Faszinierender Klang.
Überwältigende Portraits
Die Leonie –
Bühnentier und Vermittlungsgenie
Ein Name, ein Begriff – und eine Legende schon bei Lebzeiten: Leonie
Rysanek (* 1926 - † 1998) war die zentrale dramatische Sopranistin aus dem deutschen Sprachraum in ihrer Epoche. Und diese Epoche umfasste fast die ganze zweite 20. Jahrhunderthälfte. „Die
Leonie“ – das war ein Opernfanal weltweit und ein Quell von Assoziationen, Impressionen, Emotionen. Drei Generationen von Operngängern waren von den Rollenportraits dieser eminenten
Bühnenpersönlichkeit gefesselt. Wie Callas oder die expressiven Heroinen der Wagner/Strauss-Bühne, Varnay/Mödl/Goltz/Borkh, ließ die solitäre Sängerin niemanden kalt oder nur ästhetisch berührt. Sie
überwältigte mit allen Mitteln dramatischer Vokalinterpretation. Ein Phänomen der Unmittelbarkeit, Identifikation und Evokation.
Leonie Rysanek verkörpert eine nahezu unbeeinträchtigte Erfolgskarriere. Der Radius ihrer Partien war nach Stilen,
Fächern, Epochen so breit und vielfältig, dass sich Betrachter zum Prädikat „Assoluta“ aufschwingen mochten. Doch das träfe nicht, dessen war sie auch nicht bedürftig. Sie war ein dramatischer Sopran
mit rahmensprengender Expansionsfähigkeit, mit Ausgriffen ins jugendliche wie ins hochdramatische Fach. Belcantowerke und verzierte Musik sang sie hingegen nicht, wusste offenbar, wo die Grenzen
vielleicht nicht ihres vokalen Materials, aber ihrer sängerischen Grundlagen verliefen. Auch ins Fach der „ganz schweren“ Heroinen wechselte sie nicht – bedauerlicherweise; eine große Isolde wäre sie
allemal geworden. Andere Partien im Grenzbereich hat sie mit Aplomb, Souveränität, Effekt geboten. Und jedesmal war ihr ein Triumph sicher.
Am erstaunlichsten erscheint im Rückblick Rysaneks Kontinuität in Vitalität.
Sie durchmaß nicht nur ein ungewöhnlich variables, gegensatzreiches Repertoire, sie tat es auch mit verzehrendem Persönlichkeitseinsatz und unversiegbaren physischen Ressourcen. Dabei stand ihr ein
Instrument von ganz eigener Faktur und Farbe, enormer Belastbarkeit und faszinierender Variabilität zur Verfügung.
Herber Ton. Gleißender Strahl.
Rysaneks Stimmfärbung war aufs erste Hören nicht von bestrickendem Glamour wie die von Grümmer, della Casa, Jurinac.
Aber sie nahm auf eine befremdliche, manchmal irritierende Weise gefangen. Das Timbre bot nicht den für drama-tische Soprane typischen hellchromigen Metallglanz, vielmehr eine herbe, mitunter
fahle Oberfläche, wie die Mattierung auf reifenden Schlehen. Schon in diesem, vor allem dem unteren Stimmbereich vermochte sie Ausdruckswerte zu setzen. Im Übergang zur Mittellage hellte sich das
Timbre auf zu körperhaft rundem, hellerem Ton, aus dessen flexibler Klangfülle sie dann mit geradezu soghaft wirkender Intensität den vibranten, lodernden, oft gleißenden Strahl einer schier
unbegrenzt wirkenden, weitschwingenden Höhe hervorbrechen ließ.
Das erlebt man bei den großbögigen, crescendierenden Intervallen in den Live-Ausschnitten von Salome,
Frau ohne Schatten, Nabucco, Macbeth, Gioconda. Wenn die Sängerin in großer Abendform war, konnte dieser Höhenstrahl, getragen von fabelhaft sicherer Stütze und
schier endlosem Atemstrom, einen glühenden, sengenden Kern entfalten, Leuchtraketen gleich (überwältigend im Auftritt „Zweite Brautnacht“ in der Ägyptischen Helena
/ CD 5, Track 6). Die Wirkung auf den Live-Hörer konnte dann eine drogenhaft-betäubende sein. Keine Sopran-Heroine der letzten Jahrzehnte, am wenigsten aus dem deutschen Sprachraum, vermochte
diesen nur von der frühen Callas her bekannten Effekt zu erzielen.
Vom Start weg Weltformat
Wirkungsfähigkeit in solcher Dimension kommt stets aus fachangemessen-virtuoser Beherrschung der sängerischen Mittel
und Fertigkeiten. Leonie Rysanek erwarb sie am Konservatorium der Stadt Wien, bei zwei berühmten Sängerpädagogen: dem legendären Bassbariton der Wiener Oper Alfred Jerger (dem ersten
Mandryka in Strauss’ Arabella und Langzeit-Interpreten von über 100 Rollen aller Fächer) und bei Rudolf Großmann, Charakterbariton der Leipziger, dann Wiener und Münchner Oper, Gast
europäischer Bühnen von London bis Venedig, Leonies späterem Ehemann. Das dort vermittelte Rüstzeug muss in allen Aspekten fundamental gewesen sein. Es trug ein langes Sängerleben lang durch
universale, oft extreme Anforderungen.
Schon als 23jährige kam Leonie Rysanek auf die Opernbühne. 1949 debütierte
sie am Landestheater Innsbruck als Agathe im Freischütz. Noch in derselben Spielzeit wurde sie ans Opernhaus Saarbrücken verpflichtet. Von dort holte Wieland Wagner sie, überraschend genug,
als Sieglinde in seinen ersten Ring
des Nibelungen zur Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele 1951 und so über Nacht in den Ruhm. Dieser Auftritt löste ein Engagement an die Bayerische Staatsoper München aus. 1954 folgte die
Verpflichtung an die Wiener Staatsoper. In weniger als fünf Jahren hatte die junge Sängerin den Weg an die Weltspitze gemacht, die sie bis zum Bühnenabschied 42 Jahre später nicht mehr verließ.
Leonie Rysanek war ohne Vorbereitungs- oder Reifungsphase vom ersten öffentlichen Auftritt an eine fertige dramatische Sängerin. Sie füllte sofort die anspruchsvollsten Partien, darunter extreme
Aufgaben für Soprano sfogato wie Webers Rezia oder Puccinis Turandot. In den frühen 1950ern schon nahm sie
bei deutschen Rundfunkanstalten Arien und Szenen aus solchen Partien auf.
In München und Wien begann sie mit Wagner-Opern. Es folgten rasch Aufgaben in Werken von Richard Strauss und italienischem Repertoire, vor allem Verdi.
Beim Wiener Opernfest zur Wiedereröffnung des großen Hauses der Staatsoper sang Rysanek unter Kubelik die Titelrolle
in Aida und unter Böhm die Kaiserin in der Frau ohne Schatten. Mit Karl Böhm gab sie auch ihre ersten Auslandsgast-spiele. Neben den terminreichen Festverbindungen an den
Staatsopern München und Wien gastierte sie immer öfter an deutschen und europäischen Spitzen-bühnen, erhielt erste Angebote aus den USA, wirkte in Rundfunkproduktionen mit, machte für EMI zwei
Aufnahmesitzungen in London und Berlin. Ab 1958 trat sie bei den Salzburger Festspielen auf (Debüt im Verdi-Requiem). Im selben Jahr erschien sie erneut in Bayreuth, wieder als Sieglinde
(neben Vickers) und als Elsa (neben Kónya). Bis 1983 gehörte sie zu den Stars dieses Festivals, als Senta, Elisabeth, Elsa, Sieglinde, zuletzt als Kundry. Schon 1953-54, dann 1959+1963 war sie Gast
am Covent Garden London. Seit Beginn der 1960er gastierte sie auch an der Scala di Milano.
Über Nacht Opernlegende
Der entscheidende Durchbruch Rysaneks zu einer Sängerlegende der Epoche ereignete sich 1959. Der neue Operndirektor
Karajan erweiterte das Wiener Ensemble in Richtung Internationalität, Weltstarbetrieb, Medienverbund. Dazu gehörte vielfältiger Staraustausch mit der Scala. Nach einer Aufführung von Verdis
Otello erfuhr Leonie Rysanek, dass die Scala-Sängerin der Emilia eine höhere Gage bezog als sie, die Protagonistin. Ihr Einspruch blieb ungehört. Rechtsfolgen nicht scheuend, kündigte sie
ihre Verträge und verließ die Wiener Oper. Sie konnte sofort in neue Engagements wechseln. Vor allem in USA machte sie Furore. Das nutzte der Met-Manager Rudolf Bing in seinem spektakulären Konflikt
mit Maria Callas. Die Assoluta weigerte sich, in Partien wie Lucia und Lady Macbeth zu alternieren, womit sie sachlich völlig Recht hatte, doch Bings zynischer Kampagne ausgeliefert wurde. Der
Met-Chef verpflichtete Rysanek für Lady Macbeth. In einer mit Warren und Bergonzi weltprominent besetzten Premiere gab sie ihr Met-Debüt.
Bing hatte die Spannung mit Boulevardstoff um die Callas hochgepeitscht. Um sie im Haus noch zu steigern, ließ er,
ohne Rysaneks Wissen, im Zuschauerraum einen Claqueur beim Auftritt der Lady schreien: „Brava Callas“. Die scheinbar gekränkte Rysanek hatte sofort alle Herzen auf ihrer Seite. Da sie auch
hochkarätig sang und interpretierte (wovon man sich durch eine anschließende Studioaufnahme überzeugen kann) war ihr Met-Einstand ein Triumph mit weltweiter Publizität, wichtiger: der Beginn einer
drei Jahrzehnte dauernden glanzvollen Mitgliedschaft an New Yorks berühmtem Opernhaus, das ihr zuletzt einen Open-End-Vertrag gab – offen für persönliches Ermessen zu singen, was und wie lange sie
noch wollte.
An der Met gab Rysanek in fast 300 Vorstellungen 20 verschiedene Partien,
außer in Macbeth auch in Nabucco, Ballo, Forza, Otello, Tosca, Fidelio, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Walküre, Parsifal, Rosenkavalier, Ariadne, Frau ohne Schatten, Pique Dame, Kátja
Kabánova. 1984 wurde ihr zu ihrem 25jährigen Met-Jubiläum ein Galakonzert ausgerichtet.
Leonie Rysanek blieb als Gast dauerhaft in Wien, München und an der Deutschen Oper Berlin, trat dazu bei diversen Festspielen, wie Bayreuth, Salzburg, Orange, Firenze, auf und gastierte an Spitzenbühnen weltweit – in Paris, Barcelona, Hamburg, Tokio, Sidney, Buenos Aires. 1996
endlich gab sie
bei den Salzburger Festspielen ihre Abschiedsvorstellung als Klytämnestra in R.Strauss’ Elektra. Sie war Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper, Bayerische
Kammersängerin, Trägerin der Silbernen Rose der Wiener Philharmoniker.
In zweiter Ehe war sie mit dem Wiener Musikwissenschaftler E.L.Gausmann verheiratet. Ihre Schwester Lotte Rysanek, ein tüchtiger Soprano lirico, hatte
eine Karriere an deutschen und österreichischen Bühnen, die bis an die Wiener Staatsoper führte.
Zwei Jahre nach ihrem Bühnenabschied verstarb Leonie Rysanek in ihrer Geburtsstadt Wien – ein Bühnentier, dem
außerhalb der Bühne kein Alters-dasein beschieden sein sollte.
Universalität in Expressivität
Die immer hochexpressive Sängerin war keine
Belcantistin. Frühe Versuche
mit Mozart beendete sie rasch. Linear ausgewogenes Singen war, ungeachtet solider Legato-Fähigkeiten, nicht eigentlich ihre Sache. Im Strom extremer Ausdrucksintensität auf der Bühne konnte sie den
Tugendpfad exakter Intonation und ausgewogener Dynamik für Momente verlassen, Intervalle und Notenwerte „übersingen“. Es kam auch vor, dass sie mit belegt-verschatteter Stimmoberfläche zu kämpfen
hatte; ein Tosca-Mitschnitt aus München dokumentiert das auf quälende Weise. Doch selbst in solchen Unter-Wert- Momenten wusste sie ausdrucksgestisch, stimmdarstellerisch zu
fesseln.
Rysaneks Rollenrepertoire fasziniert nicht
allein durch Fülle und Vielfalt, sondern auch durch seine Struktur. Mit großen lyrischen und hochdramati- schen
Partien hatte sie begonnen. Sie wandte sich dann zentralen Aufgaben für Soprano drammatico zu: 1. den Wagner-Rollen Senta, Elisabeth, Elsa, Sieglinde, zeitweise auch Gutrune. 2. Richard-Strauss-Heroinen wie Salome, Chrysothemis, Marschallin, Ariadne, Kaiserin,
Helena. 3. dramatischem italienischem Reper-
toire, vornehmlich Verdi: Abigaille, Lady Macbeth, Amelia, Elisabetta, Leonora di Vargas, Aida, Desdemona, 4. ausgewählten Partien interessanten oder extremen Charakters: Medea, Gioconda, Santuzza, Tosca, Milada, Tatjana, Kabánicha. Einige Partien sang sie in nur einer Inszenierung
(durchwegs eigens für sie produziert) – so die Callas-Prüfsteine Medea und Gioconda.
Bemerkenswert, vielleicht ein Schlüssel zu ihrer Beständigkeit in langer Hochleistungskarriere, ist die Beobachtung: In nur vier Partien hat sich Leonie
Rysanek während ihrer gesamten Laufbahn präsentiert: Sieglinde, Tosca, Chrysothemis, Kaiserin. Mit ihnen war sie auf der ganzen Welt präsent. Weitere zentrale Gestalten gab sie
über längere Zeitabschnitte, setzte sie dann ab – so Fidelio, Senta, Elisabeth, Elsa, Amelia, Desdemona, Marschallin. Abigaille, Santuzza, Ariadne oder Salome (mit der sie
in den 1970ern sensationelle Erfolge hatte). Rand- und Zwischenfachrollen, wie Agathe oder Donna Elvira, hatte sie nur in den Anfangsjahren erprobt. Sie blieb bei einer kleinen Gruppe zentraler
Partien, denen sie, jeweils für begrenzte Zeit, neue Einzelaufgaben zugesellte. So erschloss sie ein immer spannendes Wirkungsfeld voller Herausforderungen – aber offenbar nie
Überforderungen.
Lebenslang in den Sielen
Gegen Ende ihrer Laufbahn vollzog die Rysanek
noch einen bemerkenswerten Fachwechsel: Sie verließ die Partien mit den lodernden, gleißenden Höhenbögen, wandte sich Charakterpartien des Sopran
falcon- und Mezzo-Fachs zu. In Wien gab sie ihr Rollendebüt als Kundry, die sie 1982 zur 100-Jahr-Feier des Parsifal auch in Bayreuth sang. Von der Elsa wechselte sie
zur Ortrud, von Chrysothemis zu Klytämnestra, von Salome zu Herodias. Neu erarbeitete sie die Gräfin in Tschaikowskys Pique Dame und die Küsterin in Janáceks Jenufa.
Zuvor hatte sie sich bewegen lassen, doch einen Schritt ins Fach der Hochdramatisch-Exzessiven zu tun, in einer grandiosen TV-Produktion von Elektra. Nach gut 35 Jahren
Chrysothemis endlich die Titelpartie, kurz vor dem Wechsel zur Klytämnestra – ein aufregend großartiges Stück Fernsehoper; man sollte es kennen.
Leonie Rysanek ging nicht gern vors
Mikrophon, musste zu Tonträger-produktionen gedrängt werden. So ist sie in den Katalogen der großen Platten-produzenten befremdlich unterrepräsentiert. Ein Großteil ihrer Rollenportraits ist nie
„offiziell“ aufgenommen worden. Außer Live-Mitschnitten und wiederum Auszügen daraus gibt es nur die meist vergriffenen EMI-Studioaufnahmen aus den 1950ern und ein Star-Recital mit italienischen
Arien bei RCA. Der Rest sind Rundunkaufnahmen vom Karrierebeginn in einer holländischen 2CD-Box. In wenigen Studio-Gesamtaufnahmen ist sie greifbar als Fidelio (unter Fricsay), Senta (unter Dorati),
Sieglinde (unter Furtwängler), Lady Macbeth (unter Leinsdorf), Desdemona (unter Serafin), Kaiserin (unter Böhm), Ariadne (nicht in bester Form unter Leinsdorf). Doch alle ihre großen Bühnenfiguren
liegen vor, in Raubmitschnitten, aus Radioproduktionen oder Aufführungs-Übertragungen. Wer Rysanek hören will, kann sie finden. Und ein Stück Opernhistorie durchmessen.
KUS