Voraussetzungen des Kunstgesangs

 

Organfunktionen

Das zu jeder stimmlichen Äußerung notwendige Organ ist der Kehlkopf. Er ist ein Ringmuskel, bestehend aus den Stimmlippen mit dem Faserzug des Stimmbands und dem Stimmlippenmuskel. Im Bereich der Stimmlippen vollzieht sich die Tonproduktion: Der Ton wird vom ausströmenden Luftstrom (aus der Lunge und den zugeordneten Organen wie Rippen + Atmungsmuskeln) unterhalten. Der Klang ist formbar im Bereich des Ansatzrohrs, in den Rachenräumen: dem Mundraum, dem Nasenrachenraum und den Nasenräumen. Für professionellen Kunstgesang sind weiter wichtig die mit dem Klang mitschwingenden Körperteile, sogenannte Resonatoren wie Brustbein und Oberkiefer. Die Resonatorenbezirke sind für die Ausbildung des Körperempfindens bei der Stimmentfaltung und für die Tragfähig-keit der Gesangsstimme von Bedeutung.

 

Atmung und Tonbildung

Mit der Zwerchfell-Bauchatmung gelingt es, die größtmögliche Energie an die Stimmlippen heranzuführen. Bei der Einatmung senkt sich die Zwerchfellkuppel und vergrößert den Brustraum. Die Organe im Bauchraum drücken die Bauchdecke elastisch nach oben. Töne können nur bei der Ausatmung produziert werden. Dabei zieht sich die passive Bauchmuskulatur zusammen und gibt ihre Kraft auf das Zwerchfell weiter, das sich dadurch im Brustkorb nach oben bewegt und den Atemstrom in Gang setzt. Beim Singen soll der Atem nicht nur energiereich sein, sondern auch flexibel an die beabsichtigte Dynamik angepasst werden können.

Das Zwerchfell wirkt als Einatmungsmuskel und als Ausatmungsstütze. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, kommt es zur vollständigen Umwandlung der Strömungsenergie des Atems in Klangenergie. Mit einem populären Experiment lässt sich das erläutern: Bei einem TV-Auftritt sang der Tenor Carlo Bergonzi einen langen, zum Fortissimo anschwellenden hohen Ton und hielt dabei eine brennende Kerze vor den Mund — die Flamme flackerte nicht. Die gesamte Strömungsenergie des großen Belcantisten war in Klang umgewandelt.

Der menschliche Stimmklang baut sich aus einem Grundton und aus harmonischen Obertönen auf. Der Grundton stimmt immer mit der Schwingungszahl der Stimmlippen überein. Die Stimmlippen bilden über muskuläre Bewegung periodisch die Frequenz des Grundtons — zwischen 70 und 1035 Hz (von d bis c‴). Von der anatomischen Anlage des Stimmorgans ist der Schwingungsgrad und damit der individuelle Stimmtypus = die Tonhöhenlage (Tessitura) der jeweiligen Stimme abhängig: Hohe Stimmen haben kurze, breite // tiefe Stimmen hingegen lange, relativ schmale Stimmlippenmuskeln.

Durch eine optimale Vorspannung — also eine besonders gute Weitung der unteren Brustkorbpartie bei gehobenem oberem Atemkörper — kann das Zwerchfell bestmöglich fungieren; es arbeitet sodann aus der größtmöglichen Spannung. Die Weitung des gesamten Brustkorbs ermöglicht eine optimale Atemregulation. Der Ton ruht und bewegt sich auf einer beherrscht aufsteigenden Luftsäule (… wie ein Tischtennisball auf der Krone einer Fontäne) Der Brustkorb entfaltet Resonatoreigenschaften, vor allem für die Grundtöne. Das verbessert die Tonbildung.

 

Stimme ist noch gar nichts.

Der professionelle Kunstgesang entstand etwa beim Wechsel vom 16. zum 17. Jahr­hundert und bildete sich im Barock zu einer verbindlichen Schule aus. Im 18. Jahr­hundert gab es zweimal eine Goldene Ära des Gesangs: ca. 1720 bis 1740 die Ära der Kastraten, ca. 1770 bis 1790 das Aufkommen der großen Soprane als Primadonnen. Anfang des 19. Jahr­hunderts lagen die umfassenden Werke bedeutender Gesangstheoretiker und ‑lehrer vor; sie bildeten ein bis heute gültiges, das Ideal vorgebendes Regelwerk heraus. Erst mit der Erweiterung des primär lyrischen und virtuosen Bühnengesangs zum musikalischen Drama (vom späteren Meyerbeer + Halévy über Berlioz bis zur umwälzenden Wirkung Wagners und seiner Adepten) wich die reine Kunst der dramatischen, oft äußerlichen Kraft des Ausdruckssingens bis zu den stimmruinierenden Extrem-Einsätzen im Verismo.

Diese Entwicklung ist wesentlich abhörbar am Einsatz der roh hinaufgetriebenen Bruststimme auch für Hochtöne und der dunklen Einfärbung des Tongepräges zur sog. Voix sombrée; durchwegs zum Zweck eines leidenschaftlich, brütend oder dräuend anmutenden Ausdrucks. Dabei gingen die Ideale einer flexiblen, belebten, atmend-schwingenden Phonation und der Fähigkeit zu vielseitigem bis virtuosem Umgang mit dem Instrument Stimme — durch Verzierungen/Ornamente und künstlerische (nämlich: rein musikalische und vokale!) Ausdrucksformen — sukzessive verloren. Sie gelangten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hunderts zu neuer Attraktivität und in gewissem Ausmaß auch zu neuer Verbindlichkeit.

Die in beschränkter Zahl verfügbaren authentischen alten und in großer Zahl neu entstehenden Tondokumente belegen: Die Beherrschung der klassischen Schule (nicht nur zur Interpretation von Belcanto-Werken, sondern als Grundlage jedes künstlerischen Singens — vom Barock über das Musikdrama bis zur Moderne) beweist durchwegs deren Überlegenheit, Maßstäblichkeit, Gültigkeit. Sie eröffnet dem Sänger ganze Welten musikalischer wie auch ausdrucksgestischer Möglichkeiten. Sie erhält die Stimmen frisch, beweglich, ausdrucksintensiv, leuchtkräftig — auch bei hoher und andauernder Beanspruchung. Hingegen weisen unzureichend ausgebildete, in ihren Einsatzradien beschränkte oder nur forciert (eindimensional, grobschlächtig, phantasielos) benutzte Stimmen nicht nur viel weniger Farben, Nuancen, Ausdrucksdimensionen und Gestaltungsoptionen auf — sie sind auch meist schnell verbraucht, schadhaft, vor anspruchsvoller Vokalmusik hilflos.

 

Essenz:

Die Stimme ist Rohmaterie. Die Regeln liefern das Werkzeug.
Erst die Art des Gebrauchs macht das Instrumentarium kunstfähig.

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© Klaus Ulrich Spiegel