Später Zeuge des Style-prodigue
René Verdière – ein letzter Ténor dramatique ?

Das französische Opernrepertoire im 19. Jahrhundert war ein Präsentationsfeld der klassischen, der Alten Schule des Gesangs. Die größten – in Dokumentationen auf Tonträgern bis heute maßstabsetzenden – Repräsentanten dieser Kunst erfüllten alle Fächer und Genrebereiche dramatischer Gesangsdarstellung, vom Barock über Belcanto bis an den Aufbruch des Verismo, mit sängerischer Perfektion und oft grandiosen Stimmen. Im Zentrum standen, nicht zufällig dominant während der Ära der sog. Belle Époque: die Werke der Kategorie „Grand-Opéra“, also die meist fünfaktigen, ausufernd-pompösen, mit Grand-Tableaus, Choraufmärschen und Balletten zu Aufwands-Wirkungs-Triumphen geführten Großformate. Das Spektrum reicht vom noch belcantesk determi-nierten Oeuvre Aubers (La Muette de Portici) über den bereits musikdramatisch orientierten Halévy (La Juive) bis zum Großmeister der Grand-Opéra Meyerbeer (Robert le diable, Les Huguenots, Le Prophète) und zu Spätromantikern wie Reyer (Sigurd, Salammbo).

Die international erfolgreichen, weltberühmten Interpreten dieser Ära gehörten zu den besten Vokalisten der Welt. Um nur drei exemplarische aus einem beachtlichen Kreis im CD-Angebot greifbarer Tenöre des Fin-de-siècle zu nennen: Edmond Clément, Lucien Muratore, Charles Dalmores waren sowohl Lyriker als auch Spinti, also „jugendlich-dramatische“ Fachvertreter, die Aubers Masaniello, Halévys Eléazar, Meyerbeers Robert und Raoul, Reyers Sigurd, dazu Wagners Lohengrin sangen (und Highlights daraus in Trichteraufnahmen hinterließen), aber auch mit Rameau, Gluck, Rossini, Bellini, Donizetti, Gounod, Adam, Boieldieu, Hérold exzellierten. Insofern sind sie und ein Dutzend weitere Kollegen bis heute beispielhaft für den Typus des französischen Tenor-Stilisten, Träger einer Tradition, die bis zu Alain Vanzo, Léopold Simoneau und vor allem Nicolai Gedda reicht.


Vorbildlegenden im Golden Age

Ein sehr anderer Tenor-Typus kommt uns heute nur noch in staunenswerten Tondokumenten aus der Frühzeit der Tonaufzeichnung, in Aufnahmen von ca. 1902 bis spätestens 1930, vor Ohren – und ist weniger als Repräsentanz dieser ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts anzusehen, vielmehr als Nach-Echo einer vorausgegangenen, fast versunkenen Ära, deren Blüte nun seit 120-150 Jahren vorbei ist – und deren zentrale Musikwerke trotz diverser Renaissance-Versuche eher selten aufgeführt werden. Gemeint ist der speziell aus dem französischen Opernrepertoire erwachsene, dort zu Ruhmesehren gekommene, doch auf Schallplatten nur vereinzelt zugängliche „Ténor dramatique“, der hochdrama-tische Tenor mediterraner Provenienz, aber unverwechselbar französischer Prägung. 

René Verdière - * 1895 Framéries (Wallonien) - † 6.5.1981 Paris
(nach Kutsch-Riemens: * 26.7.1899 Tournehem/Pas-de-Calais)


Über seine Herkunft und Jugend ist aus Nachschlagewerken wie auch im Netz kaum etwas zu erfahren. Die Informationen beginnen mit 1917, als sich der Jüngling noch freiwillig zum Kriegseinsatz meldete (was für die Richtigkeit der Angaben bei Kutsch-Riemens spricht). Gleich nach Weltkriegsende bewarb er sich als Schüler an der Ècole Musicale in Calais, wurde angenommen, studierte musikalische Grundfächer, begann mit einer Gesangsausbildung und entwik-
kelte sich so positiv, dass er als Meisterschüler ans Conservatoire National de Paris wechseln konnte. Nach achtjährigem Studium erwarb er sein Abschluss-diplom und wurde gleich an das erste Opernhaus des Landes, die Grand Opéra Paris engagiert. 1926 hatte er dort sein Bühnendebüt als Max in Webers Le Freyschutz
(Der Freischütz) – trat also vom ersten Bühnenabend an als Spinto und Heldentenor auf.

Seither sang Verdière in Paris an beiden Häusern – Opéra und Opéra-Comique – das jugendliche und das dramatische Fach, mit den Werken der französischen Grand-Opéra und den Musikdramen Wagners, dazu auch italienisches Repertoire mit Verdi und Verismo. 1935 wirkte er in der Uraufführung der Gargantua von Antoine Mariotte mit. Bald war er auch als Stargast gefragt, an allen Musikbühnen Frankreichs, besonders oft in Monte-Carlo, Brüssel, dann
seit 1936 regelmäßig am Royal Opera House Covent Garden London. In London übernahm er das französische Tenorrepertoire von René Maison, debütierte mit dem Julien in Charpentiers Louise. Trotz solcher Auftritte als Lirico entwickelte er seine Position im französischen und englischen Opernleben hin auf Drammatico-Partien des französischen und deutschen Repertoires wie Max, Florestan, Rienzi, Tannhäuser, Lohengrin, Stolzing, Siegmund, Siegfried, Parsifal, blieb dabei ein führender Interpret der Grand-Opéra als Arnoldo, Eléazar, Raoul, Jean de Leyde, Vasco, Don José, Samson, Sigurd.


1940 musste der Sänger erneut zur Armee, wurde den ganzen Zweiten Weltkrieg hindurch an den Fronten festgehalten, konnte erst 1945 auf die Bühne zurück – wieder an beiden Pariser Häusern, bald auch an seinen bevorzugten Gastspiel-orten. 1948-49 erschien er an der Opéra Monte-Carlo als Dimitrij in Mussorgskijs Boris Godunov. 1953 hatte er ein letztes großes Rollendebüt, so unerwartet wie glanzvoll: als Adario in der Barockoper Les Indes galantes von Rameau an der Grand Opéra Paris. 1954 gab er seinen Bühnenabschied und wirkte seitdem als Gesangspädagoge.


Das hochdramatische Tenorfach

Die heute kaum mehr hörbare Stimme eines Ténor dramatique geht zurück auf zwei Tenor-Legenden der Meyerbeer-Ära: Adolphe Nourrit (1802-1839), Rossinis ersten Comte in Le comte Ory, ersten Aménophis in Moìse, ersten Arnoldo in Guillaume Tell, Meyerbeers ersten Robert und Raoul, ersten Masaniello in Aubers Muette de Portici, ersten Eléazar in Halévys La Juive. -- Und Gilbert-Louis Deprez (1806-1896), den ersten  Edgardo in Lucia di Lammermoor, ersten Fernand in La Favorite, ersten Titelrollenträger in Berlioz‘ Benvenuto Cellini. Mit diesen beiden Namen und den Partien, die ihre Träger kreiert hatten, sind Charakter und Eigenschaften dieser nach heutigen Maßstäben unvergleichlichen, ja unglaub- lichen Sänger umrissen. Léon Escalais soll ihnen am nächsten gekommen sein – dem Jahrhundertzeugen Deprez wohl noch mehr als dem früh geendeten Nourrit. Deprez scheint das dramatischere, gleißendere, robustere Material und Timbre gehabt zu haben, Nourrit die für seine Zeit exzeptionellste Virtuosität – doch solche Nuancen scheinen nahezu zweitrangig gegenüber beider epochaler Leistung und Bedeutung.

Nochmals: Die französische hochdramatische Tenorstimme war immer rar und ist heute praktisch kaum mehr zu hören; wenige Tenöre nach den 1950er Jahren lassen sich in ihrem Aufgabenspektrum einordnen. Doch entweder bewältigten diese die extremen Tessituren mit exzellenter Gesangstechnik (wie Nicolai Gedda), oder sie setzten kraftstrotzend Naturstimmen ein, ohne viel vom Style français zu vermitteln. Dem Stimmcharakter im engeren Sinn kamen der Italiener Giacomo Lauri-Volpi, der Ire John O’Sullivan, der Deutsche Max Lorenz nahe. Ein weiteres Dutzend, vom Franzosen Guy Chauvet bis zum Rumänen Ludovic Spiess, heute der Newcomer Bryan Hymel, mag den Partien gewachsen gewesen sein (ohne sie auch gesungen zu haben) – doch der einzigartige zwischen poliertem Silber und glühendem Stahl changierende Klang des Ténor dramatique, gesteigert durch präzise Intonation, endlosen Atemfluss, schwin- gende Phrasierung, flexibles Passaggio und nicht zuletzt enorme Klangverstär-kungs-Ressourcen – das hört man in Reinform höchst selten. Man kann seine Kenntnis des Phänomens mit den drei Dutzend Jahrhundertstücken von Escalais schärfen, und wird verloren sein an diese Einheit von Kraft und Strahl und Glanz und Expansion.


Représentant en cercle étroit

Eine Handvoll Nachfolger kommt diesem Ideal wenigstens nahe oder zeichnet sich durch Meisterschaft in Einzeldetails aus. So der schallkräftig-präsente César Vezzani durch Glanz der Timbre-Entfaltung, der Meister des Chiaroscuro Paul Franz durch blendende Stilsicherheit, Verdière immerhin als eine elegante Escalais-Adaption.

Verdières Timbre hat den typischen obertonreichen, hellmetallischen Mischklang eines Spinto français mit festem Kern und viriler Prägung. Er wahrt die Einheit des Klangs konsequent bis zur durchschlagskräftigen, per Klangdynamik zur Vibranz gesteigerten, gleißenden Höhenlage. In allen seinen Aufnahmen erfüllt dieser Tenor des dramatischen Fachs das Gebot der Integration der Töne in einem lineraren, gerundeten, gefluteten Gesangsfluss. Dieser ist von meister-licher Farbmischung zwischen lyrisch und heroisch geprägt. Die Phrasierungs- kunst des Sängers erinnert an die besten Repräsentanten des Golden Age, so wenn er Emphase nicht mit Stentortönen und Forte-Ausbrüchen darstellt, sondern Steigerungen ganz aus dem Tonstrom und in wundervoll ausgegli-chenen Modulationen vollzieht. Er adaptiert auch eine Escalais-typische, leicht nasale Klangbeimischung, die einen respektablen lyrisch fundierten Ténor Dramatique à la France macht. Insofern ist Verdière eher als ein Nachfolger von Paul Franz einzuordnen. Größere Reverenz ist kaum denkbar.

René Verdière war ein hochklassiger, live vermutlich erregend-attraktiver Sänger. Wendet man das Hörerlebnis seiner tönenden Hinterlassenschaft auf den Wagnergesang der letzten Jahrzehnte an, dann war da vor 100-70 Jahren ein exzellenter französischer Außenseiter im „Golden Age of Wagner“ tätig. Für viele Sammler, die von ihm nicht mehr als seinen Namen kannten, wird er eine Entdeckung sein.

                                                                                                          KUS
 

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Leider gelang es trotz monatelanger weltweiter Suche bisher nicht, mehr als die beiden hier präsentierten Fotos von René Verdière zu finden. Nach der Bedeutung des Sängers in der Geschichte der Pariser Opernhäuser wie auch seiner Wertschätzung bei Sammlern im französischen Kulturraum ist das kaum verständlich. Wir sehen ihn im Kostüm zweier seiner Wagner-Partien – doch sein Antlitz und seine Ausstrahlung vermitteln sich damit nicht. Hinweise zur Abhilfe sind dem HAfG  hochwillkommen.
 

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© Klaus Ulrich Spiegel