Indizien zu einer Legende
Ruhm und Relikte des berühmten Karl Scheidemantel

Karl Scheidemantel
(Bariton) * 21.1.1859 Weimar - † 26.6.1923 Weimar
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Vokalhistoriker weisen diesem Sänger eine zentrale, sogar konstitutive Rolle in der Gesangsgeschichte zu. Manchem gilt er als so bedeutend wie Garcia und Stockhausen zuvor oder Caruso und Schaljapin danach. Sein Name ist bis heute eine Chiffre – nicht nur für ein deutsches Goldenes Zeitalter großen Gesangs, sondern auch für ein verklärtes Erinnern an großes Ensembletheater und die national-regionale Kulturpflege zwischen Klassik und Aufbruch zur Moderne. Mehr als auf viele andere, die zu den wahrhaft Großen gerechnet werden, ist er schon zu Lebzeiten in den Status einer Legende eingegangen. Dafür stehen sein kulturelles Herkommen, sein Weg und seine Karriere, sein Gesamtschaffen als musikalische und übergreifend kulturelle Persönlichkeit.


Nur: Leider belegt und bestätigt die äußerst schmale Hinterlassenschaft an Tondokumenten diesen solitären Rang nicht. Man muss sich damit abfinden, mehr ein Echo als einen Sound vermittelt zu bekommen, kein Hörportrait, kaum seriös beurteilbare Interpretation. Einen Widerhall realistisch abbildender Klänge, eine Anmutung der Legende vernimmt man nicht. Dennoch sollte man die Tonfragmente kennen. Auch wo sie kein Vermächtnis aufzeigen können, informieren sie doch über Optionen und Grenzen der Dokumentation von Klangvorlagen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Eine Sternen-Karriere

Karl Scheidemantel war ein Sohn des Weimarer Hofkunsttischlers. Er wuchs in der Kulturtradition der Klassik auf. Früh strebte er einer Musikerlaufbahn zu. Dabei wurde er von dem in Weimar wirkenden Franz Liszt und dem Sängerdarsteller Bodo Borchers gefördert, dann (wie sein Zeitgenosse Anton van Rooy) in der Gesangsschule von Julius Stockhausen in Frankfurt ausgebildet. Er debütierte 1878, also 19jährig, am Hoftheater Weimar als Wolfram in Wagners Tannhäuser. An diesem Haus blieb er für acht Spielzeiten in enger Zusammenarbeit mit Liszt. Zugleich erwarb er sich europaweit einen Namen als Opern- und Konzertsänger. 1886, nahezu zeitgleich mit einem ersten Gastspiel in London, wurde er an die Dresdner Hofoper berufen, deren führendes Mitglied er 25 Jahre lang blieb. Schon 1884 war er zum Großherzoglich-sächsischen Kammersänger ernannt worden.
In Weimar hatte Scheidemantel 1883 in der szenischen Uraufführung von Liszts Oratorium Die Legende von der heiligen Elisabeth als Landgraf mitgewirkt. In Dresden übernahm er die führenden Baritonpartien in über 100 Opern. Er war an zwei Uraufführungen von Werken Richard Strauss‘ beteiligt: 1901 als Kunrad in Feuersnot und 1911 als Faninal im Rosenkavalier. Hauptrollen verkörperte er auch in Uraufführungen neuer Stücke von Ignacy Paderewski, Reinhold Becker, August Bungert, Paul Umlauff, Leo Blech, Max von Schillings. Zahllose Operngastauftritte und Konzertreisen führten ihn in die Musikzentren Europas: Berlin, Wien, München, Zürich, Mailand, Prag, Warschau, St. Petersburg, London, Paris, Brüssel, Amsterdam ...


In Dresden war er der erste deutsche Alfio in Cavalleria Rusticana (1891) und Rabbi David in Freund Fritz (1892) von Mascagni, dann Scarpia in der Tosca von Puccini. Sein schier unerschöpflicher Rollenfundus umfasste nahezu alle gängigen Opern und Musikdramen des italienisch-spanischen, französischen, slawisch-russischen, englischen und natürlich vorrangig deutschen Bühnen- und Konzert-Musikschaffens. Insgesamt soll er 170 Partien beherrscht und dargeboten haben – das ist vermutlich bis heute Weltrekord.

Von zentraler Bedeutung für seinen Nachruhm waren Scheidemantels Auftritte bei den Bayreuther Festspielen. Hochgeschätzt von Cosima Wagner und den Dirigenten Levi, Strauss und Mottl gab er dort 1886 Kurwenal im Tristan, 1886/88 Klingsor im Parsifal, 1891-94 Wolfram im Tannhäuser. International sang er alle Bariton-Partien Wagners, bis ins hochdramatische Heldenfach Er siedelte und heiratete in Dresden. Dort nahm er 1911 seinen Bühnenabschied als Hans Sachs in Wagners Meistersingern. Er blieb den Haus als Dramaturg und Regisseur verbunden, wirkte in Dresden und Weimar als Gesangs- und Musikpädagoge, schuf als Autor Werkeinrichtungen und Original-Libretti, veröffentlichte Standardwerke zur Gesangspädagogik (u.a. Stimmbildung, Leipzig 1907). 1920-22 übernahm er die Direktion der Dresdner Sächsischen Landesbühne. Er starb 1923 und ist im Urnenhain des Johannesfriedhofs Tolkewitz bei Dresden beigesetzt. Man ehrte ihn durch Biographien und Straßenbenennungen. Er wird zu den wichtigsten Sängern der Jahrhundertwende gezählt.

Les Restes – nicht durchwegs beaux

Nur 10 offizielle Tonaufnahmen (+ Zweittracks) bilden sein tönendes Erbe – auf G&T/Grammophon/Vox 1902 und 1907. Sie zeigen eine – im Begleitgejaule klanglich nicht gerade optimal positionierte – gute Baritonstimme mittleren Volumens mit angenehmer Grundfärbung. Sie wirkt gut platziert, wird aber nicht in perfekter Phrasierung geführt. Der Atem schwingt stetig, stützt sicher. Doch die Register sind nicht durchwegs gut verblendet. Die tiefe Lage ist wenig voluminös, klingt stellenweise gepresst (so in Almavivas Aria Ich soll ein Glück entbehren (Matr. 5868 L). Der Aufstieg zur Höhe tönt nicht berückend, offenbart aber exakte „Vorn“-Platzierung, die sanft schwingenden Wohlklang mit Resonanz erzeugt, gut verfolgbar im Legato-Teil von Wolframs Als du in kühnem Sange (Matr. 797 x) - wie denn überhaupt Abschwünge, vor allem im Diminuendo, viel klangvoller, zugleich samtiger wirken.

Die eigentlich lyrische Stimme wirkt nicht generell expansiv, vermag aber auch kernige Attacke zu tragen, bringt dann für Momente metallische Inflektionen. Der Gesangsstil ist überraschend modern, verzichtet auf gefühliges Ziehen oder Nöhlen. Doch auch die Textartikulation ist nicht immer genau, Koloraturen werden gewischt, sehr kurze Noten klanglich nicht ausgefüllt. Die vermutlich genaueste Information über Stimmsubstanz und -färbung bezieht man aus Tells Arioso Knie nieder (Matr. 135 A) und der a-capella-Melodie Für Musik von Robert Franz (Matr. 2318 B).

                                                                                                         
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© Klaus Ulrich Spiegel