Die umfassende Frauenstimme
Hermine Kittel - ein Wunder vokaler Spannweite
Stimm- und Gesangs-Interessenten, die ihre Tonträger-Archive nicht nur mit der
Alta società der Jahrhundertvokalisten bestücken, sondern gerade den frühen und verborgenen Preziosen des dokumentierten Gesangs nachgehen möchten, können
in der vorliegenden CD-Edition der HAfG-Acoustics überraschende Funde machen.
Wer deren Rezeption schlüssig mit CD 1 / Track 1 ff. beginnt, vernimmt (kaum getrübt durch
scheppernden Orchesterklang) einen obertonreichen, dabei fülligen Lirica-Soprano mit dem Auftrittsstück der Contessa in Mozarts Nozze di Figaro - trotz deut-scher Textversion voller
„Italianità“, körperhaft im Klang, mit müheloser Platzierung im oberen Stimmbereich, vor allem: mit gut integrierten, schön verblendeten Registern. Eine Art Sopran-Falcon, wie es
scheint
Die Cavatina ist ein Prüfstein für eine primär lyrisch orientierte Sängerin im Zwischen-fach:
Der lineare Aufstieg über die Mittellage zur Vollhöhe erfordert nicht nur Spann-kraft und ausgewogene Atemdosierung, sondern zugleich lyrische Emphase ohne Exaltationen. Der Schreiber dieser Zeilen
hat in den 1960er Jahren erlebt, wie eine Lirica von besonderer Attraktivität des Timbres beim Deutschland-Debüt auf offener Szene in der zentralen Lento-Phrase förmlich kollabierte, vielleicht weil
Lampen-fieber-Nervosität die Konzentration auf leichten Stimmsitz und entspannte Phrasie-rung behinderte. Die Unglückliche wurde wenig später zum Weltstar, auch in dieser Partie: sie hieß Teresa
Zylis-Gara.
Die Sängerin in unserer Edition, hier 1905 vom Trichter eingefangen, hinterließ noch eine
Handvoll ähnlich souverän gesungener Tonaufnahmen im Fach des Lyrischen Soprans, so aus Webers Freischütz oder Lortzings Wildschütz - jedesmal klangvoll,
mit unangestrengtem, schwebend-schwingendem Ton, sauberer Intonation, guter Wort/Ton-Integration. Diese Aufnahmen gehören, wenn nicht zu den Spitzen, so
doch zu den schönen Standards lyrischen Operngesangs.
Doch die Interpretin war keineswegs als Sopran tätig. Sie ist in der Gesangshistorie auch
nicht als Sopran archiviert. Es handelt sich um das Phänomen eines weitge-spannten, grenzüberschreitenden, auf allen Stimm-Etagen und Tessituren leicht ansprechenden, klangschönen, zu dynamischen
Varianten und Steigerungen befähigten Mezzo-Organs und einer Vokalistin, deren Stimmzentrum günstig im Mittelbereich der Frauenstimme gelagert, doch zu unproblematischer Expansion fähig war:
Hermine Kittel.
Sie war die zentrale Mezzo-Universalistin der Wiener Hof-, dann Staatsoper, entdeckt und gefördert von dem vielleicht bedeutendsten ihrer Direktoren: Gustav Mahler.
Hermine Kittel – Mezzosopran, Contralto, Sopran
* 2. Dezember 1879 Wien - † 7. April 1948 Wien
Die Laufbahn dieser erstaunlichen Sängerin begann als Schauspielerin. Das war ihr förmlich vorgegeben: Ihr Vater war der
lokalpopuläre Wiener Volkssänger Wilhelm Kittel. Er selbst bildete die Tochter aus und vermittelte ihr erste Auftritte an mittleren Plätzen der k.u.k. Monarchie. In Laibach (dem heute
slowenischen Ljubljana) erhielt die 19jährige ein erstes Fest-Engagement. Schon eine Spielzeit später wurde sie 1898 als Jugendliche und Liebhaberin ans Mehrspartenhaus Graz verpflichtet. Im dortigen
Bühnenbetrieb war es obligatorisch, dass Sänger auch Sprech- und Mimen nötigenfalls Gesangsrollen übernahmen. Kittel bekam erstmals Gelegenheit zum Bühnengesang in Carl Millöckers Operette Die
sieben Schwaben. Die Resonanz bei Publikum und Kritik war ermutigend Von dann an wurde sie immer öfter im Musiktheater eingesetzt. Ihre Befähigung forderte eine professionelle Ausbildung zur
Bühnensängerin.
Der junge Ruf des Naturtalents erreichte Wien. Dort konnte sie einer Wiener Opernlegende des 19. Jahrhunderts, der ersten
Brünnhilde und Kundry in Bayreuth: Amalie Materna vorsingen. Die große Sopranistin übernahm Hermine Kittels Ausbildung und brachte sie binnen weniger Monate zur Bühnenreife. In den
Spielzeiten 1898 & 1899 sang Kittel in Graz die Magdalena in Kienzls Evangelimann, Floßhilde in Wagners Rheingold, den Prinzen Orlofsky in der Fledermaus und die große
dramatische Partie des Adriano in Wagners Rienzi.
Die Materna stellte sie dem gestrengen Wiener Opernchef Gustav Mahler vor, der sie sofort an sein weltberühmtes Institut verpflichtete.
Im Zentrum des Mahler-Ensembles
Kittels erste Wiener Partien wiesen sogleich auf die Eignung der jungen Hofopernsängerin für
praktisch alle Fächer eines lyrischen Mezzo, dann auch einer profunden Altistin hin - vom lyrisch-beweglichen Mezzo in
Wiener Klassik und deutscher Romantik- wie auch Spieloper bis zu den Contralto-Gestalten im hochdramatischen Musikdrama. Schon 1902, dann 1908, wurde sie zu den Bay-reuther
Festspielen verpflichtet - als Erda und als 1. Norn im Ring des Nibelungen - also zwei dominant-schweren Contralto-Partien, die dort zuvor von „Schwarz-orgeln“ wie Louise Jaide, Ernestine
Schumann-Heink, Ottilie Metzger verkörpert wurden.
Zu diesem Zeitpunkt war Hermine Kittel längst ein Star der Wiener Oper - in einem
unglaublich breiten und vielfältigen Rollenspektrum, mitunter allabend-lich auf der Bühne. Sie blieb hier während 35 Jahren, ungeachtet starker Kolle-ginnen-Konkurrenz (vorrangig mit Sahra Cahier,
Laura Hilgermann, Edyth Walker), die vielleicht wichtigste Wiener Repräsentantin ihres Fachs - sofern
man von einem „Fach“ überhaupt sprechen kann. In 1482 Aufführungen mit kaum glaublichen 110 Partien in 92 Opernwerken stellte sie fach-, werk- und typen-übergreifend einen Vielseitigkeitsrekord auf,
den sonst allenfalls langlebige Comprimario-Darsteller (in kleinen Charakterpartien) zu erreichen pflegen.
Alleskönnerin & Allessängerin
In der Tat finden sich - neben ca. zwei Dutzend solcher Nebenrollen - Haupt- und Mittel-Partien jeder Art und Richtung,
jeder Provenienz und Kultur- bzw. Stilrichtung in Kittels Rollenrepertoire. Und dies, wie zu Teilen auch in Tonauf-nahmen dokumentiert, über alle Zuordnungen hinweg: zwischen Lirica und Drammatica,
faszinierender noch zwischen Contralto, Mezzo-Lirica und sogar Soprano. Eine Aufzählung scheint im Rahmen des von CD-Booklets unmöglich. Exempla
zur Verdeutlichung: Als Contralto die Erda, 1. Norn, Mary, Fidès, Ulrica, Mrs. Quickly, Burya, Principessa, Geneviève, Lucrezia, Magdalene …
Als Mezzo drammatico Adriano, Ortrud, Brangäne, Fricka, Waltraute, Bertha, Azucena, Eboli, Amneris, Rotelse, Klytämnestra … Als Charakter-Mezzo Marcellina, Irmentraud, Ascanio,
Olga, Agnes, Bostana, Mercédès, Herodias, Annina, Dryade, Silla … Als Mezzo lirico Dorabella, Magdalena, Nancy, Djamileh, Siebel, Floßhilde, Giovanna, Preziosilla, Hänsel, Suzuki, Frugola,
Brigitta … Dazu Grimgerde, Rossweiße, Schwertleite im Ring und diverse Mittelpartien ohne Fachzuschreibung.
Macht man sich - auch unter dem Eindruck der verfügbaren Tonbeispiele -
die Wandelfähigkeit (und Wandlungsfähigkeit) der Sängerdarstellerin Kittel klar, wird man sich auch der Souveränität im Wechsel der Tessituren, also Grundeinstellungen der jeweiligen Abendaufgabe ,
bewusst. Vom Contralto
(F-A‘‘) und Dramatischen Alt (G-B‘‘) über die Mezzo-Varianten (G-C‘‘‘) bis Spielalt (G-B‘‘) konnte die Sängerin ihre Disposition flexibel ein- und umstellen. An einigen Stellen ihrer Tonaufnahmen
lässt sie überdies locker durchgeführte Fiorituren hören - so in Azucenas „Lodernde Flammen“ mit klangsatten Trillern. Jürgen Kesting vermerkt: „Glücklich das Theater, das für Waltrautes ‚Des Stammes Scheite‘ oder den Nornengesang ‚An der Weltesche wob ich
einst‘ eine solche
Sängerin im Ensemble hat“.
Beständigkeit und Künstlerschaft
Eine derartige Aufgabenfülle und Präsenzanzahl fesselte die Trägerin solchen Könnens und
Leistungsstandards naturgemäß an ihr Stammhaus. Hermine Kittel fand wenig Zeit für Gastspiele oder gar Übersee-Engagements. Dennoch erlangte sie europaweiten Ruhm. 1910 sang sie beim Salzburger
Mozart-Fest die 3. Dame in der Zauberflöte, bei den Salzburger Festspielen 1922 -1928 die Marcellina in Nozze di Figaro, die Dryade in Ariadne auf Naxos und wieder die 3.
Zauberflöte-Dame. 1914 nahm sie als Falourdel an der Uraufführung von Franz Schmidts Notre Dame teil, 1918 als Burya in der deutschen Erstaufführung von Janáceks Jenufa.
Gastauftritte führten sie vor allem als Konzertsängerin in europäische Musikzentren wie Berlin, Basel, Paris, Brüssel, Prag, Köln, Hamburg, München, Amsterdam … Zu ihren Glanzpartien im Konzertsaal
zählten das Altsolo im
Lied von der Erde von Gustav Mahler wie auch dessen Sinfonie-Soli und Orchesterlieder, alle für tiefe/mittlere Stimme geschrieben.
Hermine Kittel war mit ihrem Wiener Hofopern-Kollegen, dem Bariton Alexander Haidter (1872-1919) verheiratet.
Ihr Bruder, der Dirigent Karl Kittel, war 35 Jahre lang als Musikalischer Assistent und Korrepetitor bei den Bayreuther Festspielen beschäftigt. 1931 gab Hermine ihre Mitgliedschaft im
Ensemble der Wiener Oper auf, blieb dem Institut aber bis zum 30. Juni 1936 als Gast verbunden. Bei diesem letzten ihrer 1482 Auftritte im Großen Haus am Ring gab sie die Gräfin Palmatica in
Millöckers Bettelstudent. Sie nahm weiter am Wiener Kulturleben teil, auch als angesehene Gesangspädagogin.
In Nachschlagewerken wie dem Kutsch-Riemens wird der Sängerin eine „hervorragend-schöne, dunkel glänzende Alt-Stimme“
attestiert. Das trifft gewiss zu - doch offenbaren ihre Tondokumente (1903-1911 + 1925 bei G&T, Odeon, Grammophone - mit den berühmtesten Sängern die Mahler-Ära) eine meist von reinem Mezzo-Klang
geprägte, also zwischen den Farbspektren changierende, höhenstarke, nicht nur flexibel geführte, sondern auch farben-reiche, zu vielfältigen Ausdrucksnuancen befähigte = eine förmlich umfassende
Frauenstimme. Wäre sie eine genuine Sopranistin gewesen, müsste man ihr den Titel Assoluta zuschreiben.
KUS