (...) ist unter die Hexenjäger gegangen“; er sei „dumm und gemeingefährlich“ und „ein Denunziant“, der „schlimmste deutsche Tradition“ fortsetze. Grass machte damit „etwas existent, das zuvor nicht existierte“, hieß es im Spiegel. Etwas, das nicht existierte, interpretierte Hans-Jochen Vogel dann als Aufforderung „zur Ermordung des Oberbürgermeisters“. Ist lange her (und es war noch lange hin bis zu Grass’ SS-Outing), jedoch: „bis heute etwa behauptet Günter Grass wider besseres Wissen, dass Kipphardt Anfang der 1970er zur Ermordung von SPD-Politikern aufgefordert habe“, schrieb Jörg Sundermaier in der taz vom 30.3.2013.

In Kahls Zeichenschule

Ich hatte noch eine (womöglich verdrehte) Erinnerung: War da nicht auch was mit dem Zeichner Ernst Kahl? Hatte er den Künstler bzw. Aquarellisten Grass nicht mal parodiert? Ich machte mich an die Arbeit, in meiner mies geordneten Bibliothek nach Kahl-Veröffentlichungen zu suchen. Kam einiges raus; und

dass ich die Seite 3 von Konkret, die jahrelang je ein Kahl-Werk brachte, jahrelang kopiert und gesammelt hatte). Schließlich konnte ich mich mit dem Katalog »Kahlschläge« von 1991 beruhigen.

Darin präsentiert Ernst Kahl auf S. 104 den „Volkshochschulkurs Zeichnen wie
G. Grass in Kalkutta“
. Das erste von sechs Panels ist ein Zeitungsfoto: Auf dem

Schoß einer Madonna-ähnlichen Frau sitzt ein Kind, auf dessen Kopf ihre schützenden Hände liegen. Dann beginnt der Zeichenschule-Text: „Nicht jede(r) hat Zeit, bzw Geld, sich vor Ort ein Bild zu machen. Ihr/ihm sei empfohlen, eine Vorlage aus der Zeitung zu benutzen.“ Dieses Foto wird im zweiten Panel mit den ersten Strichen nachgemalt: „Wir beginnen mit der zarten Umrisszeichnung auf handgeschöpftem Bütten. Dazu verwenden wir den Stift mit Rattenkötelmine ...“ Mit jedem Panel wird das Bild sozusagen fertiger, bis am Ende ein Aquarell
à la Grass, das obendrein Geschriebenes enthält, vollendet ist: „Um Papier zu sparen und um dem Ganzen formalen Halt zu geben, schreiben wir uns unsere Betroffenheit von der Seele direkt ins Bild. Nun geben wir es in einen schlichten Goldrahmen und lassen’s etwas ziehen. Fertig!“

Gröschatz des Tages: Günter Grass

Das Nobelkomitee verleiht seinen Friedenspreis an Barack Obama,
bekannt durch persönliche Listung von Zielen illegaler Drohnenmorde
und Betreiber von Folterstätten. Oder an die EU, einen Zusammenschluß, der den Großteil der Bevölkerung Osteuropas in Elend gestürzt hat, stets neue Rekordzahlen an Arbeitslosigkeit produziert, aber Zehntausende junger Leute in Kriege schickt zur Sicherung »unserer« Handelswege etc. Das Nobelkomitee verleiht nach analogen Maßstäben auch seinen Preis
für Literatur an Leute wie Herta Müller oder Günter Grass. Der läßt z. B. einen grammatikalisch ungekämmten Satz drucken wie: »Es gab in der sozialdemokratischen Partei keinen schmierigeren Verrat, wie den von Oskar Lafontaine an seinen Genossen.«


Die literarische Kostbarkeit schaffte es in ein Interview, das der Preisträger mit dem Publizisten Manfred Bissinger für ein Buch führte, das im September unter dem Titel »Was würde Bebel dazu sagen?« erscheinen soll. Eine Wie- oder Als-auch-immer autorisierte Kurzfassung des Gesprächs druckte die Süddeutsche Zeitung am Dienstag, und von dort fand der Satz seinen Weg in die Abendnachrichten der deutschen Fernsehkanäle, wurde in Rundfunknachrichten hoch gehandelt und lieferte der Süddeutschen Zeitung die Schlagzeile auf Seite eins: »Günter Grass rechnet mit Oskar Lafontaine ab«.

Ja, wie oder alsdann? Denn in dem Gespräch steht außer dem stilistischen Ausrutscher bei der Verwendung eines Vergleichswortes nach Komparativ sonst nichts drin. Kein Wunder, daß der Lapsus beim größten Schriftsteller aller Zeiten (Gröschaz) deutsche Redakteure aufregt. Allerdings meint Gregor Gysi einschränkend: Grass bleibe »einer« unserer größten Schriftsteller. Das gibt demnächst noch ein Grass'sches »schmieriger wie«.

                                                                                                          (asc)

 

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© Klaus Ulrich Spiegel