De mortuis …

Albrecht Müllers Anmerkungen *) zu einem, der bis zuletzt im Status des Rechtsbrechers gelebt hat – unbelehrbar, engstirnig, nachtragend, provinziell, behäbig-beharrlich, korrupt, allfälligen „Bimbes“-Zuflüssen von Rimbacher-Gummi über Flick bis H.Lauterbach offen – im Dissenz mit den Besten seiner sog. Christenpartei (Geissler, Blüm), nach seinem Tod von verbalen Katzbucklern aus dem Mainstream der CDU/CSU/SPD/FDP/B‘90Gr und des ewig gleichen neoliberalen Medienmixes über jedes Maß verherrlicht: als „großer Staatsmann“, als Europa-Architekt, Einheits-Schöpfer, Bismarck-Verschnitt, Jahrhundertpolitiker, Vorbild. Es gehen viel Lügen auf diesen Sack.

  1. Helmut Kohl hat als Bundeskanzler (anders als zuvor in seiner Eigenschaft als CDU-Parteipolitiker in der Opposition) mit Herz und Verstand für den Abbau des Konfliktes zwischen West und Ost gearbeitet. Willy Wimmer (CDU) meint, mit Helmut Kohl als Bundeskanzler hätte es keinen Jugoslawien Krieg gegeben, jedenfalls hätte sich Deutschland nicht daran beteiligt. Ob diese Einschätzung stimmt? Ich weiß aus eigener Beobachtung und aus einer verlässlichen Quelle, dass sich Helmut Kohl in die Lage anderer, im konkreten Fall der führenden Personen in der Sowjetunion, also zu seiner Zeit Gorbatschows, hinein zu setzen bemühte und vermochte.

    1989 und 1990, also zu Zeiten des Endes des West-Ost-Konfliktes, war ich mit dem Bonner Korrespondenten meiner Regionalzeitung, der „Rheinpfalz“, befreundet. Dieser, Klaus Hofmann, auch mit Helmut Kohl befreundet, warnte vor der gängigen Fehleinschätzung im fortschrittlichen Lager von Politik und Medien. Es gab dort (z.B. im SPIEGEL) die auch unter Sozialdemokraten und Grünen übliche Lästerei über Kohl. Nicht sehr liebevoll und durchaus abwertend sprach man von ihm als „Birne“ – damit war auch der Unterton einer gewissen geistigen Mittelmäßigkeit verbunden. Hofmann überzeugte mich davon, dass dahinter gravierende Fehleinschätzungen steckten. Kohl mache sich sehr langfristige und umfassende Gedanken. Damals vor allem zur Entwicklung in der Sowjetunion nach Ende des Ost-West-Konflikts.

    Jemanden wie diesen Kohl könnte man heute in der Politik gebrauchen. Denn was der Westen und auch die Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit Russland tun, lässt darauf schließen, dass die heute handelnden Personen sich eben keine Gedanken darüber machen, welche Wirkung ihre Agitation und ihre Entscheidungen auf die innere Entwicklung Russlands haben.

    Dies war eine Ergänzung der vielen positiven Würdigungen des früheren Bundeskanzlers. Jetzt zu den Schattenseiten und zu notwendigen Korrek-turen der üblichen Einlassungen:

  1. Kanzler der Einheit? Das stimmt nicht einmal als Beantwortung der Frage, wer die Einheit möglich gemacht hat.

Der Abbau der Konfrontation zwischen West und Ost und die deutsche Einheit wären ohne die Entspannungspolitik der Regierungen Brandt und Schmidt nicht möglich gewesen. Diese Entspannungspolitik wurde gegen die CDU/CSU eingeführt und von dieser dann im weiteren Verlauf zunächst nur halbherzig begleitet. Kanzler Kohl hat sich dann in dieser Funktion um die Vereinigung verdient gemacht, aber hat keineswegs die Grundlagen dafür erarbeitet.

  1. Helmut Kohl hat als Bundeskanzler gravierende Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen beim Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu verantworten:
    1. Er hat blühende Landschaften versprochen und damit völlig überzogene Erwartungen erweckt.
    2. Um eine wichtige Grundlage der wirtschaftlichen Blüte, nämlich die Erhaltung und Modernisierung der Betriebe der ehemaligen DDR, hat er sich nicht ausreichend gekümmert. Die Tendenz westlicher Unternehmen, Betriebe der DDR platt zu machen, hat er nicht gekontert, im Gegenteil unterstützt.
    3. Die Währungsumstellung mit dem Kurs 1 D-Mark für 2 DDR-Mark war für die Betriebe der DDR eine Bedrohung. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hatte davor gewarnt: „Die Unternehmen in der DDR werden schlagartig einer internationalen Konkurrenz ausgeliefert, der sie gegenwärtig nicht gewachsen sind.“ – Quelle: mz-web ©2017. Kohl und alle anderen wie Schäuble, auch Teile der SPD, die diesen Kurs getragen haben, könnten einwenden, die Bewohnerinnen und Bewohner der DDR hätten auf einem Kurs1:1 bestanden. Das ist richtig, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sogar die Umstellung 1 : 2 eine Katastrophe für die DDR-Betriebe darstellte.
    4. Die Bedrohung für die Lebensfähigkeit von DDR-Betrieben wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass die ostdeutschen Banken von der Regierung Kohl an westdeutsche Banken zu subventioniertem Preis verscherbelt wurden. Damit war verbunden: Die auf den Konten ostdeutscher Banken stehenden Zuschüsse an DDR Betriebe für Investitionen wurden in Forderungen umgewandelt. Damit waren die DDR-Betriebe sofort bei westdeutschen Banken hoch verschuldet, Die Umwandlung war grobes Unrecht: In der DDR pflegten die Betriebe erwirtschaftete Gewinne an den Staat abzugeben; dafür wurden ihnen Zuschüsse für Investitionen gezahlt. Diese Zuschüsse waren keine Kredite des Staates, sondern eine Art Ausgleich für zuvor abgeführte Gewinne. Über diesen Vorgang hat der stellvertretende Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel am 1.7.2005 aus einem unter Verschluss liegenden Gutachtens des Bundesrechnungshofs berichtet. s. hier: „Schulden ohne Sühne. 15 Jahre Währungsunion: Wie sich westdeutsche Banken auf unsere Kosten an fiktiven DDR-Krediten bereicherten“ von Lorenz Maroldt. Die Geschichte der Treuhand ist keine Erfolgsgeschichte.
    5. Vom Vermögen, das Bürgerinnen und Bürgern der DDR 1945-1990 aufgebaut hatten, ist diesen Menschen mit wenigen Ausnahmen fast nichts geblieben. Das meiste ging an westdeutsche und sonstige westliche Personen, Firmen und sogenannte Investoren.
       
  2. Die Regierung Kohl hat eine gravierende Fehlentscheidung zu verantworten, die demokratische Willensbildung und das Leben von Menschen und Familien gravierend beschädigt hat: die Kommerzialisierung der elektronischen Medien Fernsehen und Hörfunk, und die Überflutung der Menschen mit diesen Programmen.
    Die Entscheidungen dafür wurden gleich nach der Regierungsübernahme Kohls im Herbst 1982 getroffen. 1984 begannen die ersten kommerziellen Sender. In Konkurrenz um Einschaltquoten zwischen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Sendern ist eingetreten, was Kritiker vorhergesagt haben: Es gab nicht mehr Vielfalt, sondern mehr Einfalt. Die öffentlich-rechtlichen Programme haben sich den kommerziellen angepasst.
    Das alles konnte man wissen: Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte sich bis zum Ende seiner Regierung dagegen gewehrt. Es ging ihm nicht um Verbote, sondern nur darum, kein öffentliches Geld in die Vermehrung der Fernsehprogramme undderen Kommerzialisierung zu stecken. Die Regierung Kohl hat das dann massiv getan.


    Nachdem dann zehn Jahre später der Schaden der Kommerzialisierung für unsere Gesellschaft erkennbar war, weinten ein Politiker der CDU/CSU nach dem anderen Krokodilstränen – Günther Oettinger zum Beispiel, der für die Medienpolitik lange Zeit zuständige Bernhard Vogel und Ursula von der Leyen, damals Familienministerin. All die beklagten Schäden konnte man kennen. Helmut Schmidt hat sie in einem Beitrag für die „Zeit“ schon 1978 vorhergesagt. s. hier.

    Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramts hat unter meiner Leitung Untersuchungen dazu gemacht und ausführlich dokumentiert, was auf unsere Gesellschaft und Demokratie, zukomme. Wer sich für die Verantwortung der Regierung Kohl dabei interessiert, findet im Kapitel 21 meines Buches „Meinungsmache“ weitere Informationen: „Das Verschwinden der Medien als kritische Instanz“.

    Unsere Gesellschaft, unsere ohnehin fragile Demokratie, Familien und Kinder haben unter Kohls Fehlentscheidungen gelitten. Die Kommerzialisierung der elektronischen Medien wirkt bis heute als wirkliche Katastrophe nach. Kohl aber hat von der Kommerzialisierung persönlich und politisch viel profitiert. RTL, Sat1 und Pro7 haben ihn ausgesprochen freundlich behandelt. Einer der Sender hat ihm sogar einen eigenen Sendeplatz eingeräumt.
     
  3. Kohl hat den Siegeszug des Neoliberalismus eingeleitet – zusammen mit Otto Graf Lambsdorff (FDP) und dem CDU-Politiker Hans Tietmeyer.
    Das Lambsdorff Papier vom 9. September 1982 enthält wichtige neoliberale Weichenstellungen. Das auch vom CDU-Politiker Hans Tietmeyer inspirierte Papier war eine Art Scheidungsurkunde der FDP für die sozialliberale Koalition. s. „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ 
    vom 9. September 1982 im Original.
     
  4. In Kohls Zeit als Bundeskanzler begann die Stagnation der
    Reallöhne und damit die weitere Öffnung der Schere bei der Einkommensverteilung in Deutschland
    . s. dazu einen Beitrag der BfPB.

    Der Niedriglohnsektor hat also nicht mit der Agenda 2010 und mit Gerhard Schröder angefangen. Seine Regierung ist verantwortlich für das Absinken der Reallöhne zwischen 2003 und 2007. Aber eingeleitet wurde diese Entwicklung vorher. Das hat etwas mit dem nächsten Punkt zu tun:
     
  5. In Helmut Kohls Zeit als Bundeskanzler und in seiner Verantwortung wurde die aktive Beschäftigungspolitik begraben.
    Er hat es zugelassen, dass die Bundesbank 1992 den Leitzins vom ohnehin hohen Satz von 8 % auf 8,75 % erhöhte. Damit wurde die Kon-junktur weiter abgewürgt – und damit wurden Arbeit nachfragende Menschen, die Lohnabhängigen, geschwächt. 
  1. Kohls Regierung hat wichtige Reformen der sozialliberalen Koalition kassiert. So hatte die Regierung Schmidt 1975 gleiches Kindergeld für alle eingeführt und die Kindersteuerfreibeträge abgeschafft. Diese wurden von der Regierung Kohl zu Beginn der 1980er Jahre wieder eingeführt. Seither sind dem Staat die Kinder von gut Verdienenden wieder mehr wert als die Kinder von Familien mit geringem Einkommen.
     
  2. Kohl hat als Bundeskanzler die verkorkste Einführung des Euro und damit auch die Krise in Europa mit zu verantworten
    Die deutsche Bundesregierung hätte dafür sorgen müssen, dass im Euro- Raum alles getan wird, damit sich Wettbewerbsfähigkeit, also die Lohnstückkosten, einigermaßen im Gleichschritt entwickelt. Dafür hat sie nicht gesorgt. Die Regierung Kohl hat das Fundament für die unselige Politik der Leistungsbilanzüberschüsse und die Nutzung dieser Entwicklung durch seine Nachfolgerin Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gelegt.

    Wenn jetzt behauptet wird, Kohl habe sich besonders um Europa gekümmert und verdient gemacht, dann ist das schlicht die Unwahrheit. Kohl ist einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass es die heutige Bedrohung für die Europäische Union gibt. Die Krisen in Griechenland, in Spanien, in Italien haben etwas mit seiner Politik zu tun. Wenn das europäische Parlament und die Kommission der EU jetzt Helmut Kohl in einem besonderen Staatsakt ehren wollen, dann ist das zugleich eine Art Ablenkungsmanöver von der gemeinsam produzierten Schwäche der Europäischen Union.
     
  3. In der Zeit Helmut Kohls gab es die größten Privatisierungsaktionen.
    In seiner Zeit wurde die Telekom, die Post und die Energiewirtschaft privatisiert, außerdem eine Reihe von anderen Bundesunternehmen wie zum Beispiel die Bundesdruckerei und von Wohnungsbeständen wie etwa der Eisenbahner-Wohnungen.
     
  4. Die Spendenaffäre von Kohl und seiner Partei ist kein Kavaliersdelikt.
    Es war ein gravierender Anschlag auf das Vertrauen in demokratische Verhältnisse.
    Deshalb müsste man eigentlich überhaupt infrage stellen, ob es für einen Bundeskanzler, der wichtige Informationen über die Zuwendung von Millionen an seine Partei mit ins Grab genommen hat, einen Staatsakt verdient.
     
  5. Helmut Kohl hat sich offensichtlich nicht erfolgreich darum bemüht, mit den Verträgen zur deutschen Einheit zugleich zu regeln, dass die Sonderrechte der Alliierten in Deutschland beendet oder jedenfalls so abgemildert werden, dass man von einem souveränen Land sprechen kann.
     
  • Kohl hat in den neunziger Jahren nichts unternommen, um die NATO abzubauen und dafür zu sorgen, dass sie nicht vom Verteidigungsbündnis zum militärischen Interventionsbündnis umgebaut wird.

                                                                                                                                 *) behutsam gekürzt
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    Helmut Kohls Europa
    Altkanzler Kohl ist tot – und wird von unseren kleinen EU-Politikern sofort als “großer Europäer” vereinnahmt. Auch Kanzlerin Merkel stimmt in den Chor ein. Dabei wollte Kohl ein völlig anderes Europa als sie.
    “Die macht mir mein Europa kaputt”, soll Kohl schon 2011 gesagt haben. Das war auf einem der vielen Tiefpunkte der Eurokrise. Merkel ließ sich damals von Ratingagenturen und Spekulanten treiben.
    “Mein Europa” – das bedeutete Kohl viel. Zwar hat er mit der Wiedervereinigung zuallererst Deutschland und den Nationalismus gestärkt – vor allem auf dem Balkan sollte das fatale Folgen haben.
    Doch der Altkanzler verstand, dass der Anschluss der DDR nicht zum Nulltarif zu haben war. Er überging die Westmächte, ging danach aber auf Russland und vor allem auf Frankreich zu.
    Ob die Einführung des Euro der “Preis” für die Wiedervereinigung war, ist bis heute umstritten. Frankreichs damaliger Präsident Mitterrand nutzte jedenfalls die Gelegenheit, und Kohl schlug ein.
    Zwar wurde der Euro zu deutschen Konditionen eingeführt, “3,0 ist 3,0”, tönte Finanzminister Waigel. Aber Kohl wusste noch, dass die neue Währung ohne politische Union nicht funktionieren werde.
    Er wollte diese politische Union – im Gegensatz zu Merkel, die dieses Ziel offenbar vergessen hat. Frankreich war für ihn der unverzichtbare Partner – und nicht eine lästige Option, wie für Merkel.
     
                                                                                          
    Quelle: Lost in Europe

Kohl war nicht nur zufällig korrupt
Lügen, Gedächtnislücken und leere Versprechungen. Der Altkanzler verstand sich als Dienstleister für Konzerne und Investoren: In der Pfalz, Deutschland und Europa. Er diente den USA. Und sie halfen ihm
In den Würdigungen zum Tod des Alt-Bundeskanzlers taucht „die Spendenaffäre“ routinemäßig als missliches Vergehen Helmut Kohls zum Ende der Amtszeit auf. Die Angelegenheit soll durch die angeblich historischen, ja welthistorischen Verdienste Kohls für die Wiederver-einigung und den Aufbau der Europäischen Union relativiert werden.
Dabei wird mit der “Flick-Affäre” ein wesentlich größerer Skandal ausgeblendet, der schon am Anfang seiner Amtszeit für Wirbel sorgte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich: Korruption, Lobbyismus und Klientel-Politik für die Reichen und Mächtigen sind keine Ausrutscher sondern gehören seit ihrer Gründung zum System der Kohl-CDU.

                                                                                              Werner Rügemer
 

 

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