Johann Wolfgang von Goethe

 

An Schwager Kronos

Spute dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg.
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Zaudern.
Frisch, holpert es gleich,
Über Stock und Steine den Trott
Rasch ins Leben hinein!

Nun schon wieder
Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf!
Auf denn, nicht träge denn,
Strebend und hoffend hinan!

Weit, hoch, herrlich der Blick
Rings in's Leben hinein,
Vom Gebirg' zum Gebirg'
Schwebet der ewige Geist,
Ewigen Lebens ahndevoll.

Seitwärts des Überdachs Schatten
Zieht dich an,
Und der Frischung verheißende Blick
Auf der Schwelle des Mädchens da.
Labe dich! Mir auch, Mädchen,
Diesen schäumenden Trank,
Diesen frischen Gesundheitsblick!

Ab denn, rascher hinab!
Sieh, die Sonne sinkt!
Eh' sie sinkt, eh' mich Greisen
Ergreift im Moore Nebelduft,
Entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlotternde Gebein.

Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug',
Mich geblendeten Taumelnden
In der Hölle nächtliches Tor.

Töne, Schwager, ins Horn,
Rassle den schallenden Trab,
Dass der Orcus vernehme: Wir kommen,
Dass gleich an der Türe
Der Wirt uns freundlich empfange.

 



 

Prometheus

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Musst mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

 

Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn' als euch Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.

 

Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrt ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

 

Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?

 

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?

 

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?

 

Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!


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Paralipomena zu FAUST I

Satan:
Die Böcke zur Rechten,
Die Ziegen zur Linken!
Die Ziegen, sie riechen.
Die Böcke, sie stinken.
Und wenn auch die Böcke
Noch stinkiger wären,
So kann doch die Ziege
Des Bocks nicht entbehren.

Satan, nach rechts:
Euch gibt es zwei Dinge,
So herrlich und groß:
Das glänzende Gold
Und der weibliche Schoß.
Das eine erschaffet,
Das andre verschlingt.
Drum glücklich, wer beide
Zusammen erringt.

Satan, nach links:
Für euch sind zwei Dinge
Von köstlichem Glanz:
Das leuchtende Gold
Und ein glänzender Schwanz.
Drum wisst euch, ihr Weiber,
Am Gold zu ergötzen
Und mehr als das Gold
Noch die Schwänze zu schätzen!

 


                                          Johann Wolfgang von Goethe
                                         
(* 1749 Freie Stadt Frankfurt / † 1832 Weimar)

 

 

 

 

Friedrich Schiller

Der Ring des Polykrates (1797)

 

Er stand auf seines Daches Zinnen,
Er schaute mit vergnügten Sinnen
Auf das beherrschte Samos hin.
"Dies alles ist mir unterthänig,"
Begann er zu Ägyptens König,
"Gestehe, daß ich glücklich bin." -

"Du hast der Götter Gunst erfahren!
Die vormals deines Gleichen waren,
Sie zwingt jetzt deines Scepters Macht.
Doch Einer lebt noch, sich zu rächen;
Dich kann mein Mund nicht glücklich sprechen,
So lang des Feindes Auge wacht." -

Und eh der König noch geendet,
Da stellt sich, von Milet gesandt,
Ein Bote dem Tyrannen dar:
"Laß, Herr, des Opfers Düfte steigen,
Und mit des Lorbeers muntern Zweigen
Bekränze dir dein festlich Haar!

"Getroffen sank dein Feind vom Speere,
Mich sendet mit der frohen Märe
Dein treuer Feldherr Polydor -"
Und nimmt aus einem schwarzen Becken,
Noch blutig, zu der Beiden Schrecken,
Ein wohlbekanntes Haupt empor.

Der König tritt zurück mit Grauen.
"Doch warn' ich dich, dem Glück zu trauen,"
Versetzt er mit besorgtem Blick.
"Bedenk', auf ungetreuen Wellen -
Wie leicht kann sie der Sturm zerschellen -
Schwimmt deiner Flotte zweifelnd Glück."

Und eh er noch das Wort gesprochen,
Hat ihn der Jubel unterbrochen,
Der von der Rhede jauchzend schallt.
Mit fremden Schätzen reich beladen,
Kehrt zu den heimischen Gestaden
Der Schiffe mastenreicher Wald.

Der königliche Gast erstaunet:
"Dein Glück ist heute gut gelaunet,
Doch fürchte seinen Unbestand.
Der Kreter waffenkund'ge Schaaren
Bedräuen dich mit Kriegsgefahren;
Schon nahe sind sie diesem Strand."

Und eh ihm noch das Wort entfallen,
Da sieht man's von den Schiffen wallen,
Und tausend Stimmen rufen: "Sieg!
Von Feindesnoth sind wir befreiet,
Die Kreter hat der Sturm zerstreuet,
Vorbei, geendet ist der Krieg!"

Das hört der Gastfreund mit Entsetzen.
"Fürwahr, ich muß dich glücklich schätzen!
Doch," spricht er, "zittr' ich für dein Heil.
Mir grauet vor der Götter Neide;
Des Lebens ungemischte Freude
Ward keinem Irdischen zu Theil.

"Auch mir ist alles wohl gerathen,
Bei allen meinen Herrscherthaten
Begleitet mich des Himmels Huld;
Doch hatt' ich einen theuren Erben,
Den nahm mir Gott, ich sah in sterben,
Dem Glück bezahlt' ich meine Schuld.

"Drum, willst du dich vor Leid bewahren,
So flehe zu den Unsichtbaren,
Daß sie zum Glück den Schmerz verleihn.
Noch Keinen sah ich fröhlich enden,
Auf den mit immer vollen Händen
Die Götter ihre Gaben streun.

"Und wenn's die Götter nicht gewähren,
So acht' auf eines Freundes Lehren
Und rufe selbst das Unglück her;
Und was von allen deinen Schätzen
Dein Herz am höchsten mag ergötzen,
Das nimm und wirf's in dieses Meer!"

Und Jener spricht, von Furcht beweget:
"Von Allem, was die Insel heget,
Ist dieser Ring mein höchstes Gut.
Ihn will ich den Erinen weihen,
Ob sie mein Glück mir dann verzeihen,"
Und wirft das Kleinod in die Fluth.

Und bei des nächsten Morgens Lichte,
Da tritt mit fröhlichem Gesichte
Ein Fischer vor den Fürsten hin:
"Herr, diesen Fisch hab' ich gefangen,
Wie keiner noch ins Netz gegangen,
Dir zum Geschenke bring' ich ihn."

Und als der Koch den Fisch zertheilet,
Kommt er bestürzt herbeigeeilet
Und ruft mit hocherstauntem Blick:
"Sieh, Herr, den Ring, den du getragen,
Ihn fand ich in des Fisches Magen,
O, ohne Grenzen ist dein Glück!"

Hier wendet sich der Gast mit Grausen:
"So kann ich hier nicht ferner hausen,
Mein Freund kannst du nicht weiter sein.
Die Götter wollen dein Verderben;
Fort eil' ich, nicht mit dir zu sterben."
Und sprach's und schiffte schnell sich ein.

 

Johann Christoph Friedrich Schiller (1759-1805),

geadelt 1802. Dichter, Philosoph, Historiker, Mediziner. Gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker, Lyriker und Essayisten.

 

 

Adelbert von Chamisso

 

(Parodie auf zeitgemäße Schauerballaden)

Der arme Sünder

Zu Grüneberg in der längsten Nacht,
In später Geisterstunde,
Erbrauset mit Schneegestöber der Sturm,
Die Eule kreischet im alten Turm,
Und ängstlich winseln die Hunde.


Im untern Dorf in des Schulzen Haus
Vermehret ein Traum das Grauen;
Die Frau schreit auf: “Mein Kind! mein Kind!
Auf, Vater, auf! Zum Förster geschwind,
Nach unserm Sohne zu schauen!


“Was sollte dem Burschen geschehen sein?
Verscheuche mit Beten die Träume!
Zum Förster ist
s weit, der Pfad ist verschneit;
Schlaf ein! schlaf ein! ’s ist Schlafenszeit,
Es sind ja Träume nur Schäume.”


“Unsägliches muss ihm geschehen sein,
O Vater, bedenke das Ende!
Er saß im Bette, verstört und bleich,
Und rang, dem armen Sünder gleich,
Verzweiflungsvoll die Hände!”


Es grauset dem Vater bei solchem Wort;
Da will er den Gang doch wagen.
Er kleidet sich an, er eilet hinaus
Durch Nacht und Sturm nach dem Jägerhaus,
Nach seinem Kinde zu fragen.


Kaum atmend erreicht er das Haus und beginnt,
An Tür und Fenster zu schlagen:
“Wach auf, du Förster! und öffne mir bald!
Ist hier mein Jürgen oder im Wald?
Was hat sich zugetragen?”


Der lässt ihn ein, er fragt ihn aus,
Es will ihn seltsam bedunken:
“Dein Jürgen schläft. Gesund und rot,
Hat gestern er noch zum Abendbrot
Gegessen wie zwei und getrunken.”


“Ich will ihn sehen! ich muss ihn sehn!”
Den Förster rührt der Jammer.
Er treppenhinauf mit dem Alten steigt,
Er öffnet die Tür, die sich da zeigt,
Er leuchtet ihm in die Kammer.


Und was sie sehen –! Es sträubt sich ihr Haar
Zu Berge, sie stehen versteinert.
Der sitzt im Bette verstört und bleich
Und ringt, dem armen Sünder gleich,
Die Hände verzweifelt und weinet.


“Was ist geschehn? – “Nichts! nichts! hinweg!” –
“O sprich! was hast du begangen?” –
“Ich kanns nicht sagen!” – “Entdeck es uns nur!
Wir schwören dir hier den heiligsten Schwur,
Du sollst Vergebung erlangen.”


“O wie ihr doch zudringlich seid!
Und wollt ihrs, und mü
sst ihr es wissen,
Ich hab – ich weiß nicht, wie es kam,
Ich hab – es überfällt mich die Scham,
Ich hab ins
Bett ––––
                               desunt quaedam in manuscripto.”

Die Weiber von Winsperg

 

Der erste Hohenstaufen, der König Konrad, lag
Mit Heeresmacht vor Winsperg seit manchem langen Tag;
Der Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest,
Die unverzagten Städter, die hielten es noch fest.


Der Hunger kam, der Hunger! Der ist ein scharfer Dorn;
Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn.
“Ihr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert,
Und öffnet ihr die Tore, so trifft euch doch das Schwert.”


Da sind die Weiber kommen: “Und muss es also sein,
Gewährt uns freien Abzug, wir sind vom Blute rein.”
Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt,
Da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt.


“Die Weiber mögen abziehn, und jede habe frei,
Was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei!
Lasst ziehn mit ihrer Bürde sie ungehindert fort!”
Das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort.


Und als der frühe Morgen im Osten kaum gegraut,
Da hat ein selt‘nes Schauspiel vom Lager man geschaut;
Es öffnet leise, leise sich das bedrängte Tor,
Es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Schritt hervor.


Tief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht,
Sie tragen ihre Ehherrn, das ist ihr liebstes Gut.
“Halt an die argen Weiber!” ruft drohend mancher Wicht;
Der Kanzler spricht bedeutsam: “Das war die Meinung nicht.”


Da hat, wie er‘s vernommen, der fromme Herr gelacht:
“Und war es nicht die Meinung, sie haben‘s gut gemacht;
Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht,
Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht.”


So war das Gold der Krone wohl rein und unentweiht.
Die Sage schallt herüber aus halbvergessner Zeit.
Im Jahr elfhundertvierzig, wie ich‘s verzeichnet fand,
Galt Königswort noch heilig im deutschen Vaterland. 

 

Adelbert von Chamisso
(*
30. 1. 1781, Sivry-Ante, Frankreich / †: 21. 8. 1838, Berlin)

 

Frank Wedekind 

 

Erdgeist

Greife wacker nach der Sünde;
Aus der Sünde wächst Genuss,
Ach du gleichest einem Kinde,
Dem man alles zeigen muss.


Meide nicht die ird´schen Schätze:
Wo sie liegen, nimm sie mit.
Hat die Welt doch nur Gesetze,
Dass man sie mit Füßen tritt.


Glücklich wer geschickt und heiter
Über frische Gräber hopst.
Tanzend auf der Galgenleiter
Hat sich keiner noch gemopst.

 



Schluss

Ich wusste ehmals nichts davon,
Bin unschuldsvoll gewesen,
Bis dass ich Wielands Oberon
Und Heines Gedichte gelesen. -


Die haben sodann im Lauf der Zeit
Mein bisschen Tugend bemeistert.
Ich träumte von himmlischer Seligkeit
Und ward zum Dichten begeistert.


Auch fand ich, das Dichten sei keine Kunst,
Man müsst' es nur einmal gewohnt sein. -
Ich sang von feuriger Liebesbrunst,
Von Rosenknospen und Mondschein;


Besang der Sonne strahlendes Licht.
Viel Schönes ist mir gelungen.
Jeweilen mit dem schönsten Gedicht
Hab' ich mich selber besungen.


Und folgte treu der gegebenen Spur
Auf meine Muster gestützet;
Schrieb viele Bogen Makulatur. -
Wer weiß, zu was sie noch nützet? -


Und wenn das Dichten so weitergeht,
So darf ich im Tode behaupten:
Am Ende war ich doch ein Poet,
Obwohl es die wenigsten glaubten.

 


  

Tingel-Tangel

(Ballade)

Trauert nicht, ihr Völkerscharen,

Ob der schweren Zeit der Not.
Packt das Leben bei den Haaren,
Morgen ist schon mancher tot.


Küssen, um geküsst zu werden,
Lieben, um geliebt zu sein,
Gibt’s ein schöner Los auf Erden
Für ein artig Mägdelein?


Ja, die Liebe ist mein Credo,
Meines Lebens Inbegriff,
Und so werd’ ich zum Torpedo,
Ach, für manches Panzerschiff.


Ach, mir ist zu Mut, als stünde
Mir geschrieben im Gesicht:

Eine grauenvoll’re Sünde
Als die Tugend gibt es nicht!

Fürchte nichts, mein süßer Schlingel;
In der schweren Not der Zeit
Freut der Mensch sich nur im Tingel-

Tangel seiner Menschlichkeit.

Bei dem allgemeinen Mangel
Idealer Seelenglut
Trefft ihr nur im Tingel-Tangel,
Was das Herz erheben thut.


Saht ihr einen süß’ren Engel
Je zu eurem Zeitvertreib
Als ein hübsches Tangel-Tengel-
Tingel-Tongel-Tungel-Weib?


Tuben schmettern, Pauken dröhnen,
Schrille Pfeifen gellen drein,
Spenden dem Gesang der Schönen
Ihre Jubel-Melodein.


Wie die Sturmflut, unermüdlich,
Tönt des Konterbass’ Gebrumm;

Und die Schöne lächelt friedlich
Nieder auf das Publikum.

Ach, da werden wider Willen
Aller Augen patschenass,
Kneifer türmen sich auf Brillen,

Und davor das Opernglas.

Trommelwirbel und Geklingel!
Lauter dröhnt der Pauken Ton;
Und im Taumel tanzt die Tingel-
Tangel-Tänzerin davon.


Und nun schwillt das dumpfe Gröhlen
Zum Radau bei Alt und Jung,
Und aus tausend Männerkehlen
Wälzt sich die Begeisterung.


Doch das Mädchen ist entschwunden,
Hat sich auch vielleicht derweil
Schon mit Schnüren losgebunden
Ihrer Reize größten Teil.


Lang noch hallen tiefgestöhnte
Liebesklagen rings umher;

Doch umsonst, das heißersehnte
Mädchen kokettiert nicht mehr.

 


 

Herr von der Heydte
(Zur Gitarre)

Vor dem Münchner Zensor,
Herrn von der Heydte,
Macht nun auch Lessing
Moralisch Pleite.


Jüngst ward durch einen
Grausam roten
Zensurstrich Minna
Von Barnhelm verboten.


Denn alles, um das sich
Dies Schandstück dreht,
Ist heillose, freche
Perversität.


Die Minna, längst ahnt es
Der Zensor schon,
Ist eine verkappte
Mannsperson.


Und in Tellheim witterte
Er schon immer
Ein schamlos verkleidetes
Frauenzimmer.


Damit sich der Zensor
Nun kann überzeugen,
Dass ihnen das richtige
Geschlecht zu eigen,


Ward von beiden um
Die Erlaubnis gebeten,
In ihren Rollen
Nackt aufzutreten.


Ja, sie wollten des kurzsichtigen
Zensors wegen
Sogar ein kleines
Tänzchen einlegen.


Herr von der Heydte
Rast und tobt,
Und beim heiligen Ignatius
Hat er gelobt:


Eher tilg' er die
Literatur von der Erde,
Als dass Minna von Barnhelm
Nackt getanzt werde.


Dies Schandstück, in dem
Die Verliebten verkehren
Mit gänzlich vertauschten
Geschlechtscharakteren.


Wofür lässt sich
Von der Heydte bezahlen?
Für den Weltrekord
In Kulturskandalen!


Verendet an ihm
Auch München, die Kunststadt,
Berlin lacht heiter:
Schadet det uns wat?

 



Der Tantenmörder
 

Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ich hatte bei ihr übernachtet
Und grub in den Kisten-Kasten nach.


Da fand ich goldene Haufen,
Fand auch an Papieren gar viel
Und hörte die alte Tante schnaufen
Ohn Mitleid und Zartgefühl.


Was nutzt es, dass sie sich noch härme -
Nacht war es rings um mich her -
Ich stieß ihr den Dolch in die Därme.
Die Tante schnaufte nicht mehr.


Das Geld war schwer zu tragen,
Viel schwerer die Tante noch.
Ich fasste sie bebend am Kragen
Und stieß sie ins tiefe Kellerloch. 


Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ihr aber, o Richter, ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.


                           Frank Wedekind

                            (* 1864 Hannover / 1918 München)      

 

Karl Kraus

 

Zum ewigen Frieden

 

"Bei dem traurigen Anblick nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander selbst anthun, erheitert sich doch das Gemüth durch die Aussicht, es könne künftighin besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil selbst gesät haben, nicht einernten werden."

 

Nie las ein Blick, von Thränen übermannt,
ein Wort wie dieses von Immanuel Kant.


Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft
die heilige
Hoffnung dieser Grabesschrift.

Dies Grab ist ein erhabener Verzicht:
"Mir wird es finster, und es werde Licht!"


Für alles Werden, das am Menschsein krankt,
stirbt der Unsterbliche. Er glaubt und dankt.


Ihm hellt den Abschied von dem dunklen Tag,
dass dir noch einst die Sonne scheinen mag.


Durchs Höllentor des Heute und Hienieden
vertrauend träumt er hin zum ewigen Frieden.


Er sagt es, und die Welt ist wieder wahr,
und Gottes Herz erschließt sich mit "und zwar".


Urkundlich wird es; nimmt der Glaube Teil,
so widerfährt euch das verheißne Heil.


O rettet aus dem Unheil euch zum Geist,
der euch aus euch die guten Wege weist!


Welch eine Menschheit! Welch ein hehrer Hirt!
Weh dem, den der Entsager nicht beirrt!


Weh, wenn im deutschen Wahn die Welt verschlief
das letzte deutsche Wunder, das sie rief!


Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg.
Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.


Doch über jedes Königs Burg und Wahn
schritt eines Weltalls treuer Untertan.


Sein Wort gebietet über Schwert und Macht
und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht.


Und seines Herzens heiliger Morgenröte
Blutschande weicht: dass Mensch den Menschen töte.


Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt:
Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!

 

Abschied und Wiederkehr
Offenbarung

Löst sich die Lust von ihrem letzten Lohn,
so klammert sich ans
Herz ein Klageton.

O ewiger Abschied ewiger Wiederkehr –
wohin entrinnst du, und wo kommst du her!


Du Echo, das mit einer Nymphe ruft
in der Geschlechter
 unnennbare Kluft!

Du Stimme, die mit einer Nymphe weint,
weil die Natur
 so trennt, was sie vereint –

Schmerzvoller Nachhall der Unendlichkeit!
Du Angst
 des Blickes in die Endlichkeit!

Durch alle Schöpfung blutet dieser Riss –
Echo klagt immer wieder um Narziss.


Hat es der Schöpfer denn gewollt, gewusst?
Lust so von Lust verkürzt, ergibt Verlust.


Lebendige Lust, du klagst am Sarg der Lust,
von deren Tod du selber sterben musst.


Du Grabwind, Leid und Lied zum eignen Grab,
du willst nicht in den finstern Tag hinab.


So leuchtend war die Nacht; der Tag ist grau.
Entlässt die Nacht den Tag, so weint sie Thau.


Stumm ist die Wonne, der das Wort entspringt.
Lust weckt den Geist, der ihr kein Wort entringt.


Du letzter Laut, der mir von weit her spricht,
mir wird die Sprache, du bist das Gedicht!


Du reichstes Glück, das im Gewinn verlor,
du größte Kraft, die an der Glut erfror,


du Augenblick der Liebestodesangst,
der du dich selber zu verlieren bangst –


verweile Augenblick, du bist so schön!
Ich sag's zu ihm. Ich hab das Aug gesehn!

Der Führer

 

Der Entwicklung Sehenswürdigkeiten
weist er als ein vielgewandter Führer.
Vorwärts, rückwärts, links und rechts zu schreiten,
all dies lehrt und klärt euch nach Gebühr er.

Wellenberge sind und Wellentäler,
vielverwickelt der Entwicklung Bänder:
vorgezeichnet zeigt er es dem Wähler
faktisch, praktisch, taktisch am Kalender.

Anders noch als jenen frommen Springern
muss im Zickzackkurs es uns gelingen.
Diesen Fortschritt darf man nicht verringern,
wenn zwei vor und drei zurück wir springen.

Daß der Feind 
heut frech, lässt sich erklären
und dazu noch mit Bestimmtheit sagen:
Wenn wir Sieger nicht besiegt nun wären,
könnten wir nicht einst ihn wieder schlagen.

Ja, wir haben in der Hand die Massen,
ja da kann der Gegner sich verstecken:
blind gehorchen sie, wenn wir sie lassen
stracks und imposant die Waffen strecken.

Wisst ihr nicht, ihr Herrn, wie nur erwogen
wir den Kampf, und schon ward er beschlossen.
Kaum war der Befehl zurückgezogen -
schon, ihr Herrn, gehorchten die Genossen.

Seht euch vor und kommt heran, ihr Herren,
da könnt ihr gleich wieder was erleben:
Mögt ihr noch so dreist vom Siege plärren,
nun wohlan - wir werden uns ergeben!

Viribus unitis: weil bescheiden
es hienieden und auch stets genügt hat,
dass am Wiener Hofe für den Frieden
die Partei entscheiden obsiegt hat.

Matsch, ja diplomat'sch wie diese Ahnen,
doch bei weitem weiser als die Kaiser
lenken wir die braven Untertanen,
aber eingedenkt der Lorbeerreiser.

Geht es gut, wir werden vorwärts schreiten!
Kommt es anders - nun, Sie werden lachen,
denn dann kommt aus längst verklungenen Zeiten
auch der Trost: Da kann ma halt nix machen!

Was da ist, ihr Herren, es ist mal gegeben;
so und so: es ist diktiert vom Datum.
Die Doktrin lässt vielen Spielraum eben
noch fürs alte österreich'sche Fatum.

 

Der große Betrug

 

Ein Stahlbad, sagten sie, sei der Krieg,

ein wahrer Krafterneuerer.
Da war bis zum unabwendbaren Sieg
uns das Vaterland
 täglich teurer.

Wir haben ihm Gut und Blut
 gezollt,
um dies Gefühl
zu beweisen.
Bald kam die Zeit, wo man uns für Gold
nur Dreck gab und kein Eisen.

Sie haben uns den Magen genährt
mit dem Trost
 der besseren Zeiten.
Bis dahin konnten sie ungestört
ein Diebstahlbad sich bereiten.

 

Der Letzte

 

In manchem waren sie doch nicht zu tadeln,
was immer sonst Habsburgs Häupter vollbrachten:
sie verstanden den richtigen Unwert zu adeln
und waren perfekt in verlorenen Schlachten.

Einstens, wenn Kaiserwetter uns lachte,
so war's doch sehr schön, wenngleich miserabel,
wie alles gemütlich und würdig verkrachte,
Gemischtsprachenhandlung und Sündenbabel.

Der uns mit weiser
 Handso geführt hat
in das Verderben, ließ uns nie vergessen,
da er uns die Blutsuppe eingerührt hat,
dass sichs gehört, sie korrekt auch zu essen.

Aber bei weitem schon nicht so pedantisch
war, der als letzter zu herrschen erkoren.
Seit Menschengedenken ging so dilettantisch
keine Schlacht, keine Macht, keine
 Ehre verloren.

Der Zeuge

 

Fluch, Kaiser, dir! Ich spüre deine Hand,
an ihr ist Gift
 und Nacht und Vaterland!
Sie riecht nach Pest und allem Untergang.
Dein Blick
 ist Galgen und dein Bart der Strang!


Dein Lachen Lüge und dein Hochmut Hass,
dein Zorn ist deiner Kleinheit Übermaß,
der alle Grenze, alles Maß verrückt,
um groß zu sein, wenn er die Welt zerstückt.


Vom Rhein erschüttert ward sie bis zum Ganges
durch einen Heldenspieler zweiten Ranges!
Der alten Welt warst du doch kein Erhalter,
gabst du ihr Plunder aus dem Mittelalter.


Verödet wurde ihre Phantasie
von einem ritterlichen Weltkommis!
Nahmst ihr das Blut aus ihren besten Adern
mit deinen Meer- und Luft- und Wortgeschwadern.


Nie würde sie aus Dreck und Feuer geboren!
Mit deinem Gott hast du die Schlacht verloren!
Die offenbarte Welt, so aufgemacht,
von deinem Wahn um ihren Sinn gebracht,


so zugemacht, ist sie nur Fertigware,
mit der der Teufel zu der Hölle fahre!
Von Gottes Zorn und nicht von seinen Gnaden,
regierst du sie zu Rauch und Schwefelschwaden.


Rüstzeug des Herrn! Wir werde ihn erst preisen,
wirft es dich endlich zu dem alten Eisen!
Komm her und sieh, wie sich ein Stern gebiert,
wenn man die Zeit mit Munition regiert!


Lass deinen Kanzler, deine Diplomaten
durch dieses Meer von Blut und Tränen waten!
Fluch, Kaiser, dir und Fluch auch deiner Brut,
hinreichend Blut, ertränk sie in der Flut!

Ich sterbe, einer deutschen Mutter Sohn.
Doch zeug' ich gegen dich vor Gottes Thron!

Einem sozialdemokratischen Würdenträger

 

Republikanische Regel sei's:
Soll's dir in allen Lagen gelingen,
gelang nicht in jede;
geh nicht aufs Eis,
wo sie die Kaiserhymne singen;
spar deine Rede.
Hast du vonm Natur
 den elastischen Schritt,
nimm ihn nicht mit.
Bist aber urban du und konnivent,
sei's bis ans End'.
Ziehn alle den Hut vor einem Schemen,
so ist's nicht gut, ihn nicht abzunehmen.
Männerstolz vor Königsthronen
zeig lieber, den Festen nicht beizuwohnen,
woselbst sie errichtet
und wo man trachtet, wie der Kernstock gedichtet.
Ist jene zu stürzen dir nicht gelungen,
bleib fern dem Platz, wo ihr Lob wird gesungen;
bei Gespenstern, die wir nicht konnten verjagen,
soll's dem, der es wollte, nimmer behagen;
lass dich dort, wo du nichts als die Schlacht
 hast verloren,
nicht bemerken unter Honoratioren.
Lässt aber du durchaus dir's nicht nehmen,
sollst ihren Sitten dich anbequemen
und unter PENclubpatronen und Ballpatronessen
niemals deren Sitten vergessen.
Machst du mit den Alfanz,
tu's voll und ganz.
Denn erscheinst unter Bürgern du als Meister,
so mußt du kleben mit ihrem Kleister.

 

Bekenntnis

Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der Sprache wohnen.


Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben,
ich breche aus und ich zerstöre Theben.


Komm’ ich auch nach den alten Meistern, später,
so räch’ ich blutig das Geschick der Väter.


Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen
An  allen jenen, die die Sprache sprechen.


Bin Epigone, Ahnenwerthes Ahner.
Ihr aber seid die kundigen Thebaner!

 

 

Karl Kraus
(* 28. 4. 1874, Jicin / †: 12. 6. 1936, Wien)

 

 

 

Kurt Tucholsky

 

Rheinische Republik

Hier offenbart sich erst die Größe:
Als es in Frankreich vorwärts ging,
aß man die dicken Stahltrustklöße
und warb für einen U-Boot-Ring.


Das hetzt und zetert, treibt und rummelt:
„Werft Bomben über ganz Paris!“
Und jene Presse schreibt und schummelt,
wie Ludendorff die Wege wies.


Nun aber steht doch schon bei Bölsche
vom Liebeswerk in der Natur.
*)
So schnitt nun plötzlich unsre Kölsche
Volkszeitung der Entente die Cour.


Denn heute geht’s uns nicht zum Besten.
Denn heute lohnt die Treue nicht.
Denn heute sind’s nicht mehr die Gesten …
Man muss auch tun, was man verspricht.


Doch dafür sind sie nicht zu haben.
Im Kriege krähen? Gern, es sei!
Doch nunmehr überkömmt die Knaben
verdammte Eigenbrödelei.


Ist das nicht alter deutscher Jammer?
Das spaltet dieses Land entzwei:
Ein jeder will ‘ne eigne Kammer.
Verdammte Eigenbrödelei!


Und jeder hat Privatmeriten.
Und jeder spielt Zentralgewalt.
Sanft lächeln heimlich Jesuiten:
Wie alt ist dieses Lied. Wie alt!


Sie schleichen in der Nacht, gleich Dieben,
sich von uns fort – wir sind allein.
Und nur ein Trost ist uns geblieben:
Es werden nicht die Besten sein.


                *) Wilhelm Bölsche / Das Liebesleben in der Natur (1+2 Leipzig, 1900)


 



 

Auftrittslied

Wir Bürger in Deutschland, wir haben’s nicht leicht.
Wir führen ein trauriges Leben.
Wir müssen, was irgend der Fiskus erreicht,
dem Steuerbureau übergeben.
Die goldnen Preziosen, getragene Hosen,
geräucherte Schweine, gestempelte Scheine.
Zum Glück hab ich alles schon längst in Luzern.
Sonst wär‘s etwas für ‘nen einzelnen Herrn!


Es gab im November riesigen Krach.
Es stürzten die Kronen herunter.
Und es ward auch dem Volke so bang und so schwach,
die Rechte, sie bleibt doch stets munter.
Sie hetzte im Kriege, erschwindelte Siege.
Sie schiebt noch nach Flandern die Schuld auf die andern.
So hörst du Herrn Graefe
*) vom Vaterland plärrn …
Das ist etwas viel für ‘nen einzelnen Herrn!
Ja, das ist etwas viel für ’nen einzelnen Herrn!


Matthias*), mein Mond, o du Vater der Nacht!
Du leuchtest im silbrigen Scheine.
Was hast du schon alles im Leben gemacht
(du weißt schon, wie ich das meine).
Warst Annexioniste und mal Pazifiste.
Jetzt sprichst du die Wahrheit in leuchtender Klarheit.
Mal bist du beliebt, dann hat man dich gern.
Das ist etwas viel für ‘nen einzelnen Herrn!
Ja, das ist etwas viel für ’nen einzelnen Herrn!


O Lärm und Spektakel! O Reichsmilitär!
Ich ginge so gerne nach Hause.
Hier Streik und da wieder das alte Heer -
stumm stehe ich unter der Brause.
Es fehlen die Kohlen, es schmälen die Polen,
Revolten am Tiber, dumpf grollen die Schieber …
Die Erde ist doch ein vergnüglicher Stern.
Das ist etwas viel für ‘nen einzelnen Herrn!
Ja, das ist etwas viel für ’nen einzelnen Herrn!


                   *) Albrecht von Graefe (MdR / DNVP)
                       Matthias Erzberger (MdR / Reichsminister, Feme-Opfer /Zentrum)

 

 



 

Die wählende Familie

Der Vater las in seiner Zeitung
von Greul und Bolschwistenschreck.
Er wünscht sich eine starke Leitung -
er wünscht die Demokraten weg.
Er hing an Ludendorffens Ruhme
und an dem bessern Bürgertume …
            Der Rest war ihm ganz einerlei -
            drum wählt‘ er Deutsche Volkspartei.


Die Mutter ärgert sich voll Kummer:
Die Köchin Anna ist so frech!
Durch Zufall sah sie eine Nummer
der Freiheit – äh! Wer glaubt so’n Blech!
Zwei fünfzig kosten jetzt die Schoten.
Wer schuld ist? Die verfluchten Roten!
            Der Rest war ihr ganz einerlei -
            drum wählt‘ sie Deutsche Volkspartei.


Der Sohn ist ein noch junger Richter.
Er prostet mit dem Staatsanwalt.
Aufglühen die Mensurgesichter:
„Der große Umschwung kommt nun bald.
Der Teufel hol die Reichstagsbude!
Erzberger … der verdammte Jude …!“
            Der Rest war ihm ganz einerlei -
            Drum wählt‘ er Deutsche Volkspartei.


Die Tochter war Seminaristin.
Sie probt den neuen Frühjahrshut
und sagt dann freundlich zur Modistin:
„Dem niedern Volk geht’s viel zu gut!“
Ihr Bräutigam kriegt in vollem Maße
den Zaster aus der Bendlerstraße …
            Der Rest war ihr ganz einerlei -
            Drum wählt‘ sie Deutsche Volkspartei.


Das ist der Bürger, den wir haben,
von Bolschewikenfurcht zerknüllt.
Selbst Juden wählen jene Knaben,

Die eben noch „Hep-Hep“ gebrüllt.
Die Jungen denken wie die Alten:
„Wenn wir bloß unser Geld behalten!“
            Der Rest ist Neese heut wie nie.
            Gott segne Deutschlands Bourgeoisie!


 



 

An einen Bonzen

Einmal waren wir beide gleich.
Beide: Proleten im deutschen Kaiserreich.
Beide in derselben Luft,
beide in gleicher verschwitzter Kluft.
Dieselbe Werkstatt - derselbe Lohn –
derselbe Meister – dieselbe Fron –
beide im selben elenden Grubenloch …
            Genosse, erinnerst du dich noch?


Aber du, Genosse, warst flinker als ich.
Dich drehen, das konntest du meisterlich.
Wir mussten leiden, ohne zu klagen,
aber du – du konntest es flüssig sagen.
Kanntest die Bücher und die Broschüren,
wusstest besser die Feder zu führen.
Treue um Treue – wir glaubten dir doch.
            Genosse, erinnerst du dich noch?


Heute ist das alles vergangen.
Man kann nur durchs Vorzimmer zu dir gelangen.
Du rauchst nach Tisch die dicken Zigarren.
Du lachst über Straßenhetzer und Narren.
Weißt nichts mehr von alten Kameraden,
wirst überall gerne eingeladen.
Du zuckst die Achseln beim Hennessy
und vertrittst die deutsche Sozialdemokratie.
Du hast mit der Welt deinen Frieden gemacht.


Hörst du nicht manchmal in dunkler Nacht
eine leise Stimme, die mahnend fragt:
            „Genosse, schämst du dich nicht?“

 

 



 

Opposition! Opposition!
Der Mehrheits-Sozialdemokratie ins Stammbuch.

Jetzt aber los! Jetzt werden wir was erleben!
Jetzt wird sich eine Opposition erheben:


Da werden die Mäuler aufgerissen!
Da schlägt das sozialnationale Gewissen,
da schütteln sich Fäuste im ganzen Land,
gegen Hindenburg! Da wackelt die Wand.
Jetzt ist alles freiheitlich und sozial.
Auf einmal - ?


Auf einmal Verteilung des Steuergewichts?
Auf einmal taugt der Geßler
*) nichts?
Auf einmal: Freiheit der Denker und Dichter?
Auf einmal: Die Schande der deutschen Richter?
„Für die Freiheit der Schule! Der Republik ein Spalier!“
Ausgerechnet ihr.
Im Kampf gegen die Militärschweinerein
standen wir jahrelang allein.
Da war keiner von euch zu sehn.


Wann sind denn die schlimmen Dinge geschehn?
Als ihr an der Macht wart. Mit euren Leuten.
Das hat auf einmal nichts zu bedeuten?
Jetzt, wo es in euren Parteikram passt,
tut ihr, als ob ihr mit uns hasst,
was hassenswert zwischen Rhein und Weichsel.
Ihr habt erst ermöglicht, was bis heute geschehn.
Ihr lasst Kinder in diese Schule gehen.
Ihr habt Arbeiterblut vergossen.
Ihr habt auf alles, was frei war, geschossen.
Die sich da die Macht erschoben,
ihr habt sie erst in den Sattel gehoben.
Die da lasten auf Arbeitermassen,
ihr habt sie erst in die Ämter gelassen.


Scherz, Satire und Ironie?
Ihr seid genauso wie die:
Untertanen, zu allem erbötig.
Opposition - ? Ihr habt’s nötig.

 

 



 

Saxo-Borussen

Möchten Sie Saxo-Borusse sein?
Domela*) hat sie genau beschrieben:
Was sie in ihrer Kneipe trieben -
(Rülps)
wie sie fechten, fressen und saufen,
sich niemals ein Kollegheft kaufen -
jeder ein hochfeudales Schwein …
            Ein feiner Verein.


Möchten Sie Saxo-Borusse sein?
Ramsch … Manieren, frech und beflissen –
„Werde zuhause zu rühmen wissen!“
(Rülps)
Füchsegetriez und Chargenspiel,
ideal: der uralte Lebensstil …
„Kein Bürgerlicher kommt hier zu uns rein!“
            Ein feiner Verein.

Möchten Sie Saxo-Borusse sein?
Das ist gar nicht übel. Im Westen und Osten
gehören ihnen die Botschafterposten.
Sie beherrschen Deutschland. Sie sind dran.
Sie intrigieren, Mann für Mann -
in Peking, in Rio und in Madrid:
Und immer läuft das Korpsband mit.
Und mit dem Korpsband zieht diese Blase
ein ganzes Volk an seiner Nase.
            Wir fressen aus. Sie brocken uns ein.
            Wer möchte da nicht Saxo-Borusse sein!


              *) Harry Domela (Baltischer Hochstapler, Autor, Spanienkämpfer)

 

 



 

Rosen auf den Weg

Ihr müsst sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht, sie sind so zart!
Ihr müsst mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
            Pfeift eurem Hunde, wenn er kläfft.
            Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft.


Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: „Ja und Amen. Aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!“
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
            Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft.
            Küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft.


Und schießen sie – du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist doch Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein.
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …
Und verspürt ihr auch
in eurem Bauch
den Hitler-Dolch, tief bis zum Heft -
            Küsst die Faschisten, küsst die Faschisten,
            küsst die Faschisten, wo ihr sie trefft.

 

                            Kurt Tucholsky

                               (*1890 Berlin / † 1935 Göteborg)

 

 

Erich Weinert

 

Sozialdemokratisches
Mailiedchen 1923

nach Allerseelen von Hermann von Gilm

Stell auf den Tisch das Bild von August Bebel,
Den "Vorwärts" (Jahrgang 13) hol herbei,
Und klirre wieder mit dem Schutzmannssäbel
Wie einst im Mai!


Lies mir noch mal die alten Manifeste,
Der ersten Jugend holde Schwärmerei,
Und reich mir wieder die gestrickte Weste
Wie einst im Mai!


Noch einmal singt die Internationale,
Doch macht nicht wieder solchen Krach dabei,
Und nicht mit so pathetischem Finale
Wie einst im Mai!


Noch einmal tragt die feierlichen Fackeln!
(Die Reichswehr mit Musik ist auch dabei.)
Wer weiß, ob uns nicht doch die Ärsche wackeln
Dereinst im Mai!

 

 


 

 

Ferientag eines Unpolitischen

Der Postbeamte Emil Pelle
hat eine Laubenlandparzelle,
wo er nach Feierabend gräbt
und auch die Urlaubszeit verlebt.


Ein Sommerläubchen mit Tapete,
ein Stallgebäude, Blumenbeete,
hübsch eingefasst mit frischem Kies,
sind Pelles Sommerparadies.


Zwar ist das Paradies recht enge
mit fünfzehn Meter Seitenlänge;
doch pflanzt er seinen Blumenpott
so würdig wie der liebe Gott.


Im Hintergrund der lausch'gen Laube
kampieren Huhn, Kanin und Taube
und liefern hochprozent'gen Mist,
der für die Beete nutzbar ist.


Frühmorgens schweift er durchs Gelände
und füttert seine Viehbestände.
Dann polkt er am Gemüsebeet,
wo er Diverses ausgesät.


Dann hält er auf dem Klappgestühle
sein Mittagsschläfchen in der Kühle,
Und nachmittags, so gegen drei,
kommt die Kaninchenzüchterei.


Auf einem Bänkchen unter Eichen,
die noch nicht ganz darüber reichen,
sitzt er, bis dass die Sonne sinkt,
wobei er seinen Kaffee trinkt.


Und friedlich in der Abendröte
beplätschert er die Blumenbeete
und macht die Hühnerklappe zu,
dann kommt die Feierabendruh.


Er denkt: „Was kann mich noch gefährden
Hier ist mein Himmel auf der Erden!
Ach, so ein Abend mit Musik,
da braucht man keine Politik!


Die wirkt nur störend in den Ferien,
wozu sind denn die Ministerien?
Die sind doch dafür angestellt,
und noch dazu für unser Geld.


Ein jeder hat sein Glück zu zimmern.
Was soll ich mich um andre kümmern?“
Und friedlich wie ein Patriarch
beginnt Herr Pelle seinen Schnarch.


 


 

 

Die Herren Genossen

Sie stehn noch unter ihrer alten Fahne,
Die sich so vornehm und gemäßigt bauscht,
Und reden ideologisch saure Sahne
Mit etwas abgeordnetem Organe.
Und nur der Seele Vollbart wallt und rauscht.


Denn wer es auf die Sympathiegewinnung
Des Gegners absieht, rede nicht so scharf!
Es bleiben ja, trotz taktischer Verdünnung
Noch reichlich Bombensätze von Gesinnung.
Und das genügt schon für den Hausbedarf.


In Ihrer Freud- und Leitdartikelprosa
Ist alles Unvornehme abgeebbt.
So geht es vorwärts (nomina odiosa!).
Das alte Rot rangiert schon hinter Rosa.
Na wenn schon! Hier verlangt es das Rezept.


Auch wenn der deutsche Großpapa aus Eisen
Versehentlich an der Verfassung dreht -
Gott, auch ein Präsident kann mal  entgleisen.
Und außerdem hat man Respekt vor Greisen
Und einen Hang zur Objektivität.


Sie kriegen jeden Tag eins auf die Platten,
Doch ihre Politik ist unbeirrt.
Sie stellen sich bescheiden in den Schatten,
Den sie sich einst vorausgeworfen hatten
Und der nun immer länger wird.


Das ist die Disziplin der alten Garde:
Das Banner fällt, wenn nur die Mannen stehn.
Sie werden mit wattierter Hellebarde,
Mit einem Trauerflor um die Kokarde
Und taktisch vornehm in die Binsen gehen.


 



 

In würdigem Rahmen

Begehst du jetzt nach alter Sitte
Den ersten Mai, benimm dich bitte!
Nimm deinen Sonntagsanzug her!
Bleib auf der Straße nirgends stehn!
Auch darfst du nur zu zweien gehen.
Die Straße dient ja dem Verkehr.


Dann setz dich still im Saale nieder!
Ein Männerchor singt Frühlingslieder.
Zur Andacht wirst du eingestimmt.
Ein Redner mit solidem Bauche
Spricht was vom alten Freiheitsbrauche,
Der noch in deiner Seele glimmt.


Nach Tische, in der Sofaecken
Lass dir die Festzigarre schmecken!
Häng dir die Schafskopfhörer um!
Dann deck dich zu mit Haupt- und Beiblatt
Von deinem würdigen Parteiblatt
Und schlummre bis um viere rum!


Dann mach dich auf mit Streuselkuchen,
Den Kaffeegarten aufzusuchen.
Da gibt es Bier und Blechmusik.
Familien können Kaffee kochen.
Auch wird ein Festprolog gesprochen
Vom Vorwärtsmarsch der Republik.


Und triffst du nachts auf Kommunisten,
So ruf den nächsten Polizisten.
Der bringt schon Ruh und Ordnung rein.
Im Bett darfst du zufrieden sagen:
Für dieses würdige Betragen
Wird Hindenburg mir dankbar sein.


 



 

Herr Chefredakteur
spricht zum Stabe


Meine Herren, wir sind ein Abendblatt,
Das Leser aus allen Parteien hat.
Drum ersuche ich Sie vor allen Dingen,
Ihre private Gesinnung nicht anzubringen.


Der Herr politische Redakteur:
Sie dürfen heut nicht mehr allzusehr
Den Demokratismus propagieren.
Wir müssen den Stahlhelm respektieren.


Erhalten Sie uns auch die Sympathie
Der nationalen Großindustrie!
Und üben Sie mehr Kritik am Staate!
Wir haben von Hugenberg Großinserate.


Das gilt auch für den Herrn vom Kunstbetrieb:
Auch Sie, mein Herr, müssen sich im Prinzip,
Bevor Sie Filme rezensieren,
Beim Inseratenchef informieren.


Herr Feuilletonredakteur: Wie unvornehm
Behandeln Sie das Verhütungsproblem.
Sowas muss dezenter geschrieben werden.
Von Potsdam haben wir 16 Beschwerden.


Hingegen bei der Serie vom Kaiserhaus
Kam diesmal zu wenig Intimes heraus.
Bringen Sie möglichst viel  Bettvorgänge!
Wir haben doch solche Sachen in Menge.


Und nun, meine Herren, ein Wort im Vertraun:
Wir müssen jetzt mehr nach rechts hinschaun.
Ein nationaler Konzern hat Intresse schon lange.
Verhandlungen sind bereits im Gange.


Drum darf ich wohl hoffen, dass unser Blatt
Bald eine neue Basis gefunden hat.
Für alle, die bereit sind mitzugehn,
Ist Gehaltsaufbesserung vorgesehn.


Einen Druck üben wir natürlich nicht aus.
Doch ich hoffe, Sie halten treu zum Haus.
Wollen sie bitte die neue Gesnnung besorgen!
Nach außen, verstehn Sie, meine Herrn.
Guten Morgen!
                       

Erich Weinert
(* 1890, Magdeburg / †: 1953, Berlin)

 

 

 

Johannes R. Becher

 

Kinderschuhe aus Lublin

 

Von all den Zeugen, die geladen,
vergess ich diese Zeugen nicht.
Als sie in Reihn den Saal
 betraten,
erhob sich schweigend das Gericht.


Wir blickten auf die Kleinen nieder,
ein Zug zog paarweis durch den Saal.
Es war, als tönten Kinderlieder,
ganz leise, fern, wie ein Choral.


Es war ein langer bunter Reigen,
der durch den ganzen Saal sich schlang.
Und immer tiefer ward das Schweigen
bei diesem Gang
 und Kindersang.

Voran die Kleinsten von den Kleinen,
sie lernten jetzt erst richtig gehn
- auch Schuhchen können lachen, weinen -,
ward je ein solcher Zug gesehn?


Es tritt ein winzig Paar zur Seite,
um sich ein wenig auszuruhn,
und weiter zieht es in die Weite -
es war ein Zug von Kinderschuhn.


Man sieht, wie sie den Füßchen passten -
sie haben niemals weh getan,
und Händchen
 spielten mit den Quasten,
das Kind
 zog gern die Schuhchen an.

Ein Paar aus Samt, ein Paar aus Seiden,
und eines war bestickt sogar
mit Blumen, wie sie ziehn, die beiden,
sind sie ein schmuckes Hochzeitspaar.


Mit Bändchen, Schnallen und mit Spangen,
zwerghafte Wesen, federleicht -
und viel sind viel zu lang gegangen
und sind vom Regen
 durchgeweicht.

Man sieht die Mutter, auf den Armen
das Kind, vor einem Laden stehn:
"Die Schuhchen, die, die weichen, warmen,
ach Mutter, sind die Schuhchen schön!"


"Wie soll ich nur die Schuhchen zahlen.
Wo nehm das Geld
 ich dafür her...."
Es naht ein Paar von Holzsandalen,
es ist schon müd und schleppt sich schwer.


Es muss ein Strümpfchen mit sich schleifen,
das wund gescheuert ist am Knie....
Was soll der Zug? Wer kann `s begreifen?
Und diese ferne Melodie....


Auch Schuhchen können weinen, lachen....
Da fährt in einem leeren Schuh
ein Püppchen wie in einem Nachen
und winkt uns wie im Märchen
 zu.

Hier geht ein Paar von einem Jungen,
das hat sich schon als Schuh gefühlt,
das ist gelaufen und gesprungen
und hat auch wohl schon
 Ball gespielt.

Ein Stiefelchen hat sich verloren
und findet den Gefährten nicht,
vielleicht ist der am Weg erfroren -
ach, damals fiel der Schnee so dicht....

Zum Schluss ein Paar, ganz abgetragen,
das macht noch immer mit, wozu?
Als hätte es noch was zu sagen,
ein Paar zerrissener Kinderschuh.

Ihr heimatlosen, kinderlosen,
wer schickte euch? Wer zog euch aus?
Wo sind die Füßchen all, die bloßen?
Ließt ihr sie ohne Schuh zu Haus?

Der Richter kann die Frage deuten.
Er nennt der toten Kinder Zahl.
....ein Kinderchor. Ein Totenläuten.
Die Zeugen gehen durch den Saal.

Die Deutschen waren schon vertrieben,
da fand man diesen schlimmen Fund.
Wo sind die Kinder nur geblieben?
Die Schuhe tun die Wahrheit kund:

Es war ein harter dunkler Wagen.
Wir fuhren mit der Eisenbahn.
Und wie wir in dem Dunkel lagen,
so kamen wir im Dunkel an.

Es kamen aus den Ländern allen
viel Schuhchen an in einem fort,
und manche stolpern schon und fallen,
bevor sie treffen ein am Ort.

Die Mutter sagte: "Wie viel Wochen
wir hatten schon nichts Warmes mehr?
Nun werd ich uns ein Süppchen kochen."
Ein Mann mit Hund ging nebenher:

"Es wird sich schon ein Plätzchen finden",
so lachte er, "und warm ist`s auch,
hier braucht sich keiner abzuschinden...."
bis in den Himmel kroch ein Rauch.

"Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
wir heizen immer tüchtig ein.
Ich kann Lublin nur warm empfehlen,
bei uns herrscht ewiger Sonnenschein."


Und es war eine deutsche Tante,
die uns im Lager von Lublin
empfing und "Engelspüppchen" nannte,
um uns die Schuhchen auszuziehn,


und als wir fingen an zu weinen,
da sprach die Tante: "Sollt mal sehn,
gleich wird die Sonne prächtig scheinen,
und drum dürft ihr jetzt barfuss gehn....


Stellt euch mal auf und lasst euch zählen,
so, seid ihr auch hübsch unbeschuht?
Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
dafür sorgt unsere Sonnenglut....


Was, weint ihr noch? `s ist eine Schande!
Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh?
Ich bin die deutsche Märchentante!
Die gute deutsche Puppenfee.


`s ist Zeit, ihr Püppchen, angetreten!
Was fällt euch ein denn, hinzuknien.
Auf, lasst uns singen und nicht beten!
Es scheint die Sonne in Lublin!"


Es sang ein Lied die deutsche Tante.
Strafft sich den Rock und geht voraus,
und dort, wo heiß die Sonne brannte,
zählt sie uns nochmals vor dem Haus.


Zu hundert, nackt in einer Zelle,
ein letzter Kinderschrei erstickt....
Dann wurden von der Sammelstelle
die Schuhchen in das Reich geschickt.


Es schien sich das Geschäft zu lohnen,
das Todeslager von Lublin.
Gefangenenzüge, Prozessionen.
Und - eine deutsche Sonne schien....


Wenn Tote einst als Rächer schreiten
und über Deutschland hallt ihr Schritt
und weithin sich die Schatten breiten -
dann ziehen auch die Schuhchen mit.


Ein Zug von abertausend Zwergen,
so ziehen sie dahin in Reihn,
und wo die Schergen sich verbergen,
dort treten sie unheimlich ein.


Sie schleichen sich herauf in Stiegen,
sie treten in die Zimmer leis.
Die Henker wie gefesselt liegen
und zittern vor dem Schuldbeweis.


Es wird die Sonne brennend scheinen.
Die Wahrheit tut sich allen kund.
Es ist ein großes Kinderweinen,
ein Grabgesang aus Kindermund....


Der Kindermord ist klar erwiesen.
Die Zeugen all bekunden ihn.
Und nie vergess ich unter diesen
die Kinderschuhe aus Lublin.

                                 

Johannes R. Becher  
(* 22.5.1891, München / †: 11.10.1958, Berlin)

 

 

 

Vladimir Majakovskij

 

 

Den Brüdern im Westen

Die Sirup-Schmierer und Idealisierer des Alten
wussten den Krieg mit Charme zu gestalten.


Hei, Feldzug! Hei, Schlachtfeld! Mit Blasorchestern!
Aufs Uniformgold starren Bräute und Schwestern.
Durch lächelnder Lippen und Augen Spalier
stampft mancher Husarenschnurrbart-Offizier.


Befunkle den Feind – und für deine Verdienste
nimm Dienstgrade, Orden und andre Gewinste.
Oder geh hin und stirb im Granatenhagel –
ein Denkstein besiegelt dein glorreich Debakel.


Noch heut kann sichs mancher nicht abgewöhnen
und lügt wie gedruckt, wie ein Strohpuppenstopfer:
»In schönen Gewändern brachten die Schönen
stolz ihre Leiber zum Opfer ...«
Ists wirklich so schön? Ich bedank mich ergebenst
für diese Verschönung und Krönung des Lebens!


Die Kriegslust trachten uns einzutrichtern
Poeten. Sie seien entlarvt von Dichtern!
Krieg – ist ein Pestwind,von Leichen genährt.
Krieg – die Fabrik, die den Bettel gebärt.


Ein grässliches Massengrab ohne Maß,
Hunger, Schmutz, Läuse, Typhus und Aas.
Krieg – für die Reichen, Gewinn und Glück.
Für uns – Verkrüppelung. Krieg heißt Krück.


Krieg heißt Befehl, heißt Manifest:
»dass ihr eure Bräute in Holzarme presst!«
Genossen Leute, dem ganzen Planeten
erklärt: den Krieg haben wir uns verbeten!

Und wärs, dass des Weltfriedens Wohl von euch forderte:
»Vernichtet die regierenden Häuflein, ihr Proleten!« –
so betrachtet euch als heilig Beorderte:
Herolde der Zukunft, befriedet den Planeten!


                                                (1929 / Deutschfassung: Hugo Huppert)

 

                          Vladimir Majakovskij  
                               (* 19.07.1983 Bagdadi/Georgien - †  14.04.1930 Moskau)

 

Erich Kästner

 

Hamlets Geist

 

Gustav Renner war bestimmt
die beste Kraft am Toggenburger Stadttheater.
Alle kannten seine weiße Weste,
alle kannten ihn als Heldenvater.

 

Alle lobten ihn, sogar die Kenner,
und die Damen fanden ihn sogar noch schlank.
Schade war nur, dass sich Gustav Renner,
wenn er Geld besaß, enorm betrank.

 

Eines Abends, als man Hamlet gab,
spielte er den Geist von Hamlets Vater,
Ach, er kam betrunken aus dem Grab,
und was man nur Dummes tun kann, tat er.
Hamlet war aufs äußerste bestürzt,
denn der Geist fiel gänzlich aus der Rolle,
und die Szene wurde abgekürzt.

 

Renner fragte, was man von ihm wolle?
Man versuchte hinter den Kulissen
ihn von seinem Rausche zu befreien,
legte ihn lang hin und gab ihm Kissen,
und dabei schlief Gustav Renner ein.

 

Die Kollegen spielten nun exakt,
weil er schlief und sie nicht länger störte.
Doch er kam! Und Zwar im nächsten Akt,
wo er absolut nicht hingehörte.

 

Seiner Gattin trat er auf den Fuß,
seinem Sohn zerbrach er das Florett,
und er tanzte mit Ophelia Blues,
und den König schmiss er ins Parkett.

 

Alle zitterten und rissen aus,
doch dem Publikum war das egal;
so etwas von donnerndem Applaus
gab’s in Toggenburg zum ersten Mal.
Und die meisten Toggenburger fanden:
Endlich hätten sie das Stück verstanden.

 

 


 

 

Nachtgesang des Kammervirtuosen
1927 

 

Du meine neunte Sinfonie!
Wenn du das Hemd an hast mit rosa Streifen
komm wie ein Cello zwischen meine Knie,
Und lass mich zart in deine Seiten greifen.

 

Lass mich in deinen Partituren blättern.
(Sie sind von Händel, Graun und Tremolo)
Ich möchte dich in alle Winde schmettern,
Du meiner Sehnsucht dreigestrichnes Oh!

 

Komm lass uns durch Oktavengänge schreiten!
(Das Furiose, bitte, noch einmal!)
Darf ich dich mit der linken Hand begleiten?
Doch beim Crescendo etwas mehr Pedal!!

 

Oh deine Klangfigur! Oh die Akkorde!
Und der Synkopen rhythmischer Kontrast!
Nun senkst du deine Lider ohne Worte ...
Sag einen Ton, falls du noch Töne hast!

 

 


 

 

Jahrgang 1899

Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,
Als die Männer in Frankreich standen.
Wir hatten uns das viel schöner gedacht.
Wir waren nur Konfirmanden.

 

Dann holte man uns zum Militär,
Bloß so als Kanonenfutter.
In der Schule wurden die Bänke leer,
Zu Hause weinte die Mutter.

 

Dann gab es ein bißchen Revolution
Und schneite Kartoffelflocken;
Dann kamen die Frauen, wie früher schon,
Und dann kamen die Gonokokken.

 

Inzwischen verlor der Alte sein Geld,
Da wurden wir Nachtstudenten.
Bei Tag waren wir bureau-angestellt
Und rechneten mit Prozenten.

 

Wir haben sogar ein Examen gemacht
Und das meiste schon wieder vergessen.
Jetzt sind wir allein bei Tag und bei Nacht
Und haben nichts Rechtes zu fressen!

 

Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
Anstatt mit Puppen zu spielen.
Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
Soweit wir vor Ypern nicht fielen.

 

Man hat unsern Körper und hat unsern Geist
Ein wenig zu wenig gekräftigt.
Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
In der Weltgeschichte beschäftigt!

 

Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
Für uns zum Säen und Ernten.
Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
Noch einen Moment. Bald ist es soweit!
Dann zeigen wir euch, was wir lernten!

 

 


 

 

Ganz rechts zu singen
 (1.Oktober 1930)

 

Stoßt auf mit hellem hohem Klang!
Nun kommt das dritte Reich!
Ein Prosit unserm Stimmenfang!
Das war der erste Streich!

 

Der Wind schlug um. Nun pfeift ein Wind
Von griechisch-nordischer Prägung.
Bei Wotans Donner, jetzt beginnt
Die Dummheit als Volksbewegung.

 

Wir haben das Herz auf dem rechten Fleck,
weil sie uns sonst nichts ließen.
Die Köpfe haben ja doch keinen Zweck.
Damit kann der Deutsche nicht schießen.

 

Kein schönrer Tod ist auf der Welt,
als gleich millionenweise.
Die Industrie gibt uns neues Geld
Und Waffen zum Selbstkostenpreise.

 

Und deshalb müssen die Juden raus!
Sie müssen hinaus in die Ferne.

Wir wollen nicht sterben fürs Ullsteinhaus
Aber für Kirdorf sehr gerne.

 

Die Deutsche Welle, die wächst heran,
als wie ein Eichenbaum.
Und Hitler ist der richtige Mann,
der schlägt auf der Welle den Schaum.

 

Der Reichstag ist ein Schweinestall,
wo sich kein Schwein auskennt.
Es braust ein Ruf wie Donnerhall:
Kreuzhimmelparlament!

 

Wir brauchen eine Diktatur
Viel eher als ein Staat.
Die deutschen Männer kapieren nur,
wenn überhaupt, nach Diktat.

 

Ihr Mannen, wie man es auch dreht,
wir brauchen zunächst einen Putsch!
Und falls Deutschland daran zugrunde geht,
juvivallera, juvivallera, dann ist es eben futsch.

 

Erich Kästner (* 1899 Dresden / † 1974 München)

 

 

 

Peter Hacks

 

Couplets


Vorhaltung
Der Brecht schreibt, sagst du, in der Regel Mist.
Hör zu: Der Mann ist gut, so schlecht er ist.

Zufall oder Strafe
Im Lauf der Jahre sind dem Hermann Kant
Nicht wenig Gattinnen davongerannt.

Parasiten
Corino macht dem Hermlin den Garaus.
So tötet wohl ein Virus eine Laus.

Lächerlich
Es will der Heldentäufer Christoph Hein
Von Sachsens Kroppzeug der Tyrtaios sein.

Zeit der Unschuld
Hein und de Bruyn entdecken, dass als Kind
Sie ganz so mies noch nicht gewesen sind.

Autobiograph
Ein Tropf, der besser nie geboren wär,
erzählt uns treulich seine Jugend her.

Ein Serientexter
Einst DDR-Poet, jetzt Medienknecht:
Er fühlt sich anders, aber auch nicht schlecht.

Rathenow
Wie sehr er Mutters Sprache radebrecht,
Solang ihn Gauck ernährt, kommt er zurecht.

Derselbe
Rathenow schreibt … - Pardon, wer ist der Mann?
– Entsinne dich: der der nicht schreiben kann.

Biermann & Fuchs
Bring mir den Stiefel, Leibfuchs! – Wie der rennt!
Der wird bei mir noch Bundespräsident.

Seibt, Karasek, Peymann
Wenn all das kommt und drängt sich nach Berlin,
Sollte man doch vielleicht nach Bonn umziehn.

*******

Aktäon
Er spannte auf die Schönbewadete,
Als sie in einer Quelle badete.

Odysseus an Poseidon
Ich bin, wenn ich im Seegang kentere,
Der Schwächere, weil Intelligentere.

Bei den Phäaken
Das ist an dem Gesang das Packende:
Die Königstochter und der Nackende.

Robert le Diable
Und nun ein Opernstoff, ein längerer:
Das Klosterfräulein und sein Schwängerer.

Schillers Handschuh
Man fragt sich doch, wer ist verständiger,
die Bestien gar oder ihr Bändiger?

Seine Lordschaft ist sehr dankbar,
wenn ich, Lady Hamilton,

im Anschluss durch ein paar obszönere
Darbietungen das Fest verschönere.

*******

Zentren
Nur Russland, Deutschland. England, Frankreich sind‘s,
Der Rest bleibt unerheblich, bleibt Provinz.

Mordor
Zwischen zwei Weltgewässern liegst du da,
Heimstatt des Terrors, Mordamerika.

Vergleich
Gebirgig schuf dich Gott und klösterreich,
Tibet des Okzidentes, Österreich.

Klima
Nordwind ist eine gottgegebene
Erscheinung über Preußens Ebene.

Brandenburger Augur
Wer da? Ein Kranich? Das gewitzte Tier
Zieht nicht nach Russland weiter und bleibt hier.

Deutsches Wetter
Der Sommer kommt, kann sein, im Juli vor.
Das Jahr ansonsten ist wie Labrador.

Rätselfrage
Wer wird nicht nass vom Regen, weißt du das?
Das ist der Fisch. Der Fisch wird niemals nass.

Imponiergehabe
Der Karpfen mächtig mit dem Schwanze schlägt.
Es ist aus Bange, dass er Furcht erregt.

Sodom
Zwei junge Frösche, beide maskulin,
Begatten sich, der den und jener ihn.

*******

Symposion
Obwohl es Platon auch sagt: Erst ein Weib
Macht mich komplett, es ist ein halber Leib.

Symposion II
Obwohl es Platon kaum sagt: Es vermisst
Der Mann das Weib, weil es so niedlich ist.

Abkunft
(nach „Carmen“)

Die Liebe, das weiß jeder insgesamt
Vom Rom beziehungsweise Sinto stammt

Hauptsache
Für unverloren schätz ich jede Nacht,
Wo schlaflos ich nach deinem Leibe schmacht.

Andererseits
Das Weh der Welt erfährt beträchtliche
Erhellung doch durch das Geschlechtliche.

Stunde der Sybariten
Die Lust, bekanntlich, ist ein Kind der Nacht.
Man trinkt, sieht fern und schläft sich bei zur Nacht.

Eifersucht
Ich habe Freunde, denen tut es weh,
Dass ich die Freundin eben lieber seh.

Im Bett der Liebsten
Zwei Körper, bis zur Stimmigkeit verworrn,
Unten wird hier oben, hinten vorn.

Ufermond
Ein holdes Weib, ein bei mir habendes,
Erhöht die Göttlichkeit des Abendes.

Vollkommenheit
Die wahre Liebe muss nicht stets
Im Bette enden. Schöner wär, sie tät‘s.

Pornopfaffe
Er spricht am liebsten vom Geschlechtsverkehr.
So hielten es die Priester seit jeher.

Amerikanerin
Sie sprüht die Düfte weg, das dumme Tier.
Was abzüglich der Düfte, ist an ihr?

*******

Imperialismus
Das Vieh ist tot und bleibt’s und hört, allein
Weil es noch Blut säuft, nicht auf, tot zu sein.

Artenschutz
der Mensch als Art, wenn er sein Recht begehrt,
Erscheint Bill Clinton wenig schützenswert.

Loser
Die oft Gedroschnen beide, Rom und Wien,
Wollen auf Beute nach dem Balkan ziehn.

Aggressionsanzeige
Der Genscher lädt die Heere dieser Welt
Zum neuen Serbenmord aufs Amselfeld.

Neunzehnhundertachtundneunzig
saß Castro, das war das Gespenstische,
Mit Woytila am Konferenztische.

BRD
Ein Mensch, den dieses Land nicht furchtsam macht,
Geht mit verbundnen Augen in die Schlacht.

Überwachungsstaat
Dies Land, das für mein Land ich eingetauscht,
Hört mir nicht zu. Es kann nur eins: Es lauscht.

Kohl-Rede
Bemerkenswert, wie der Umnachtete
Das Los des Vaterlands betrachtete.

Präsident
Im Regelfall ist, der am dümmsten schwätzt,
Uns Übrigen am höchsten vorgesetzt.

Organisiertes Verbrechen
Die große Kriminalität im Land
wird gerne die Regierung auch genannt.

Mob
Mob ist ein andrer Ausdruck für Partei.
Auch trägt der Mob zur Willensbildung bei.

Wahlsonntag
Ich gebe heut mein Ja dem Kapital.
Wahlsonntag ist. Da bleibt mir keine Wahl.

Wahlalternative
Reden wir über Wahlen. – Reden wir.
Zu welchem meiner Feinde rätst du mir?

Gleichbehandlung
Die Glocke stört. Es stört der Muezzin.
Man bringe sie zum Schweigen – die wie ihn.

Immobilie
Der Banker schlägt mir eine sichere
Anlage vor. Das ich nicht kichere.

Crash
Die Bundesbank betont: Die Marktwirtschaft
Ist von frappanter Selbstentleibungskraft.

Eigentum
Nur eines gäbs, das für den Mammon spricht:
Wenn ich ihn hätte. Doch ich hab ihn nicht.

Lohnarbeit
Wer seine Arbeit eintauscht gegen Geld,
Schlägt sich wie eine Hure durch die Welt.

Unterlassene Hilfeleistung
Für Beistand bürgt dir ein Gesetzestext.
Nur nicht des Staats. Der lacht, wenn du verreckst.

Species
Der Menschen Volk, vom Kapital regiert,
Ist wie ein Diamant, mit Kot beschmiert.

Kulturpolitik
Kennst du das Land, wo mit viel Geld der Staat
Die Kunst vernichtet, schon die zarte Saat?

Die Kuppel
Des Reichstags Neubau uns mit Grausen füllt.
Ich wollt, er wäre wieder eingehüllt.

Autorenglück
Mit drei Verlagen segnete mich Gott,
Treu, ehrlich, kampfentschlossen und bankrott.

Weiches P
Wir sind das Volk! -  Es war in Klein Paris,
Wo dieser Satz „Nous sommes le peuble“ hieß.

Leipzig
Ein Ort, durchhallt von Jammer, kündet mir,
Was ging hier vor? – Je nun, das Volk war hier.

Der Dr. Jürgen Schneider
Ein Marktwirt restaurierte Sachsens Glanz.
Bedenken gab es dann mit der Bilanz.

König Kurt
Ein großer Schurke und ein kleiner Tropf,
Der Fürst der Mangelsachsen, Biedenkopf.

Neues Deutschland
Die eifrige Befolgung jedes Winks
Des Kapitals, das machen die mit links.

Modrow
Er will den Sozialismus, schwört der Mann.
Ich frage, warum stürzte er ihn dann?

Sacificium intellectus
Der Geizhals, weil ihn jedes Opfer schreckt,
Opfert sein Billigstes, den Intellekt.

Ehrgeiz
Gerad, wer nichts zu sagen hat, ist scharf
Darauf, dass er auch alles sagen darf.

Leider
Die Bürgerrechtler machen viel Rumor.
Arbeiterrechtler kommen seltner vor.

Erinnerung an der Moldau
Schon achtundsechzig bat Herr Ota Šik
Den IWF in unsre Republik.

Erinnerung an der Spree
Ein Volk, ein Reich – so grölte damals schon
Die nationale Revolution.

Verteidigung
Seit Kessler seine Freiheit schnöd verlor,
Fühl ich mich minder sicher als zuvor.

Schalk-Golodkowsky
Willst du vom Geld erlösen diese Welt,
Bedarfst drei Dinge du: Geld, Geld und Geld..
Es ist oft nicht der Anfang, der gefällt.

Gerücht
Zur Weihnacht, heißt es, kam ein Gott zur Welt.
Ein Schmäh, der zweitausend Jahr schon hält.

Stalin verlässt den Raum
Sein Leben währt genau ein Leben lang.
Unendlich ist nur der Zusammenhang.

Gewissheit
Die Rettung kommt. Noch ist nicht abzusehn,
Woher sie kommt und wann, und nicht, durch wen.

Abschied
Gut, dies Jahrtausend war nichts. Sprechen wir
Von Nummer drei, Genossen, oder vier.

Missverhältnis
Die Menschheit liebt ich mit bescheidnem Glück.
Zehn Menschen höchstens liebten mich zurück.

Nichtwähler
Ach Welt, geh ungescholten deinen Lauf
Ich hörte längst zu widersprechen auf.

Der Sozialismus
beweist uns, wo man ihn in neuester Zeit
Abschaffte, seine Unentbehrlichkeit.

Sehnsucht
Das Elend steigert sich mit jedem Jahr.
Ich wünschte, alles würde, wie es war.

Unvollständig
Verschiedenes, das für die Menschheit spricht,
Entfiel mir jüngst, und ich erwähn es nicht.



                    Peter Hacks

(* 1928 Breslau-Wroclaw / † 2003 Groß-Machnow)

 

 

 

Franz Josef Degenhardt

 

Horsti Schmandhoff

Ihr, die Kumpanen aus demselben Viertel voller Ruß,
aus gleichen grauen Reihenhäusern und aus gleichem Guss,
mit gleicher Gier nach hellen Häusern, Rasen, Chrom und Kies,
nach schlanken Frauen, Kachelbad – Kumpanen, die ihr dies
fast alle heute habt und nur noch ungern rückwärts seht,
wenn ihr euch trefft, per Zufall irgendwo zusammen steht,
von neuen Dingen sprecht und über alte Witze lacht,
und einer von euch fragt: Wer weiß, was Horsti Schmandhoff macht? –
Kumpanen, da gesteht euch ein:
Ihr wolltet alle mal wie Horsti Schmandhoff sein.

Im passenden Kostüm der Zeit, stets aus dem Ei gepellt,
hat er mit knappen Gesten eure Träume dargestellt,
der Sohn einer Serviererin, der Horsti schmal und blond,
mit jenem Zug zum Höheren um Nase, Kinn und Mund.
Am Tag, als er ins Viertel kam und abends vor der Tür
in Lederhose, weißem Hemd auf dem Schifferklavier
sein Stückchen spielte – ‚Bergmannsglück‘ – und beim Glückauf-tara
die Locke aus der Stirne warf und in den Himmel sah -
Schon da, Kumpanen - fällt's euch ein?
Da wolltet ihr genau wie Horsti Schmandhoff sein.

Auch als er dann als Fähnleinführer, Hand mit Siegelring,
und Fahrtenmesser, das ganz los als Ehrendolch da hing,
in Halbschuh’n, weißen Söckchen und mit kurzem Trippeltritt
und Wackelhintern neben seinem Fähnlein einher schritt.
Und später dann in Uniform auf Heimaturlaub kam,
sein Panzerkäppi schief gesetzt, das EK-Zwo abnahm,
erzählte, wie er Zweiundvierzig kurz vor Stalingrad
zwölf Stalinorgeln, fuffzig Iwans plattgefahren hat –
Kumpanen, da gesteht euch ein:
Da wolltet ihr genau wie Horsti Schmandhoff sein.

Auch als er dann im Khakizeug, das Gummi quer im Mund,
mit Bürstenschnitt als Küchenhelfer, rosig, dick und rund
bei Stratmanns an der Ecke stand und an ‘ner Lucky sog,
euch ‚Hallo, boys‘ begrüßte, schleppend durch das Viertel zog,
und dann im offenen Ledermantel an ‘nem Tresen stand,
Hut im Nacken, Halstuch lose, Bierchen in der Hand,
erzählte, wie er Zweiundvierzig kurz vor Stalingrad
den Drecksack General Paulus in den Arsch getreten hat –
Kumpanen, da gesteht euch ein:
Da wolltet ihr genau wie Horsti Schmandhoff sein.

Auch als er später dann statt Bier nur Möselchen noch trank,
den gün-changierten Anzug trug, auf weichem Kreppsohlgang
geschmeidig ins Lokal reinkam, am kleinen Finger schwang
der Wagenschlüssel, wenn er dann sein Hä-ba-bri-ba sang.
Und dann im offenen Jaguar mit Mütze, Pfeife, Schal,
ein Mädchen auf dem Nebensitz, sehr blond und braun und schmal,
im Schritt-Tempo durchs Viertel glitt, genau vor Stratmanns Haus
mal eben ’n bisschen Gas zugab, der linke Arm hing raus –
Kumpanen, da gesteht euch ein:
Da wolltet ihr genau wie Horsti Schmadnhoff sein.

Doch dann verschwand er, niemand wusste, wo er war und blieb,
bis eine Illustrierte über Hukalula schrieb.
Dort lebte, hieß es, hoch geehrt, ein Weißer, und der wär‘
ein Häuptling und des Präsidenten einz’ger Ratgeber.
Da stand im Leopardenfell, den Schwanzquast an der Hand,
die Fäuste in die Hüften g’stemmt und um die Stirn ein Band,
inmitten dreißig Weibern, alle schwarz und nackt und prall,
ein fetter Horsti Schmandhoff, und der lächelte brutal –
Kumpanen, da gesteht euch ein:
Da wolltet ihr nochmal wie Horsti Schmandhoff sein.


 



 

Notar Bolamus
Alles mit Maß und Ziel

Der alte Notar Bolamus muss weit über Neunzig sein,
macht täglich noch seinen Spaziergang,
trinkt sonntags sein Schöppchen Wein,
liest immer noch ohne Brille die Zeitung, die er seit jeher las -
aber nur noch die Todesanzeigen; er hat dabei seinen Spaß.
Er kichert und kratzt sich mit Greisenlust zwischen den Zehen:
„Zu leben, das muss man eben verstehen“.

Ja, der alte Notar Bolamus, der hat das richt’ge Rezept,
wie man so alt wie er wird und immer noch weiter lebt.
Und er sagt es am Stammtisch auch jedem, der’s hören will:
„Das ist es“, sagt er, „alles ganz einfach: mit Maß und mit Ziel.
Und niemals, Verehrtester, irgendwas übertreiben!
Dann wird jedes Organ und alles in Ordnung bleiben.“

Ja, der alte Notar Bolamus, der hat so gelebt, wie er sagt.
Hat ein bisschen geraucht und getrunken,
hat ein bisschen von allem genascht und ein bisschen an allem genagt.
Ein bisschen geschafft, ein bisschen gezeugt,
ein bisschen Vermögen gemacht.
Und manchmal da ist er am Morgen sogar
ein bisschen erschrocken erwacht.
Ja, der alte Notar Bolamus hat nie etwas übertrieben,
und darum ist er auch bis heute so gesund geblieben.

Ja, der alte Notar Bolamus, der hat sich gut durch die Zeit gebracht.
Denn er war immer ein bisschen dafür – und ein bisschen dagegen,
und er gab immer Acht.
„Nur Auschwitz“, sagt er, „das war ein bisschen zu viel.“
Und er zitiert seinen Wahlspruch: „Alles mit Maß und mit Ziel!“
Ja, sein Urteil war immer sehr abgewogen.
Und darum ist er auch bis heute um nichts betrogen.

Der alte Notar Bolamus muss weit über Neunzig sein.
Macht täglich noch seinen Spaziergang,
trinkt sonntags sein Schöppchen Wein.
Und nun nehm‘ wir mal an, er kommt doch eines Tages
zu dem, den er Herrgott nennt:
einer Mischung aus Christkind und Goethe und Landgerichtspräsident.
Und dieser, der tät ihn dann schließlich auch noch belohnen …
Mal ehrlich, Kumpanen: Wer von möchte da wohnen?

 

 



 

In den guten alten Zeiten

Dort im Südrandkrater, hinten an der Zwischenkieferwand,
wo im letzten Jahre noch das Pärchen Brennnesseln stand,
wo es immer, wenn der Mond sich überschlägt, so gellend lacht,
drüben haust in einem Panzer aus der allerletzten Schlacht
jener Kerl mit lauter Haaren auf dem Kopf und im Gesicht,
zu dem, wenn es Neumond ist, unser ganzer Stamm hinkriecht.
Jener schlägt ein Instrument aus hohlem Holz und Stacheldraht
und erzählt dazu, was früher sich hier zugetragen hat –
in den guten alten Zeiten.

Damals konnte, wer da wollte, auf den Hinterkrallen stehn.
Doch man fand das Kriechen viel bequemer als das Aufrechtgehn.
Der Behaarte sagt, sie seien sogar geflogen, und zwar gut,
aber keiner fand je abgebrochene Flügel unterm Schutt.
Über Tage und in Herden lebten sie zur Sonnenzeit,
doch zum Paaren schlichen sie in Höhlen, immer nur zu zweit.
Ihre Männchen hatten Hoden und ein bisschen mehr Gewicht,
doch ansonsten unterschieden sie sich von den Weibchen nicht –
in den guten alten Zeiten.

Damals wuchsen fette Pflanzen überall am Wegesrand,
doch sie abzufressen galt als äußerst unfein in dem Land.
Man verzehrte Artgenossen, selbst das liebenswerte Schwein,
doch die aufrecht gehen konnten, fraß man nicht, man grub sie ein.
Manchmal durfte man nicht töten, manchmal wieder musste man.
Ganz Genaues weiß man nicht mehr, aber irgendwas ist dran:
Denn wer Tausende verbrannte, der bekam den Ehrensold,
doch erschlug einen einzigen, hat der Henker ihn geholt –
in den guten alten Zeiten.

Wenn ein Kind ganz nackt und lachend unter einer Dusche stand,
dann bekam es zur Bestrafung alle Haaren abgebrannt.
Doch war‘s artig, hat‘s zum Beispiel einen Panzer gut gelenkt,
dann bekam es zur Belohnung um den Hals ein Kreuz gehängt.
Man zerschlug ein Kind, wenn es die Füße vom Klaver zerbiss,
doch man lachte, wenn‘s dem Nachbarkind ein Ohr vom Kopfe riss.
Blutige Löcher in den Köpfen zeigte man den Knaben gern,
doch von jenem Loch der Löcher hielt man sie mit Hieben fern –
in den guten alten Zeiten.

Alle glaubten an den unsichtbaren gleichen Manitou,
doch der Streit darüber, wie er aussah, ließ sie nicht in Ruh.
Jene malten ihn ganz weiß und andre schwarz oder gar rot,
und von Zeit zu Zeit, da schlugen sie sich deshalb einfach tot.
Ob die Hand ganz rot von Blut war und die Weste schwarz von Dreck,
das war gleich, wenn nur die Haut ganz weiß war, ohne jeden Fleck.
Und den Mischer zweier Farben federte und teerte man
oder drohte ihm für nach dem Tode Feuerqualen an –
in den guten alten Zeiten.

Und wer alt war, galt als weise, und wer dick war, galt als stark.
Und den fetten Greisen glaubte man aufs Wort und ohne Arg.
Und wenn Wolken sich am Abend färbten, freute man sich noch,
und man fraß ganz ruhig weiter, wenn die Erde brandig roch.
Denn vom Himmel fiel noch Wasser, und die Sonne war noch weit,
und der große Bär, der schlief noch, in der guten alten Zeit.
Und die Erde drehte sich nicht plötzlich rückwärts und im Kreis.
Doch man schaffte rüstig, bis es dann gelang, wie jeder weiß.
Und da war Schluss mit jenen Zeiten, mit den guten alten Zeiten.

Und so hocken wir bei Neumond an der Zwischenkieferwand,
wo im letzten Jahre noch das Pärchen Brennnesseln stand.
Und wir lauschen dem Behaarten, der sein Instrument laut schlägt.
Und wir lauschen, lauschen, lauschen nächtelang und unbewegt.
Und wir träumen von den guten alten Zeiten und dem Land,
wo man überall und jederzeit genug zu fressen fand.
Unsre Stammesmutter streichelt unser Jüngstes mit den Zehn.
Manchmal seufzt sie:  O ihr Brutgenossen, war das früher schön!
In den guten alten Zeiten. In den guten alten Zeiten.


 


 

 

Im Innern des Landes

Wie oft hat man sie schon totgesagt, doch
hier im Innern des Landes leben sie noch –
nach den alten Sitten und alten Gebräuchen,
kaum dezimiert durch Kriege und Seuchen,
stämmig und stark ein beharrliches Leben,
den alten Führern in Treue ergeben,
dem herzhaften Trunke, der üppigen Speise,
in Häusern, gebaut nach Altväterweise,
gefestigt im Glauben, daß alles fließt,
dass unten stets unten, oben stets oben ist.


Wie oft hat man sie schon totgesagt, doch
hier im Innern des Landes leben sie noch –  
die gewaltigen Mütter mit Kübelhintern,
Bewahrer der Sitten, Leittier den Kindern,
die Männer, die diese Mütter verehren
und auf ihr Geheiß die Familie vermehren,
die Söhne, die nach diesen Vätern geraten -
prachtvolle Burschen und gute Soldaten,
die Töchter, die mit dem Herzen verstehn
und im weißesten Weiß hochzeiten gehen.


Wie oft hat man sie schon totgesagt, doch
hier im Innern des Landes leben sie noch –
und lieben die Blumen und Hunde und Elche,
vor allen Dingen die letzteren, welche
aus Bronze sie in die Wohnzimmer stellen,
wo sie dann leise röhren und bellen,
wenn jene traulichen Weisen erklingen,
die ihre Herrchen so gerne singen,
kraftvoll und innig nach gut-alter Art,
von den zitternden Knochen, vom Jesulein zart.


Wie oft hat man sie schon totgesagt, doch
hier im Innern des Landes leben sie noch –
und folgen den Oberhirten und -lehrern,
den Homöopathen und weisen Sehern.
und lieben das erdverbundene Echte,
hassen zutiefst das Entartete, Schlechte,
sind kurz vor der Sturmflut noch guten Mutes
und tanzen im Takt ihres schweren Blutes,
einen Schritt vor, zurück eins, zwei, drei,
und schwitzen und strahlen und singen dabei:


Wie oft hat man uns schon totgesagt, doch
hier im Innern des Landes leben sie noch.
Ja, da leben sie noch. 

 

 


​​

 

Die richtige Lösung
(Finalzeilen aus der Ballade Monopoly)

…….

Der Tod der beiden Arbeitskollegen hat geschmerzt.
Vor allem das Werk, dessen Angehörige sie waren.
Es nützt dem Werk nämlich gar nichts, wenn gute Arbeitskräfte
einander erschlagen und erstechen. Das muss auch mal gesagt werden.
Und es gab eine Doppelbeerdigung.
Und viele Werksangehörige zogen mit.

 

Und auf den zwei Särgen haben Kränze gelegen.
Und daran waren Schleifen, und darauf stand:
Es gedenken der treuen Arbeitskollegen
Betriebsrat und Firmenvorstand.

 

Und ein Direktor hat auch gesprochen
vom gemeinsamen Boot, das uns alle eint.
Und das Leben ist Kampf, hat er paar Mal gerufen.

Aber Klassenkampf hat er wohl nicht gemeint.

 

Denn die richtige Lösung von diesem Problem,
die solln wir vergessen, die solln wir vergessen.
Weil, die richtige Lösung von diesem Problem
ist für einige, nur für sehr wenige, nicht angenehm.

 

Denn die richtige Lösung von diesem Problem,
die solln wir vergessen, die solln wir vergessen.
Weil, die richtige Lösung von diesem Problem
ist für einige - nicht für die Krauses -,
nur für sehr wenige - für die Krupps undsoweiter:-
Da ist sie nicht angenehm.

 

 


 

 

Väterchen Franz

He, Väterchen Franz, versoffner Chronist.
He, Väterchen Franz, sag du, wie es ist.
He Väterchen Franz! He Väterchen Franz!
Erzähle die Geschichte, erzähle sie ganz!
Nun gut. Väterchen Franz hebt an.

Seht ihr, Mitbewohner, drüben das Hygieneinstitut?
dort, wo heut die weißen Riesen die Gehirne waschen? Gut.
Bis dahin reichte damals unsere Vaterstadt –
und da lebten sie im Aussatz, die man nicht ertragen hat:
Der SS-Offizier, der nachts nicht schlief, sondern schrie.
Und der Zoodirektor, abgehalftert wegen Sodomie.
Der schwule Kommunist mit TBC und ohne Pass.
Der abgefallne Priester, der noch schwarze Messen las.
Das Hasenschartenkind, das biss, wenn’s bitte sagen sollt.
Und der Schreiner, der partout so wie Jesus leben wollt.
He, Väterchen Franz, versoffner Chronist ...
Nun gut. Väterchen Franz fährt fort.

Viele Jahre lebten sie dort zwischen Trümmern, Schrott und Müll,
aßen Krähen, tranken Wermut, rauchten Pfefferminz mit Dill.
Ihre Haare waren lang und ihre Bärte kraus und dick.
Und sie stanken wie die Füchse, jeder hatte seinen Tick:
Der SS-Offizier, der suchte Massengräber und
stieß überall mit einer Eisenstange in den Grund.
Der Zoodirektor schuf aus Pappe, Polsterzeug und Draht
ein riesengroßes Tier, das seufzen konnte, wenn man’s trat.
Der Kommunist, der malte rote Sonnen, prophezeite schon
für das nächste Wochenende die Weltrevolution.
He, Väterchen Franz, versoffner Chronist ...
Nun gut. Väterchen Franz fährt fort.

Und der Priester psalmodierte monoton von früh bis spät
ein aus Kurs-, Konzils- und Kriegsbericht bestehendes Gebet.
Und der Schreiner, der vermehrte meist den Wermutwein-Vorrat.
Und das Kind baute den Ratten eine richtige Rattenstadt.
Und so hätten sie gelebt, vielleicht bis heute irgendwann.
Doch es fing dann diese peinliche Geschichte plötzlich an:
Töchter und die Söhne aus den allerbesten Familien,
die zogen zunächst heimlich, später offen nach dorthin,
sangen rohe Lieder, tranken, liebten sich die kreuz und quer,
und sie ließen ihre Haare wachsen, wuschen sich nicht mehr.
He, Väterchen Franz, versoffner Chronist ...
Nun gut. Väterchen Franz fährt fort.

Viele schlugen mit den Fäusten sogar ihre Erbschaft aus,
schütteten die Mitgift in das Fass von Saus und Braus.
Sie verbrannten – dazu tanzend – gar den Abendlandaltar
und verleugneten ganz öffentlich die gelbe Gefahr.
Das ging nun freilich weiter als ein Highlife-Schabernack.
Voll Angst verschloss man alle Tempeltüren, auch am Tag.
Und im Hirtenbrief erklärte unser Zeitungszar zuletzt
das sittliche Empfinden unsrer Stadt als grob verletzt,
sprach dem Senat das Misstraun aus, befahl in barschem Ton
dem fetten Polizeichef eine Säuberungsaktion.
He, Väterchen Franz, versoffner Chronist ...
Nun Gut. Väterchen Franz fährt fort.

Es war an einem Montag, als die Säuberung begann.
Zwanzig Bagger robbten sich ans Aussatzrevier ran.
Das Hasenschartenkind, das mit den Ratten spielte, das
bemerkte sie als erstes, brüllte, schlüpfte in ein Fass.
Der SS-Offizier der grade bohrte, hörte Schreien,
gab Alarm, legte die Stange so wie eine Lanze ein,
galoppierte auf die Bagger zu, sang das Horst-Wessel-Lied.
Der Baukolonnenführer riss die Hand hoch und sang mit.
Die Baggerrachen fauchten, tief am Boden, und in ein‘
preschte, blind vor Glück und Wut, der SS-Ritter hinein.
He, Väterchen Franz, versoffner Chronist ...
Nun gut. Väterchen Franz fährt fort.

Es formierten sich die Bagger dann zu einem offnen Kreis,
rollten vor zu jenem Panzerlied – der Tag war glühend heiß.
Mit riesengroßen Seufzern fiel das riesengroße Tier
ineinander, ein paar Eisenraupen knirschten drüber her.
Dann zunächst fing man mit Netzen alle Bürgerkinder ein,
warf den zappeligen Fang in große Waschtröge hinein.
Nur die Aussätzigen ließ man, und die rannten hin und her.
Doch der Kreis wurd enger, schloss sich, und dann sah man sie nicht mehr.
Schließlich spritzte man noch Napalm. Wollt ihr wissen, was geschah,
wie das Hasenschartenkind zum Beispiel hinterher aussah?

Nee, Väterchen Franz, versoffner Chronist!
Nee, Väterchen Franz – sei’s wie es ist.
Nee, Väterchen Franz. Nee, Väterchen Franz.
Hör auf mit der Geschichte, Kunst ist doch Genuss!
Nun gut. Väterchen Franz macht Schluss..


                                  

                                          Franz Josef Degenhardt  
                                                   (* 1931, Schwelm / †: 2011, Quickborn)

 

 

 

Robert Gernhardt

 

Kleine Erlebnisse großer Männer:


Kant

Eines Tages geschah es Kant,
dass er keine Worte fand.
Stundenlang hielt er den Mund,
und er schwieg nicht ohne Grund.
Ihm fiel absolut nichts ein,
drum ließ er das Sprechen sein.
Erst als man ihn zum Essen rief,
wurd er wieder kreativ
und sprach die schönen Worte:
"Gibt es hinterher auch Torte?"

 

 


 

 

Ich sprach

Ich sprach nachts: Es werde Licht!
Aber heller wurd es nicht.
Ich sprach: Wasser werde Wein!
Doch das Wasser ließ das sein.
Ich sprach: Lahmer, Du kannst gehen!
Doch er blieb auf Krücken stehen.
Da ward auch dem Dümmsten klar,
daß ich nicht der Heiland war.

 

 

 


 

 

Gut und lieb

Kommt, das gute Brot des Nordens
wolln wir stückchenweise braten
in dem guten Öl des Südens,
wie es schon die Väter taten.
Von dem guten Wein des Westens
trinken wir, dieweil wir essen,
um die liebe Not des Ostens
schlückchenweise zu vergessen.

 

 


 

 

Ich selbst

Ich mach mir nichts aus Marschmusik.
Ich mach mir nichts aus Schach.
Die Marschmusik macht mir zu viel,
das Schach zu wenig Krach.



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Frage
Kann man nach zwei verlorenen Kriegen
Nach blutigen Schlachten und schrecklichen Siegen,
Nach all den Morden, all dem Vernichten,
Kann man nach diesen Zeiten noch dichten?
Die Antwort kann nur folgende sein:
Dreimal NEIN!



 



Enttarnt
Durch einen Fehler im Weltenplan
Lockerte sich mein Schneidezahn.
Da schoss es mir eiskalt durch den Sinn:
Wie, wenn ich nicht unsterblich bin?
Da schien mir urplötzlich sonnenklar,
Dass ich ein endliches Wesen war.
Da war ich schlagartig gewarnt. 
So habe ich Gott als Mörder enttarnt.

 

 


 

 

Ostfriesische Romanze

Zwei Leben werden enggeführt.
Zwei Blicke werden sehr gespürt.
Zwei Hirne werden sehr erregt.
Zwei Herzen werden sehr bewegt.
Zwei Körper werden sehr begehrt.
Zwei Seelen werden sehr versehrt.
Zwei Wochen lang wird sehr geflennt,
Dann hat man sich in Leer getrennt.

 

 



Ach!

Ach, noch in der letzten Stunde
werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe,
rufe ich geschwind: Herein!

 

Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd’n das Kind schon schaukeln —
na, das wäre ja gelacht!

 

Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach – und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?

 

Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links, von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?

 

Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibt‘s die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall’nes Stück

 

Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will
— ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon still.


                                      Robert Gernhardt

                                              (* 1937 Tallin / † 2006 Frankfurt/M)

 

 

 

F. W. Bernstein

 

Die Schlafsolistin

 

Ich mach' es gern auf einem Lindenbaum,
im Klassenzimmer und im Kofferraum,
ich tu's, wenn's sein muß, auf der Straße und
in Chefetagen und im Untergrund –
an jedem Orte will ich's treiben;
doch nachts im Bett möchte' alleine bleiben.

 

Ich mach' es oft auf einem Kirchenturm,
ich tu' es leidenschaftlich gern im Sturm,
im engen Taubenschlag, im Krönungssaal,
im Pförtnerhäuschen möcht' ich auch einmal –
an jedem Orte will ich's treiben;
doch nachts im Bett möcht' ich alleine bleiben.

 

Im Nebenzimmer, in der Eisenbahn,
im Kino hab' ich's öfter schon getan,
und auf dem Friedhof auch im offnen Grab,
wobei vor Lust ich mich gegruselt hab; –
auf Deinem Sofa werden wir's noch treiben;
doch nachts im Bett möcht' ich alleine bleiben.

 

Ich macht' es auch vor jeder Kamera
und im Konzert bei der Eroica,
im Beichtstuhl gar und selbst im Besenschrank,
vorm Kassenschalter in der Deutschen Bank,
der Lustgewinn laß ich aufs Konto schreiben;
doch nachts im Bett möchte' ich alleine bleiben.

 

Auf Bahnsteig sieben mach' ich's liebend gern,
im Buch lieb' ich den Blauen Kammerhern,
in echt tu' ich's auf dem Dreimeterbrett,
ich geige auch mit einem Streichquartett.
Am liebsten würd' ich's allerorten treiben.
Nur nachts! Im Bett! Möchte' ich alleine bleiben.

 

Also raus!

 

 



 

Apokalypsen-Programm

Montag geht die Welt zugrunde.
Dienstag regnet’s und ist kalt.
Mittwoch um die zehnte Stunde
wird kein Geld mehr ausgezahlt.

Donnerstag nur Feuersbrünste.
Freitag früh ist Jüngster Tag.
Samstag Ende aller Künste -
und zwar ZACK auf einen Schlag.

Sonntag herrscht dann endlich Ruhe.
Und die Straßen wüst und leer.
Auf der Post noch ein Getue.
Pst – nun ist auch das nicht mehr.

 

 


​​

 

Katastrophenschutz

Bürger, schützt die Katastrophen,
schützt den Hunger und das Gift,
damit es nicht nur die doofen
Armen, sondern alle trifft.

Bürger, schützt unser Verderben,
das Geschäft ist daran schuld.
Schützet es und seine Erben,
habt ein bissele Geduld.

Bürger, tut was für die Krise,
schützt den Müll und den Profit.
Schützt den Staat, der allen diesen
Schäden an die Seite tritt.

Bürger, wenn es uns nicht gäbe!
Schützt den Kern und seine Kraft
und die abgebrannten Stäbe
und was sonst uns noch abschafft.

Bürger, schützt vor allen Dingen
sauren Regen, Dioxin.
Soll der Untergang gelingen,
sind am End wir alle hin.

Bürger, haltet hoch in Ehren
die chemische Industrie.
Wer soll unser Land verheeren
jetzt im Frieden, wenn nicht sie.

Bürger, Eure Millionen
für ein dickes Militär!
Warum sollen wir uns schonen.
Irgend so ein Krieg muss her.

Auch der größte ausdenkbare
Bürger, der geht mal entzwei.
Das ist ja das Wunderbare:
Am Ende ist’s mit uns vorbei.

Au wei!



                                     F. W. Bernstein  (= Fritz Weigle)
                                     (
* 4. März 1938 Göppingen -
† 20.12.2018 Berlin)

 

 

Wiglaf Droste

 

Weltanschauung, Leitkultur

Die Erde ist eine Scheibe,
man nennt sie auch Golden Toast.
Das gibt der Menschheit beim Leibe
des Herrn Jesus Christus Trost.


Die Erde ist manchmal ein Plätzchen,
bestreut mit Zucker und Zimt.
Wir regeln beim Ka-ka-o-Schwätzchen,
wer sich das Plätzchen nimmt.


Die Erde isst man als Schnitte
Graubrot, scheiblettenbelegt,
mit Senfgürkchen schön in der Mitte,
und Zwiebel, das fetzt und das fegt.


Die Erde ist eine Scheide,
Pardon, das war ein Versprecher.
Doch gehst du nicht zärtlich beim Weibe
Vatta, bist du ein Verbrecher.


Die Erde ist Summe der Scheiben
von Kinnings am äußersten Rand.
Die springen und fliegen und schreiben
und halten der Kwerschraft stand.


Die Erde muss Scheibe bleiben,
randvoll mit sauschönen Sachen.
Was ist es, das wir hier treiben?
Wir kugeln uns nur noch vor Lachen. 

     

     


 

 

Frühlingsanfang 2015

Zum 87. Geburtstag von Peter Hacks

Nimm nicht alles, was sie geben,
nimm nicht jedes Stückchen Brot.
Statt‘ dem Dank ab, der’s verdient hat,
was nicht gut ist, macht nicht satt.
Und es nähert sich die Stunde,
wo der Teufel Fliegen frisst.
Du musst die Entscheidung treffen,
deine Segel bläh’n und reffen.
Bis zur allerletzten Runde
in der Wahrheit Wahrheit ist.


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Trunk und Skunk

Eine olfaktorische Betrachtung

 

Außen voll und innen hohl:
Das war wohl der Alkohol.
Sucht ist eine böse Frucht,
Sie bedeutet Flucht mit Wucht.
Und so ist man suchtverflucht,
Wenn man sucht und sucht und sucht.

Aber, wie man’s dreht und windet,
Niemals findet, findet, findet.
Alsbald setzt man jedenfalls
Sich die Buddel vorn vor’n Hals.
Dies lässt einen niedersinken
Und auch aus dem Maule stinken.

Ruhm und Ruf längst weggepfändet,
Inwendig schon halb verendet,
Pestet man, kaum ist’s zu sagen,
Miserabel aus dem Magen.
Wenn sich dann die Welt abwendet
Und nur ein Signal noch sendet:

Puuh, da hilft nicht mal Odol! 
Fühlt man sich auch nicht mehr wohl.
Vieles ist nicht schön am Trunk,
Aber stinken wie ein Skunk
Ist der Punkte allertiefster.
Alle stöhnen: Mann, was mieft der!
Garstig gärt es aus dem Weinschlauch,
Böse ist des Trinkers Anhauch,
Schon von seiner Fahne ist man
Breiter, als man sonst je sein kann.

Doch der Odem, er verfliegt,
Wenn man Suff und Sucht besiegt,
Frohe Kunde macht die Runde:
Er riecht nicht mehr aus rohem Munde.




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Richtig spachteln gegen Nazis

Hitler vegetierte arisch,
lebte vulgo vegetarisch.
Fleisch? Niemals, nicht einen Happs!
Auch kein Bier und keinen Schnaps,
und auch niemals Zigaretten,


Denn es galt, die Welt zu retten:
Vor den Bolschewiken, Juden,
allem Schönen, Wahren, Guden
also vor den Großgenüssen.
Deshalb schrieb der Mann »Mein Kampf«.


Junge deutsche Antifaschen
Ähneln oft den Hallimaschen:
Fahl sind sie und mickrig und

magersüchtig ungesund.


Denn ihr Leben ist, ich ahn es,
jederzeit ein vollveganes.
Und ihr Tierschutz-Übereifer
ähnelt Adolfs Vegi-Geifer.
Das wird sich rasch ändern müssen.
Deshalb sag ich euch: Kein Mampf!


Und zum guten Futtern taugen
Tiere, die nun einmal Augen
haben, Nase und auch Mund,
ißt man sie, lebt man gesund.


Selbstverständlich gilt die Pflicht:
Quältierware frißt man nicht.
Fröhlich muht die Bio-Kuh:
»Macht doch mal McDonald s zu!
Eßt mich auf, von meinem Saft
kriegt ihr Anti-Nazi-Kraft!«
Und dann wird euch zügig klar:
Fleisch ist ein Stück Antifa!«




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               Aufklärung
               eines populären Irrtums

                            Ein Alptraum für Fortgeschrittene

            Die Binsenweisheit, dass Betrunkene die Wahrheit sagen,
              trifft zu, doch gilt sie nur bei Amateuren.
              Trink-Profis trinken, weil sie’s nicht ertragen,
              dass sie nicht zu sich selbst und damit auch zu keinem sonst gehören.


              Statt dessen wollen sie sich laut Gehör verschaffen,
              auf eine Art, die niemand, auch sie selbst nicht, hören will.
              Sie machen sich zur Wurst, zur Nuss, zum Affen.
              Im Wissen, es wär’ besser, sie wär’n still.


              Doch unter Zwang beleidigen sie und verletzen
              Gefühle derer, die es unverhofft und gänzlich unverdient dann trifft.
              Sie schätzen sich gering und wissen and’re nur gering zu schätzen.
             Ach hätten sie, allein und friedlich, in Ruhe mit sich selbst doch nur gekifft.


              Doch »hätte« hilft in diesem Zustand nicht, und man tut nur das,
              was man kann.
             Man prügelt, die man liebt, mit Worten, besudelt die geliebte Sprache
             noch gleich mit.
             Und kann nicht aufhör’n, denn der Dämon sitzt im Sattel, feuert an,
             und aus dem Maul geword’nen Mund rinnsalt nichts außer Shit.


             Dann brechen sie zusammen. Und werden, leer und ausgehöhlt,
             dann wieder wach,
             und schämen sich knietief und beinahe zu Tode, und hoffen
             auf’s Vergehen ihrer Zeit.
             Die Schuldgefühle, rattenrudlig, grinsen sie an, denn sie sind
             so erbärmlich schwach.
             Und sie verfluchen sich: »O Gott! Ich Arsch, ich Vollidiot!
             Es tut mir alles schrecklich leid!«


             Und meinen das, ernüchtert, ganz genau so, wie sie’s sagen.
             Und können sich danach noch weniger als vorher schon ertragen. –
             Dies zu dem Unterschied zwischen den mal Trunkenen und echten Trinkern.
             Er ist nicht kleiner als der zwischen den Olympialäufern und den Hinkern.

 


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Kleines Liedchen
zum Abschiedchen


Kitsch heißt: Man lebt knietief,
nur noch im Diminutiv,
wo man All und alles verniedlicht:
und selbst noch den Nordpol versüdlicht.


Baby hat so schöne Löckchen,
Hündchen apportiert das Stöckchen,
die Sau wird zum Schweinchen,
zum Tierchen auf Beinchen.


Mein klein’ Freundchen Heinchen
lädt Säufer zum Weinchen,
zu Schnäpschen und Bierchen
und pflegt sein Pläsierchen.


Jungchen trägt Zöpfchen,
darunter ein Köpfchen.
Der Platzhirsch mag Plätzchen,
Hoses Matz macht gern Mätzchen


und sich auch ins Höschen.
Das Mädchen flicht Röschen
DKP_EU-Wahl_0705-2605_armut_
in die Härchen ums Möschen.


Mancher nennt es auch Döschen:
Pandora ihr Bärchen,
und das ist kein Märchen.
Das ist der Fluch der Verniedlichung.


Der hält noch die Ältesten kleinkindchenjung.
Sie mümmeln ihr Breichen
und morgens ein Eichen,
das sind keine Bäumchen,
es sind bloß Alpträumchen.


Nun komm schon, mein liebstes Bienchen,
bring Äpfelchen und Apfelsinchen
und Rosinchen und Marmelädchen.
Du bist ein so kirschsüßes Mädchen!


Wir sitzen am Frühstückstischchen,
essen Brötchen, Bütterchen, Fischchen,
und das schwarz-weiße Katerchen
schnurrt, dass im Kapellchen das Paterchen
ganz baff bis ins Beffchen
als warnendes Äffchen
mahnt und droht mit dem Teufelchen.
Doch wir springen ihm fröhlich vom Schäufelchen.


Er kriegt, und ist er noch so erpicht
auf sie, uns’re Seelchen doch nicht.
Kätzchen gibt Pfötchen.
Nur der Tod ist kein Tödchen.


Huhn wird zum Hühnchen, Hahn ist ein Hähnchen,
das Leben ist manchmal ein feines Romänchen.
Nun noch ein Morgenbanänchen,
dann wedele ich mit dem Fähnchen
Dir zum Abschiedchen noch einmal zu:
Ach Du, ach Duchen, ach Du …

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Mein Freund Hein. Ein Liedchen

Es klingelt an der Tür, da steht Freund Hein.
»Was für ’ne Überraschung, komm doch rein!
Legst du ab?
Nein, du magst kein Gestrippe,
Denn dann sieht man dein Gerippe,
Komm tritt näher, komm tritt ein, mein Freund Hein!


Bitte setz dich, mein Freund Hein, was soll es sein?
Willst du’n Kurzen, einen Longdrink, ein Glas Wein?
Stört es dich, wenn ich noch gar nichts trinke,
Weil ich ehrfürchtig versinke,
Vor dir, mein Freund Hein, mein Freund Hein.

Es ist Ehrfurcht, nicht Furcht, mein lieber Hein,
Ehrfurcht vor dem Alter, das muss sein.
Komm, lass uns ein bisschen sitzen,
Lebensweisheiten verspritzen,
Denn das geht so gut mit dir, mein Freund Hein.


Blass und schmal geworden bist du, mein Freund Hein.
All das Töten, Sterben, Morden, haut das rein?
Und hast du, mein schwarzer Riese,
Eine fiese Mid-
Death-Krise?
Komm, hör auf, das kann nicht sein, mein Freund Hein.


Was ist denn los mit dir, mein Freund Hein?
Pinkelte ich dir etwa ungewollt ans Bein?
Bitte bleib noch eine Weile,
Mensch, wir haben keine Eile,
Komm, bleib sitzen, ruh dich aus, mein lieber Hein.


Nein, du musst jetzt wirklich gehen, mein Freund Hein?
Schade, aber wenn du’s sagst, muss es so sein.
Nimm noch einen für die Straße,
es ist zugig auf der Gasse.
Pass gut auf dich auf da draußen, mein Freund Hein.


Ungern nur lass ich dich ziehen, mein Freund Hein.
Unterwegs bei Tag, Nacht, Wetter, Wind, allein,
Doch du musst ja deine Arbeit machen,
Ganze und nicht halbe Sachen,
Und musst zuverlässig sein, mein lieber Hein.


Drum sei wacker und nicht traurig, mein Freund Hein,
Denn du bist mit deinem Schicksal nicht allein.
Wir sind Sisyphus, nicht Sissi,
Aber dann heißt’s Schluss und tschüssi.
Dann ist Feierabend, auch für dich, Freund Hein.


Hast du’s auch schon auf der Pumpe, mein Freund Hein?
Ach, das ist doch schnurz und wumpe, lieber Hein!
Was die Leute sich erzählen,
wenn wir beide uns vermählen,
Ist mir so egal, wie’s dir ist, mein Freund Hein.


Ja, das ist uns beiden gleich, mein Freund Hein.
Ob lebendig oder Leich, mein Freund Hein,
Macht es uns auch kreidebleich,

So macht’s uns doch beide gleich,
Gleich und frei und brüderlich, mein lieber Hein!


Bitte lass dir nicht einreden, gerade du wärst zu hart.
Denn du bist nun mal der erste und der letzte Demokrat.
Du machst ob schlau, ob dumm, ob arm oder ob reich,
Alle Menschen auf der Welt alle, alle gleich,
Gleich und frei und brüderlich, mein lieber Hein!
Gleich und frei und brüderlich, mein lieber Hein!«



 

Wiglaf Droste

(* 27. 6. 1961 Herford -
  15.5.2019 Pottenstein/Franken)

 

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© Klaus Ulrich Spiegel