Glanz und
Würde
Heinrich Schlusnus – der späte
Nachlass
* 6. August 1888 Braubach am Rhein - † 19. Juni 1952 Frankfurt/Main
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Ich bin gestorben dem Weltgetümmel
und ruh‘ in einem stillen Gebiet.
Ich leb‘ allein in meinem Himmel,
in meinem Lieben, in meinem Lied.
Friedrich Rückert
Kein anderer deutscher Sänger der Männerstimmlagen Bariton &
Bass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte ein solches Ausmaß an Ruhm und Popu-larität erreicht wie der Rheinländer Heinrich Schlusnus. Populär in einem gedie-generen Sinn
verstanden als heute gängig und seit den massenmedial geprägten Jahrzehnten von Elektro-Schellack, Radio und Tonfilm mit ihren Starprotagoni-sten Tauber, Schmidt, Kiepura bis Schock, Anders,
Wunderlich, nicht zufällig sämtlich Tenören. Heinrich Schlusnus gewann Dominanz, Ansehen und Brei-tenwirkung über engere Klassik-Publikumskreise hinaus als volkstümlicher und zugleich solitärer
singender Botschafter deutscher Kultur - seit den 1930er Jahren beinahe als deren gesangskünstlerische Verkörperung.
Dem entsprechen die Dokumentationen seines Wirkens in Ton und Wort, in einer Fülle von Einspielungen bei
Plattenindustrie und Funkhäusern, in Nach-schlagewerken, Buchtiteln, biographischen Erinnerungen und analytischen Würdigungen. Im Gegensatz zu den tönenden Hinterlassenschaften fast aller seiner
zeitgenössischen Bariton-Fachkollegen sind seine Laufbahn wie sein Repertoire lückenlos dokumentiert - und ohne Unterbrechung durch technischen, stilistischen oder medialen Wandel umfassend
auf Tonträgern verfügbar.
Von Beginn an Maßstab
Kennern, Sammlern, kulturhistorisch bewanderten Gesangsinteressenten muss man nicht
viel über Person und Laufbahn dieses Sängers erzählen; sie sind in praktisch jedem Fachlexikon und Handbuch umfassend dargestellt. Sein nicht einfacher Beginn: Ausbildung seit 1907 in Frankfurt/M.,
erster Konzertauftritt 1912. Weltkriegseinsatz mit schwerer Verwundung (und bleibender Gehbehin-derung). Bühnendebüt als Wagners Heerrufer 1915 gleich am Hamburger Opernhaus. Engagements dort und in
Nürnberg. Schon 1917 Wechsel an die Berliner Hofoper (Debüt als Wolfram im Tannhäuser). Dann 28 Jahre lang, bis zum Reichsuntergang 1945, Ensemblemitglied an der Staatsoper Unter den
Linden.
Seine Spitzenposition im deutschen, dann auch im italienisch-französischen
Fach wird in den Berliner Bühnenpartien deutlich: Wolfram, Rigoletto, Luna, Germont, Posa, René, Monfort, Carlo di Vargas, Figaro, Zar Peter, Kühleborn, Hans Heiling, Valentin, Zurga, Tonio, Onegin,
Pfitzners Morone, Schrekers Tamare - ergänzt um fast grenzenlos viele Hörstücke anderer Bühnengestalten auf Tonträgern. 1930 als Amfortas in Bayreuth. Seit 1922 Gastspiel- und Recital-star in Europa
und Übersee: Wien, Amsterdam, Brüssel, Antwerpen, Stockholm, Oslo, London, Paris, Zürich, Barcelona, Milano, Rom, Athen, Budapest, Sofia, New York, Chicago, Montreal, Toronto, Kapstadt, Johannesburg
… und in allen Großstädten des deutschen Sprachraums.
Umschulung und Geltungswandel
Heinrich Schlusnus verfügte über das Vokalmaterial eines großvolumigen,
schallkräftigen, doch im Kern lyrischen Baritons. Die Naturstimme war und
blieb für fast ein halbes Jahrhundert von einheitlich nussbraunem, warmem, samtigem, momentweise auch markigem Schönklang. Ausweislich seiner frühen= akustischen Tonaufnahmen ab 1917/19 scheint
seine Grundausbildung am vorherrschenden reichsdeutschen (und Bayreuther) Ideal eines gedeckt-gesetzten Klanggepräges mit abgedunkelter Färbung orientiert gewesen zu sein. Allerdings ist auch in
diesen Hörbeispielen nirgends ein Anklang an den übli-cherweise knorrig-borkigen Ton großer Vertreter dieses Typs zu hören. Man bekommt die gleichsam lyrische Version eines Charakter- und vielleicht
künf-tigen sog. Heldenbaritons zu hören - mit auch artikulativ und singdarstellerisch autoritativer Ausstrahlung. Von der ersten Einspielung - schon zum Berliner Debüt - an (und bis zu den letzten
Mitschnitten 1951/52) ist meisterliche Phra-sierung zu hören, dazu die Kunst, den Text in körperhaften Klang zu betten. Es wundert darum nicht, dass etwa der britische Experte John Steane
von einem „German Battistini“ schreibt.
Ob der Sänger das selbst so empfand, ist fraglich. Am ersten Höhepunkt seiner Karriere begab er sich noch einmal in
eine stimmbildnerische Betreuung bei dem arrivierten Gesangsmeister Louis Bachner, u.a. Lehrer der Weltrang-Altistinnen Sigrid Onegin & Karin Branzell. Der Schlusnus-Biograph Eckart von
Naso berichtet: „Schlusnus hatte in seiner Jugend den Instinkt für freien und ungekünstelten
Naturgesang, der dann in seiner Lehrzeit verschüttet worden war. Damals wurde die Stimme infolge des beliebten sogenannten „Deckens“ kehlig, dunkel und unfrei im Ton. Durch die Bachnersche Methode
schälte sich das gültige Timbre heraus, und die Stimme erhielt eine mühelos strahlende Höhe. So konnte Schlusnus einfach singen, wie man spricht, natürlich und deutlich … Bachner: „Mit Zinsen singen,
nicht mit dem Kapital.“
Die Umschulung hatte allerdings gravierende Wirkungen. Bei Wahrung des unverwechselbaren schönen samtigen Timbres
gewann die Schlusnus-Stimme starke Aufhellung bis in Tenor-Nähe. Der Klangstrom entfaltete sich
freier, die Tonproduktion wirkte schlanker, die Höhe gewann strahlende Exuberanz. Doch das hatte einen Preis: Das nie sehr voluminös-satte Tiefenregister des Sängers hatte weiter an Resonanz
eingebüßt, schien nun beinahe „wegtrainiert“. Jürgen Kesting verweist auf ein typisch krasses Beispiel: „Richard Strauss‘ Zueignung -
in der hohen Lage mit strahlender Gespanntheit gesungen, in der tiefen mit körperlosem Piano gehaucht.“
Stärken und Schwächen
Kesting weiter: „Technisch wurde die Stimme mit schöner Bindung geführt, aber der
Vortrag zeichnete sich nicht durch Finessen oder Brillanz aus. Verzierte oder rasch zu artikulierende Musik forderte Schlusnus bis an seine Grenzen und zuweilen, wie in Figaros
Largo al factotum, auch über sie hinaus, Zwar formt er dort einen feinen Triller, aber die Parlando-Technik ist mäßig … Auch die Atemreserven reichen nicht … Vor allem merkt man ihm an, dass er
nicht ist, was er singt … Aber sein Ruhm beruht ja nicht auf seinen Rossini- oder Mozart-Aufnahmen …“
Mit diesen Hinweisen, die von der Mehrheit kritischer Gesangshistoriker geteilt werden, ist eine Seite der Kunst des
Heinrich Schlusnus angesprochen, die man vielleicht als „prototypisch deutsch“, jedenfalls als un- oder gar anti-mediterran ansehen darf. Die Persönlichkeit des Interpreten, die
sich hinter der sängerischen und vokalen Gestaltung als character-in-voice vermittelt, wirkt im Fall Schlusnus meist ein wenig bieder, gesetzt, gemessen. Es fehlt Esprit, Flamboyance,
Bravado. Er war ein Barde, kein Interpret mit temperamentischer Klanggestik, nicht der Vermittler ambivalanter (charmanter oder abgrundschlechter) Charaktere. Und in seiner Domäne, dem Liedgesang,
war er auch kein Genius differenzierter Ausdruckskontraste. Er beeindruckte, gewann und überwältigte mit klanglicher Opulenz, tonmalerischer Kantabilität und aufrichtiger Empfindung. Vor allem seine
lehrbuchhafte Fähigkeit zur Klangsteigerung wird zurecht gerühmt. Eine Unart, die man als Intonationsfehlerhaftigkeit werten kann, mindert den Gesamt-eindruck: ein häufiges „hm-Anjapsen“ am
Beginn von Phrasen, die dann - vor allem im Mezzoforte und Piano - berückend schön entfaltet werden. Kontraste, die kaum erklärbar scheinen.
Der Liederfürst
Schon am 25. April 1918 - vor nunmehr 100 Jahren - sang Heinrich Schlusnus seinen
ersten Liederabend. Am Ende seiner Laufbahn konnte er mehr als 2000 Recitals in aller Welt bilanzieren. Sie waren es, die ihn in einem nur mit der Popularität von Glamour-Weltstars vergleichbaren
Ausmaß zum Gesangsparnass erhoben. Mit Schlusnus habe die Geschichte des neueren Liedgesangs begonnen, sagt ein verbreitetes Diktum, das sich auf diese Leistung und ihre Wirkungen stützt. Andere
Urteile verweisen wohlbegründet auf Alternativen: etwa Gerhard Hüsch, der als wohl erster Bariton Schuberts, Beethovens, Schumanns Liedzyklen komplett für die Schallplatte aufnahm (HMV
1927-33). Oder Herbert Janssen, der neben seiner weltweiten Opernkarriere früh mit Liederabenden auftrat und als zentraler Liedsänger der großen Hugo-Wolf-Edition (HMV 1931-1938)
doku-mentiert ist. In ähnlicher Bedeutungsstellung auch Friedrich Schorr (der nach Desmond Shawe-Taylor „größte Wagner-Bariton des Jahrhunderts“) oder Alexander Kipnis (der „Heifetz
der Stimme“).
Vorrangig diese Sänger und noch ein gutes Halbdutzend dazu waren bedeu-tende, stilbildende und damit folgenreiche
Liedgestalter. Doch keiner setzte sich so passioniert, ubiquitär und nahezu allumfassend mit dem - großenteils seit Jahrzehnten nicht aufgeführten - Liedrepertoire des 19., dann auch des beginnen-den
20. Jahrhunderts auseinander wie Heinrich Schlusnus. Es bedurfte schon eines Wiedergängers mit noch weiter gespannten Liedrepertoires, weltwirkender Präsenz und medialer Ausstrahlung, dabei sehr
anderer Stimmausstattung und Stilausrichtung, um solche Wirkung und Geltung neu zu vermessen: Dietrich Fischer-Dieskau, Liedregent der zweiten Jahrhunderthälfte.
Von diesem, der sich auch als Fachautor zur Gesangs- und Liedinterpretation geäußert hat, stammt eine nicht
unwichtige Anmerkung (in seiner Abhandlung ‘Auf den Spuren der Schubert-Lieder‘): „Als der wohl Populärste unter den Schubert-Apologeten jener Jahre muss Heinrich Schlusnus genannt werden, der über
bestechend schönes Stimmmaterial verfügte… Nichtsdestoweniger dürften es seine Intonations-schwankungen und musikalische Ungenauigkeiten … schwer haben, vor heutigen Ansprüchen zu
bestehen.“
Wer diesem Hinweis im übervollen Lieder-Trackarchiv von Schlusnus nachgeht, wird dafür zahlreiche Belegstellen
finden. Dass es sein tönender Nachlass den-noch auf Dauer nicht so „schwer hat, vor heutigen Ansprüchen zu bestehen“, mag über Nostalgie und außermusikalische Appeals hinaus eine Erklärung finden,
die seine Witwe Annemay Schlusnus so formulierte: „Sein Liedgesang war weniger von stilistischen Nuancierungen als von einer natürlichen Seelenaussprache geprägt. Er ließ die Musik für sich
sprechen. Seine interpretative schlichte Klarheit schuf Sinnfälligkeit. So faszinierte und gewann er ein weltweites Publikum auch und gerade einfacher Menschen.“
Unbekannt gebliebene Schätze
Bis 2018, dem hundertsten Jahr seit seinem ersten Liederabend, schien die tönende
Hinterlassenschaft des Opern- und Lied-Baritons Heinrich Schlusnus nahezu lückenlos dokumentiert - von der Acoustic-, dann Electric-Schellack-Ära über LP, 45-Single und MC bis in die CD-Epoche, also
bis heute. Die ersten Aufnahmen des Opernsängers liegen in zwei CD-Ausgaben vor, die späteren Arien-Sammlungen in einer Portrait-Box und die veröffentlichten Liedaufnah-men in vier Boxen
„Liederalbum“ bei Preiser Records, dazu späte Opern-Gesamtaufnahmen von Wagners Tannhäuser, Verdis Rigoletto und zuletzt Die sizilianische Vesper. Man durfte getrost davon
ausgehen, auch lange nach seinem allzu frühen Tod den „ganzen Schlusnus“ auf jeweils aktuellen Tonträgern greifbar zu haben. Kein Dokumentarist, kein Sammler hätte vermutet, dass es eine weitere
Kollektion gebe - mit seit 75 und mehr Jahren unbekannten, weil durchweg unveröffentlichten oder nur kurzzeitig greifbar gewesenen Trou-vaillen: Radio- & Grammophon-Test- und Archivaufnahmen,
Tonfilm-Sound-tracks, Privatmitschnitten, darunter auch Repertoire-Raritäten.
Alle diese Fundsachen und Raritäten waren auf Unikat-Platten und Magnet-bändern aus den Aufräum- und
Neuordnungsmühen im zerstörten ehemaligen Reichsrundfunkbetrieb wie aus den Ruinen der Filmstudios und Grammophon-gesellschaften gerettet, dann an die Familie Schlusnus ausgelagert worden. Der Sänger
war kinderlos, seine Nachfahren sahen keine unmittelbare Verwendung; sie übergaben den musikalischen Nachlass an den szenebekannten Vokalhisto-riker, Sammler, Archivar Michael Seil -
als Herausgeber und Kommentator spek-takulärer Gesangskunst- & Sänger-Editionen ausgewiesen und als Initiator der Reihe HAfG-Acoustics ständiger Partner des Hamburger Archivs. Seiner ord-nenden
Auswertung und Neu-Kompilation verdankt sich diese - im Weltangebot historischer Gesangsaufnahmen als spektakulär anzusehende - CD-Edition:
Heinrich Schlusnus - der späte
Nachlass.
KUS