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der Meisterschaft
Zum Vermächtnis eines Jahrhundert-Sängers:
Paul Althouse
Die akustisch dokumentierte Historie der
Wagner-Interpretation in ‚Amerika beginnt etwa 15 Jahre nach der Eröffnung der New Yorker Metropolitan Opera, also nahezu gleichzeitig mit der Verfügbarkeit von Vokalmusik auf Tonträgern. Früher als
in den europäischen Musikmetropolen, nämlich schon 1901-03, kamen erste Mitschnitte (sogar live von
Aufführungen in Starbesetzungen, wenn auch von grauenvoller Klangqualität) aus der Met in den Handel - man kann sie noch heute in LP-Überspielungen mehr erleiden als erleben.
Im Metropolitan Opera House, eröffnet 1883, waren schon ab der zweiten Season und dann für acht Jahre (bis zum „Golden Age Of Belcanto“) vorrangig Werke des deutschen Repertoires aufgeführt - von
Mozart und Gluck über Weber, Beethoven, Goldmark bis zum an Zahl und Besetzungsprominenz alles über-strahlenden Richard Wagner. Mit für Traumgagen aus Übersee engagierten frühen Wagner-Bühnenstars,
unter ihnen Solisten der Uraufführungen von RING 1876 und Parsifal 1882 wie Materna, Lehmann, Brandt, Niemann, Vogl, Jäger, Elmblad, Reichmann, später mit Schumann-Heink, Nordica, Gadski, Fremstad,
Walker, Dippel, Burgstaller, Hensel, Jörn, Whitehill, Goritz, Soomer, Bohnen ... New York blieb auch während der folgenden Jahrzehnte eine Hochburg authentischer Wagner-Interpretation durch epochale
Fachvokalisten unter bedeutenden Orchesterleitern wie Leopold Damrosch, Anton Seidl, Gustav Mahler, Ernst von Schuch, Felix Mottl, Arturo Toscanini …
A Golden Age of Wagner
Ungeachtet der historischen Geltung der Met als Spielstätte des Standard-repertoires mit italienisch-französisch-slawischen Werken (bis zu US-amerika-nischen
Uraufführungen), blieben Wagners Musikdramen zentraler Teil der New Yorker Programmangebote. Dies beständig mit interkontinentaler, nicht zuletzt auch Bayreuther Sängerdarsteller-Prominenz. Als Folge
von Weltkriegs-, später auch Faschismus-Zugriffen auf die europäische Kulturszene gelangten in den Folgejahren zahlreiche Spitzeninterpreten gerade aus diesen Genre - meist als Folge politischer und
rassistischen Motive - dauerhaft nach Nord- (und teilweise auch Süd-)Amerika.
Vom Beginn der 1930er Jahre an bildete sich mit ihnen ein fast ständiges „Wagner-Ensemble“, mit dem für die nächsten 15 bis 20 Jahre - ergänzt immer häufiger durch amerikanische Sänger/innen - nahezu
alle Wagner-Aufführun-gen des Hauses besetzt waren - so mit Lotte Lehmann, Frida Leider, Elisabeth Rethberg, Kerstin Thorborg, Karin Branzell,. Friedrich Schorr, Herbert Janssen, Eduard Habich,
Julius Huehn, Gustav Schützendorf, Karl Laufkötter, Alexander Kipnis, Emanuel List, Dezsö Ernster. Nimmt man die gefragtesten Starsänger daraus in den Blick, ragen unter Dutzenden
Weltrangprotagonisten der Met-Historie zwei Jahrhundert-Tenöre heraus, die nach Rangzuweisung, Präsenz-dauer, Folgewirkungen, Popularität so hohe und beständige Geltung behielten, dass sie - bis
heute - für ganze Epochen des New Yorker Opernbetriebs stehen: Enrico Caruso, „tenore italiano massimo“ (Met 1903-1920),
und Lauritz Melchior, „greatest Wagnerian tenor oft he
century“ (Met 1926-1950).
Ensemble-Kollege zweier Giganten
Beide Sänger standen während ihrer Metropolitan Opera Connections im Zentrum jeweils umfassend großer Star-Ensembles,
darunter bedeutende andere mit ihnen konkurrierende Tenöre. Darin ereignete sich der seltene Fall eines Erstfach- und Erstrang-Tenors von kontinentaler Bedeutung, der in zwei von einander getrennten
Teilen seiner eigenen Karriere am Metropolitan Opera House wirkte - nicht als direkter Wettbewerber, aber als respektabler Fachkollege mit eigenem künstlerischem Profil. Dieser Sänger, ein Vertreter
mehrerer Tenor-fächer, vom Lirico bis zum Drammatico und zugleich Charakter-Vokalist, vor allem zentraler Wagner-Interpret, war der Deutschamerikaner Paul Althouse. Auch
ihm kommt der historische Rang eines Jahrhundertsängers, wenngleich mit eigener individueller Ausprägung, Laufbahn, Wirkung zu. Sein archivarisches und mediales Nachleben auf neueren Tonträgern in Katalogen des europäischen Fachhandels lässt seit Jahrzehnten zu wünschen übrig. Dem will diese Sammlung des Hamburger Archivs - wenigstens ansatzweise - abhelfen.
PAUL ALTHOUSE - Tenor
* 2. 12. 1889 Reading/Pennsylvania - †
6. 2. 1954 New York City
Als Kind deutscher Einwanderer wuchs er in gutsituierter Bürgerlichkeit auf.
Der kleinstädtische örtliche Schulunterricht war von deutscher Kulturtradition geprägt. Der kleine Paul sang als Boy Soprano im Chor der örtlichen Epiopal Churc. Dort erhielt auch der Jüngling erste
Stimmbildungs-Lektionen. Rasch entfaltete er eine auffällig gut platzierte Naturstimme. Seine Lehrerin Evelyn Essick brachte ihn zu ausgewiesenen Gesangspädagogen: zu Perley Dun Aldrich in
Philadelphia, schließlich zu Oscar Saenger in New York. Die Wirkung erwies sich bald: 1911 wurde der fertig ausgebildete junge Tenor als Anfänger von der Philadelphia Opera angenommen. Sein
Bühnendebüt ermöglichte ihm diese bei einem Gastspiel am Zielort jeder amerikanischen Sängerkarriere: in New York City in der Titelpartie von Gounods Faust.
Sein Erfolg war durchschlagend. Schon nach zwei Jahren Opernalltag in Phila-delphia kam er
ins Starensemble der Metropolitan Opera, diesmal nicht in einer Partie des italienisch-französischen Fachs – sondern, neben Adam Didur und Margarete Ober - 1913 als Grigorij in der US-Premiere von
Mussorgskijs Boris Godunov. Sieben Seasons lang blieb er an der Met und etablierte sich dort als italienischer Lirico-spinto und
eine Art Spezialist für "interessante" Partien, etwa in Uraufführungen amerikanischer Opernwerke von Herbert, Koven, Breil und Shawenis.
Interkontinentale Karriere-Expansion
Paul Althouse war also zwischen 1911 und 1918 eher ein Adept des ungekrönten Met-Königs
Enrico Caruso, noch nicht des Monolits Melchior. Nach sieben New Yorker Seasons und einigen
Gastspielen an amerikanischen Häusern beendete
er sein siebenjähriges Met-Engagement und wechselte für eine internationale
Karriere nach Europa, mit Auftritten im italo-französischen Fach und in Werken der deutschen Klassik, vor allem an den wichtigen deutschen Bühnen, auch an der Staatsoper Berlin. Erst Ende der 1920er
Jahre, angeblich unter dem Eindruck eines Bayreuth-Besuchs, vollzog er den Wechsel zu den Heldenpartien Wagners. Mit ihnen kehrte er dann triumphal in die USA zurück.
Nach Auftritten als Tannhäuser & Siegmund 1930 in San Francisco erhielt er einen
zweiten Vertrag an die Met, an der er nun wiederum sieben Jahre wirkte und neben der übermächtigen Gestalt Melchiors als Wagner-Tenor bestehen konnte. Sein Rollenspektrum reichte jedoch deutlich über
das des großen Dänen hinaus. Es umfasste neben den Wagner-Partien Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Stolzing, Froh, Loge, Siegmund und Siegfried: Mozarts Tamino; Webers Oberon; Mascagnis Turiddu;
Puccinis Cavaradossi und Pinkerton; Massenets Nicias in Thais; Mussorgskijs Grigorij
im Boris Godunov; Borodins Vladimir im Knyaz Igor; von Richard Strauss: Aegisth in Elektra und der Italienische Sänger
im Rosen-kavalier; Uin-San in Franco Leonis L’Oracolo; schließlich Lefèbre in der Urauffüh-rung von Umberto Giordanos Madame Sans-Gène, bei Gastspielen auch als Verdis Radames, Wagners
Parsifal und Saint-Saens‘ Samson. Dazu US-amerikanische Raritäten: den Lionel in The RobinWoman von Nelle Shanewis; den
Squire in Reginald De Kovens Canterbury
Pilgrims; den Steven in The Legend von Joseph Carl Breil; Francois in Victor Herberts Madeleine.
Paul Althouse war zugleich ein in ganz Amerika, immer öfter auch im Konzert-saal, vielgefragter Gast-Tenor für universelle Aufgaben. Allein im Verband der Met trat er in zwei Gala-Performances und 34
Konzerten auf. Insgesamt stand er in 263 Aufführungen auf der New Yorker Bühne. Ab den 1920ern gastierte er in Chicago, San Francisco, Boston, Philadelphia, London, Paris, Stockholm, Berlin,
Stuttgart.
Nach seinem Bühnenabschied 1941 etablierte er sich als einer der bedeutendsten Gesangspädagogen der USA. Zu seinen Schülern gehören Zelebritäten wie Eleanor Steber, Irene Dalis, Richard Tucker und
Léopold Simoneau.
Rhetorik aus dem Klang
Der offenkundigen internationalen, ja epochalen Bedeutung des Sängers entspricht die Zahl
seiner Aufnahmen nicht. Zur Jahrhundertwende 2000/2001 waren gerade drei Acustic Takes und drei Mitschnitte (zwei Gesamtwerke & ein Fragment) wieder auf Tonträgern greifbar. Die Zahl hat sich
durch Internet-Zugriffe erhöht, wenn auch keineswegs komplettiert. Denn allerdings: Schon vom
Beginn seiner Bühnenlaufbahn an machte Althouse in den USA akustische Aufnahmen (Cylinder und Schellacks) für Edison und Victor. Mit Ausnahme der in dieser Sammlung vorgestellten, nur teilweise
repräsentativer Ausnahmen wurde bisher nichts davon auf LP/CD
wiederveröffentlicht.
Eine der Ausnahmen aber ist ein Locus Classicus: Neben der portamento-satten Marina der
Margarete Ober brilliert Althouse als Grigorij in der Gartenszene des Boris Godunov – aufgenommen 1917 in New
York in italienischer (!) Sprache. Wir hören, ein wenig beeinträchtigt vom leicht topfigen Klangcharakter der Trichter-aufnahme,
eine perfekt fokussierte, durchschlagskräftige Spinto-Stimme ohne Registerprobleme, lyrisch fundiert, mit nicht gleißendem, aber metallischem Klanggepräge und, wichtiger: einer Ausdrucksemphase, die
nicht aus forciertem Stimmeinsatz, sondern aus konzentrierter Tonproduktion kommt. Dieser Zare-witsch trumpft nicht auf; er überzeugt durch eine Rhetorik aus dem Klang – und und ist damit etwa
Zenatello ähnlich, Caruso nahe. Ein Don Alvaro in
Sandomir.
Nicht alle anderen Taks sind ganz auf diesem Niveau: Einmal "Celeste Aida", recht unbeteiligt begonnen, mit
schönen Legato-Bögen, hingegen etwas unfreien Tiefen und nicht ganz perfekten Registerverblendungen, wenngleich gut gemischtem und mezzaforte im Focus gehaltenem Schluß-"B". Zum anderen auch
ein mit sympathischem Verzicht auf Crooner-Effekte legato gesungenes Stück aus dem Bereich der gehobenen Unterhaltung: "Moon of my delight" aus Lehmanns Persian Garden. Routiniert,
aber durchwegs in ernsthafter, deklama-torisch gebändigter Manier die Beispiele aus La Gioconda,
Pagliacci und vor allem Walküre. Schwächer, offenbar durch Studio-Umstände beeinträchtigt der englisch
gesungene Ausschnitt aus Haydns Schöpfung. Eine sicherlich nicht repräsentative Ausbeute, die aber immerhin demonstriert, wie "italienisch" fundiert Timbre und Stil des
jüngeren Althouse waren. Er war erkennbar kein verismo-affiner Bravado, sondern dem Werk und Gehalt
verpflchtet.
Maßstäbliche Interpretationen
Weiteres Tonmaterial entstammt Live-Mitschnitten zweier musikgeschichtlich wichtiger
Aufführungen: Der legendären amerikanischen Erstaufführung von Arnold Schönbergs Gurre-Liedern am 9. April 1932 in
Philadelphia unter Leopold Stokowskis Leitung. Und der denkwürdigen Met-Walküre vom 2. Februar 1935 unter Artur
Bodanzky mit dem folgenreichen New Yorker Debüt Kirsten Flagstads als Sieglinde. Beide Mitschnitte bieten zeit- und technikbedingt nur akustische Annäherungen, sind zudem von höchst unterschiedlichem
Klang-charakter. Dennoch ist ihre historische Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen.
In den Gurre-Liedern tritt uns Althouse mit "gesetzterem", dazu auch heller gefärbtem Timbre, zugleich deutlich geringerer Spontaneität (positiv gesagt: zugunsten von Sorgsamkeit) der gesanglichen
Linie vor Ohren. Der Vortrag - offenbar noch aus den Noten bezogen - wirkt tastender, vorsichtiger. Zur Souveränität der frühen Boris-Aufnahme besteht einiger Abstand.
Man mag das darauf zurückführen, dass die Boris-Szene gleich nach der Aufführungs-Serie der Met produziert wurde, den Tenor also ganz "in der Partie" stehend dokumentierte.
Die Gurre-Lieder erscheinen für die Aufführung einstudiert; wir hören den Interpretationsversuch eines dem Sänger
offenkundig noch fremden Stücks. Doch beeindrucken ein metallischer gewordener Ton, die unverändert flexible Phrasierung, die einwandfreie Registerverblendung: Auch bei großen Intervallen und
Dynamik-abstufungen hat Althouse keine Intonations- oder Phonationsprobleme.
Überwältigend sodann der Siegmund von 1935 – leider ist nur der 1. Aufzug ungekürzt und
unbeschadet veröffentlicht. Bei ganz anderer, nunmehr extrem bassarmer, klirrend-präsenter Tonwiedergabe hören wir die gespannt-vitale, geradezu emphatische Interpretation einer Wagner-Partie, die
erkennbar voll
"im Besitz" des Sängers ist und in einer Sternstunde mitgeschnitten wurde.
Neben der gestalterisch wie immer etwas indifferenten, aber vokal grandiosen Flagstad
bezwingt Althouse mit einer Wagnerstimme von schlankem, doch ehernem Klang, dramatischer Durchschlagskraft und breiter Ausdrucksskala, souverän in der Tonproduktion über alle Lagen, von vorbildlich
deutlicher, dabei stets in den Klang integrierter Artikulation. Das imponiert umso mehr, als der Dirigent Artur Bodanzky ein geradezu rasant-treibendes Tempo vorlegt – Althouse hat keine Probleme mit
extrem verkürzten Noten, Bindungen, Sprün-gen und akzentuiert dabei in jedem Takt klar, gestaltet mit Genauigkeit und Emphase. Ein junger, ja stürmischer Held, ohne die bronzene Färbung, freilich auch ohne das schmerzlich-tragische Pathos in den Auftritten Lauritz Melchiors. Aber mit einer
Fülle erfühlter Gestaltungsnuancen, bewegendem Ausdruck und zwar kürzeren, aber nicht weniger ausdrucksstarken Wälse-Rufen und Top-Noten. Eigentlich eine Siegfried-Stimme.
Dieser Eindruck bestätigt sich in einem Rarissimum – dem von Störungsgeräu-schen leider
sehr beeinträchtigten Fragment aus der Live-Aufzeichnung einer Götterdämmerung-Aufführung 1936 am Londoner
Covent Garden unter dem flamboyanten Dirigat von Fritz Reiner. Neben der ungewohnt lyrisch-schlanken, makellos gesungenen Brünnhilde der Florence Easton begegnet uns hier ein Ideal-Siegfried. Mit
jugendfrischer, dennoch heroischer Klangfarbe, völlig freier, geradezu lustvoller Stimmproduktion über alle Tonhöhen,
sicherem Instinkt für "Timing" auch in den kleinen Noten, dazu schwungvoll-federndem Tempera-ment. Das klingt sehr anders als bei Melchior oder Lorenz, ist näher bei Svan-holm, jedoch flexibler in
der Phrasierung als der bedeutende Schwede. Ein Siegfried der ersten Reihe – unverständlicherweise leider nicht in der eigentlich verdienten Zentralposition auf Tonträgern.
Paul Althouse war ein hochmusikalischer, vokal erstrangiger, technisch versierter,
gestalterisch intelligenter Sänger. Und einer der besten Wagner-Tenöre seiner Epoche.
KUS