Ruggiero Leoncavallo (1858 ‑ 1919)

Der Bajazzo

I Pagliacci

 

Oper in zwei Akten mit einem Prolog

Uraufführung: 21. Mai 1892 Milano, Teatro dal Verme
Libretto vom Komponisten
Deutsche Fassung von Ludwig Hartmann

TV-Produktion des Südwestfunks
r. 1962 Baden-Baden

Leitung: Nello Santi

 

Canio, Haupt einer Komödiantentruppe Hans Hopf
Nedda, seine Frau Melitta Muszely
Tonio, Komödiant Marcel Cordes
Beppo, Komödiant Murray Dickie
Silvio, ein junger Bauer Hermann Prey
1. Bauer Alfred Drewitzky
2. Bauer Kurt Egon Opp

 

Chor des Südwestfunks
SWF Sinfonieorchester
 



Am Beginn der Verismo-Epoche

 

Ort und Zeit: Montaldo (Kalabrien), Mariä Himmelfahrt 1865

 

Dicht am Puls des Lebens der einfachen Menschen und des Alltagslebens sein, Leidenschaften ungefiltert und wirkungsmächtig auf die Bühne bringen — das waren die künstlerischen Ziele des Verismo. Der Begriff benennt den Naturalismus in der italienischen Literatur, der die Theaterbühne mit erfasste.

Im späten 19. Jahrhundert prägte er dann auch die Oper. Schon mit Ponchiellis La Gioconda liegt ein veristisches Werk vor. Doch eigentlich dauerhafte Epochenwirkung, die sich im Opernschaffen eines halben Jahrhunderts ausdrücken sollte, ging erst von den Neuschöpfungen seit 1890 aus, an deren Beginn Mascagnis Reißer Cavalleria Rusticana steht. Leoncavallo, dessen Pagliacci zeitgleich entstanden waren, gelangte erst verspätet in eine Parallelstellung, weil sein Werk in zwei Akten mit Prolog konzipiert ist, also im großen Novitäten-Wettbewerb des Verlagshauses Sanzogno, der nur Einakter berücksichtigte, nicht erfasst wurden, somit Mascagnis Sensationserfolg nicht im Wege standen.

Dass in einer jahrzehntelangen Opernpraxis beide Werke in gemeinsamer abendfüllender Aufführung zum Verismo-Exempel schlechthin wurden, ist bekannt.

 

Ruggiero Leoncavallo, der seine Textbücher stets selbst schrieb, ließ sich für seinen Welterfolg I Pagliacci von einem realen Kriminalfall inspirieren, terminier- und lokalisierbar. Die Opernhandlung folgt den Polizeiakten: Eine fahrende Komödiantengruppe hält Einzug im Städtchen. Sie wird überschwenglich begrüßt. Alles freut sich auf die Aufführung einer Stegreifkomödie um den gehörnten Bajazzo und dessen treulose Gattin. Canio, das Haupt der Truppe, spielt den Bajazzo, seine Frau Nedda die flatterhafte Colombina. Doch das ist nur Theater — oder? Canio will sich nichts anderes vorstellen. Doch Nedda knüpft erotische Bande mit dem Bauern Silvio. Vom bei Nedda abgeblitzten Tonio wird Canio darauf gestoßen. Er bricht seelisch zusammen, muss sich dennoch zum Theaterspiel aufraffen. Auf offener Szene wird er im Strudel der Eifersucht zur Raserei fortgerissen, wendet die Handlung in die Realität, provoziert ein Eingreifen des Rivalen, ersticht ihn und die ungetreue Frau. Die Show ist am Ende: La commedia è finita!

 

Der Dichterkomponist ist sich der theoretischen Grundlagen seines Dramas bewusst. Im Prolog legt er sie dem Komödianten Tonio in den Mund — das Wesen des Verismo als künstlerische Ausdrucksform lebensnaher Wahrhaftigkeit. Kompositorisch stellt er den Gegensatz von spielerischen und graziösen Tanzformen (Menuett, Sarabande, Gavotte) in der Werk-im-Werk-Burleske und eine effektgeladene leidenschaftlich-hochdramatische freie Tonsprache im Drama einander gegenüber. Markante Chöre und Solo- wie auch Ensemblestücke von großer Eindringlichkeit prägen die musikalische Umsetzung des Stoffs in einer durchkomponierten Partitur. Diese repräsentiert trotz arioser Phasen und Momente völlige Abkehr von der klassisch-romantischen Oper. Einflüsse des Wagnerschen Musikdramas sind unverkennbar, sogar in leitmotivischen Themensetzungen nachweisbar. Seine enorme Wirkkraft verdankt das Werk aber der beredsamen Darstellung menschlicher Gefühle und Leidenschaften durch Gesang, insofern immer noch aus der Macht des vordergründig überwundenen Belcanto.

 

Die Pagliacci wurden zwei Jahre nach der Cavalleria in Milano unter Leitung des jungen Arturo Toscanini mit weltberühmten Solisten uraufgeführt: Fiorello Giraud als Canio, Adelina Stehle als Nedda und Victor Maurel (Verdis erster Jago) als Tonio. Der Erfolg war so sensationell wie der von Cavalleria. Das Werk ging schnell über die Opernbühnen der Welt, hatte auch in deutscher Fassung spektakulären Erfolg (Kaiser Wilhelm II lud Leoncavallo ein, erteilte den Kompositionsauftrag für einen Berliner Stoff, die Oper Der Roland von Berlin). Die Hauptpartien wurden zu Paraderollen für die großen Sänger des 20. Jahrhunderts. Berühmtester Canio war Enrico Caruso. Unzählige Soloaufnahmen und Dutzende von Gesamteinspielungen belegen die Popularität des fest im weltweiten Repertoire präsenten Werks bis heute. Auch die deutschen Opernhäuser führen es immer wieder auf. Unser Tondokument ist die Tonspur einer TV-Produktion der deutschen Fassung vom damaligen Südwestfunk 1962 unter dem verismo-kompetenten Maestro Nello Santi mit einer damals erstrangigen deutschen Besetzung.

 


 

Interpretationsstandards
einer intakten Opernszene

 

 

Die Veröffentlichung dieser Werkkombination zweier Werke aus dem Verismo-Spektrum in deutschsprachigen Versionen hat über den archivarischen Wert hinaus einen Anlass: die zentrale Mitwirkung eines der wichtigsten und bewunderungswürdigsten Sänger der Nachkriegs-Ära in Deutschland und Europa — des Italienischen Baritons deutscher Zunge Marcel Cordes, als Verdi- und Belcanto-Bariton wie als Universalist, auch Moderne-Spezialist, unverwechselbar und ohne echte Nachfolge geblieben. Seine allzu raren Tonaufnahmen und mit ihm seine Spur in der Gesangsgeschichte drohten seit Ende der LP-Ära in Vergessenheit zu fallen. Eine CD-Edition beim HAfG und Wiederveröffentlichungen von Rundfunkaufnahmen beleben die Erinnerung an ihn aufs Neue. Reverenza zum 90. Geburtstag am 11. März 2010!

Nello Santi (∗ 1931) zählt zu den international gefragtesten Dirigenten der Opernszene in der Tradition etwa von Victor de Sabata und Tullio Serafin. Er studiert am Liceo Musicale in Padua Komposition und Gesang, erst später Orchesterleitung. Am Teatro Verdi von Padua debütiert er als Dirigent mit Verdis Rigoletto. Ab 1958 ist er 11 Jahre lang Chefdirigent am Opernhaus Zürich und 10 Jahre beim Schweizer Radio-Sinfonieorchester. Seither gastiert er vor allem mit weitgespanntem italienischem Opernrepertoire in aller Welt: in Wien, London, Paris, New York, Buenos Aires, München, Hamburg, Oslo, Venedig, Milano, Roma, Arena di Verona, NHK Tokyo und 30 Jahre lang an der Metropolitan Opera New York. Sein Opernrepertoire umfasst über 60 Werke, so von Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini, Mascagni, Leoncavallo, Boito, Giordano, Cilea, Wolf-Ferrari, Zandonai, Bizet, Massenet, Berlioz. Doch ebenso umfangreich ist sein Konzertrepertoire von Klassik und Romantik bis zur Moderne mit Werken von Mozart, Beethoven, Brahms, Wagner, J. Strauß, Tschaikowsky, R. Strauss, Prokofiev, Rimskij-Korsakov, Borodin, Berlioz, Dvorak, Saint-Saëns, Debussy, Ravel, Strawinsky, Respighi, Pizzetti, Dallapiccola, Martucci. Nello Santi gilt als ein Fels in der internationalen Opernszene, universell orientiert, flexibel, improvisationsstark — sein Kernrepertoire hat er abrufbar im Kopf.

 

Marcel Cordes (∗ 1920 Stelzenberg/Pfalz ‑ † 1992 Wörgl/Tirol); eigentlich Kurt Schumacher. Absolvent der Musikhochschulen von Kaiserslautern und Mannheim, Schüler von Richard Schubert und Fritz Krauss, studierte Tenor- und Baritonpartien. Debütierte als Bariton, begann aber als Tenor im Lirico-Spinto-Fach, kam über Kaiserslautern ans Nationaltheater Mannheim, studierte um und begann ab 1951 am Staatstheater Karlsruhe eine zweite Karriere als Bariton. Sie führte ab 1954 als Ensemblemitglied an die Bayerische Staatsoper, von dort mit Teilverträgen an die großen Häuser in Berlin, Düsseldorf/Duisburg, Stuttgart, Köln, Zürich, mit Gastspielen auch in Hamburg und Wien, schließlich an große europäische Musikbühnen wie Staatsoper Wien, Scala di Milano, San Carlo Neapel, La Monnaie Brüssel, Grand-Théâtre de Genève, Opéra de Paris, zuletzt mit weiterem Vertrag an der Volksoper Wien. Er wurde als deutscher Bariton von Weltrang berühmt — namentlich in Verdi-Partien, mit Rigoletto, Nabucco, Renato, Simone Boccanegra, Posa und Ford im Mittelpunkt, doch auch mit Werken des Belcanto, Verismo, deutscher Spieloper und Spätromantik, schließlich von Richard Wagner und Richard Strauss. 1962 ‑ 64 sang er bei den Bayreuther Festspielen. Einer Einladung an die New Yorker Metropolitan Opera konnte er 1956 wegen Terminproblemen nicht folgen. Er war auch im Konzertsaal präsent, unter bedeutenden Dirigenten und als Liedsänger. Ab 1956 entstanden Schallplatten, seit 1955 weit mehr Rundfunkeinspielungen, dazu Operngesamtaufnahmen und TV-Auftritte. Cordes galt als Spezialist für Opernpartien des 20. Jahrhunderts — so von R.Strauss, Pfitzner, Orff, Egk, Strawinsky, Sutermeister. Die Ertaubung eines Gehörgangs steigerte die Belastungen des Sängers in exzessiver Bühnenpraxis, dann wurde eine Diabetes-Erkrankung diagnostiziert. Als er diese 1969/70 nicht mehr ignorieren konnte, zog Cordes sich von der Bühne zurück. Er lebte bis zu seinem Tod in Tirol. Ein Sängerstipendium In memoriam Marcel Cordes bei der Tiroler Academia Vocalis erinnert an den außerordentlichen Künstler.

 

Hans Hopf (∗ 1916 ‑ † 1993) gehörte zur Spitzengruppe deutscher Tenöre zwischen den 1940er und 1970er Jahren. Er wurde in München bei dem großen Bassisten Paul Bender ausgebildet, debütierte schon 1936 als Linkerton in Madame Butterfly am Bayrischen Landestheater, war 1939 ‑ 42 als Lyischer Tenor in Augsburg, dann als Soldat 1942 ‑ 44 am Deutschen Theater in Oslo engagiert. Nach dem Weltkrieg erweiterte er sein Fachspektrum zum Spinto und Heldentenor. 1946 ‑ 50 sang er im Ensemble der Berliner Staatsoper; 1948 ‑ 49 auch an der Dresdner Semperoper. Seit 1949 war er ein Star der Bayerischen Staatsoper München, zugleich mit Gastvertrag der Wiener Staatsoper verbunden. 1951 sang er Stolzing in Wagners Meistersingern bei der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele, 1955 den Kaiser in Frau ohne Schatten und Radames in Aida bei der Eröffnungsfestwoche am großen Haus der Wiener Oper. In Bayreuth gab er 1951/52/60 Stolzing, 1964 Froh, 1960 ‑ 64 Siegfried, 1965/66 Tannhäuser, 1966 Parsifal. 1952 ‑ 55 und in den 1960ern war er an der New Yorker Met engagiert. Gastauftritte hatte er an der Mailänder Scala, Grand Opéra Paris, Covent Garden London, Teatro Colón Buenos Aires, regelmäßig auch an der Deutschen Oper am Rhein. Bei den Salzburger Festspielen 1954 sang er den Max im Freischütz. Eine weltweite Karriere führte ihn nach Zürich, Genf, Neapel, Rom, Amsterdam, Monte Carlo, Stockholm, Lissabon, Barcelona, Mexico City, ans Bolschoj Theater Moskau, San Francisco, Chicago, Rio de Janeiro, auch zum Maggio Musicale Fiorentino. Hopf hatte eine italienisch geschulte, große, doch flexibel geführte dramatische Tenorstimme, konnte von Puccini bis zu den Heldenpartien von Wagner und R. Strauss, bis Othello und Tristan überzeugen. Ein Tropfen Essig im Timbre machte seine Stimme unverwechselbar und nicht für jedermann genussreich. Im Herbst seiner Laufbahn übernahm er auch dramatische Charakterpartien. Eine Fülle guter Tondokumente ab 1940 hält die Erinnerung an ihn wach. Der Canio in dieser TV-Produktion gibt ein repräsentatives Hörbild seiner Sängerpersönlichkeit.

 

Melitta Muszely (∗ 1927). Die gebürtige Wienerin aus ungarischer Familie studierte Klavier und Gesang am Wiener Konservatorium. 1950 debütierte sie am Opernhaus Regensburg. 1953 ‑ 68 war sie Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper. Dort wirkte sie in Opern-Uraufführungen mit: 1955 in Křeneks Pallas Athene weint, 1963 in Klebes Figaro lässt sich scheiden. Muszely hatte mehrere Gastverträge, so mit der Berliner Staatsoper und der Komischen Oper Berlin, der Wiener Staatsoper und am Opernhaus Zürich. 1959 sang sie an der Komischen Oper Berlin alle vier Frauengestalten (Olympia, Antonia, Giulietta, Stella) in Hoffmanns Erzählungen in Walter Felsensteins verfilmter Inszenierung. An der Wiener Staatsoper sang sie von 1963 bis 1967 Partien im Fachbereich des Dramatischen Koloratursoprans. Internationale Gastspiele führten sie an die Opernhäuser von Paris, Venedig, Lissabon, an alle großen Häuser des deutschen Sprachraums, zu den Festivals von Salzburg und Edinburgh. Ihr Spektrum reichte von Soubrettenrollen bis zu Verdis Violetta und R. Strauss’ Arabella. Sie war auch eine populäre Operettendiva. Sie hinterließ zahlreiche exzellente Schallplattenaufnahmen.

 

Hermann Prey (∗ 1929 ‑ † 1998) ist sicherlich der populärste deutsche Bariton der zweiten Jahrhunderthälfte, an Breitenwirkung nur mit Film/TV-Lieblingen wie Schock und Rothenberger vergleichbar. Sein Spektrum war unübersehbar breit, von der Bach-Passion bis zum Musical. Im Zentrum seiner Fachzuschreibungen standen Partien für Lyrischen und Spielbariton, namentlich in Werken der deutschen Spieloper und der Buffa, dazu Figuren mit Eleganz oder Komödiantik. Prey hatte einen weltweiten Ruf als Liedsänger auf drei Kontinenten, wurde zeitweise als Konkurrent für Fischer-Dieskau vermarktet. Nach dem Studium an der Hochschule für Musik in Berlin (u. a. bei Jaro Prohaska) hatte er 1952 einen Preis beim Wettbewerb Meistersinger errungen. Bald darauf wurde er Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper, von dort aus rasch gefragter Gast an allen deutschen und internationalen Bühnen und bei den wichtigsten Festspielen, vor allem in Salzburg und Bayreuth. Schon 1960 gelangte er als Wolfram im Tannhäuser an die Metropolitan Opera New York. Er produzierte zahllose Schallplatten aus sämtlichen Gesangsfächern: Oper und Operette, Konzert und Oratorium, Kunst- und Volkslieder, eine große Lied-Edition, dazu Rundfunksendungen aller Art, schließlich eine eigene TV-Show. Er begründete die Schubertiade Hohenems und die Musiktage Urach. In den 1980ern begann er Meisterkurse zu geben. Unter dem Titel Premierenfieber veröffentlichte er 1981 eine Autobiographie. Noch kurz vor seinem Tod ist er 1998 mit einem Liederabend in München aufgetreten.

 

Murray Dickie (∗ 1924 ‑ † 1995) stammte aus Schottland, war Schüler von Dino Borgioli und Guido Farinelli in Mailand, dann auch an der Wiener Musikakademie. Debütierte als Tenore di grazia in London, war 1949 ‑ 52 am Covent Garden verpflichtet, wechselte dann in ein Engagement an der Staatsoper Wien, wo er bis 1981 wirkte und 48 Partien für Tenore leggiero und Buffo darstellte — so 149‑mal als Pedrillo und 198‑mal als Basilio. Er war ständig Mitwirkender der Salzburger Festspiele und Gast an vielen internationalen und weltberühmten Häusern, vor allem der englischen und mediterranen Kulturkreise. Mit Buffo‑ und Charakterpartien war er eine europäische Institution, doch reüssierte er auch als lyrischer Tenor, vor allem im Konzertsaal, etwa in Mahlers Lied von der Erde. Die Zahl seiner Auftritte ist so endlos wie vielfältig, ebenso mannigfach seine Mitwirkung in Einspielungen und Mitschnitten von Opern, Oratorien, Konzertwerken. Auch als Liedsänger und Operettenstar war er berühmt.

 

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© Klaus Ulrich Spiegel