K.u.K. Mezzo-Diva
Laura Hilgermann: Grande-Dame der Wiener Oper
Die dauerhafte Legende von der Erneuerungs-Ära der Wiener Oper unter der Direktion des
großen Musikers Gustav Mahler gewinnt ständig neue Präsenz - auch durch den Zugriff auf die Archivbestände an Tondokumenten der Bühnen- und Gesangssolisten aus Mahlers Star-Ensemble seit 1897 ff.,
der frühen akustischen Tonaufnahme-Ära. Kaum eine Versammlung repräsentativer Hörbeispiele für Vokalkunst im damaligen deutschen Sprachraum gibt uns Höreindrücke von so informativ-authentischem
Gewicht wie diese.
Unter den Sängerlegenden aus dieser Quelle mag eine stattliche Zahl von
Jahr-hundertsänger/innen - wie Mildenburg, Kurz, Saville, Weidt, Walker, Kittel, Slezak, Schmedes, Dippel, Naval, Demuth, Weidemann, Hesch, Mayr - dominieren: doch eindrucksstark, maßsetzend
erscheint die Gesamtbetrachtung der damaligen Besetzungen, auch nach Jahrzehnten und Generationen international
berühmter,
ja verklärter Stimm- und Gesangsgötter auf Tonträgern. Dieses Gesamtniveau eines beim Abgang des Inspirators zur Weltgeltung gelangten Solistenstamms behielt Bestand. Es bestimmte auch die
Folgejahrzehnte bis in die 1930er Jahre und zum Weltkrieg.
Unter vielen Details, die der Betrachtung und Analyse wert sind, fällt eine Tendenz
in Mahlers Ensemblebildung auf, die mitunter überraschen kann. Der Opernchef Mahler hatte offenbar eine Vorliebe für dunkeltönende und farbenreiche Frauen-stimmen - dies weit über Fachgrenzen hinaus.
Nahezu alle seine Vokalkompositionen, Klavier- und Orchesterlieder, Sinfonien-Soli, Gesangszyklen sind für tiefere Tessituren (fallweise alternativ durch Baritone ersetzbar) geschrieben. Doch
die Sängerinnen dieses Stimmtyps in Mahlers Wiener Sänger-Ensemble hatten Gelegenheit und wohl auch Förderung für Facherweiterungen, nicht nur in Abbasso-Tiefen, sondern auch in Sopran-Höhen. Die
drei zentralen Mezzo-Primadonnen der Mahler-Ära - Kittel, Walker, Hilgermann - vergegenwärtigen das, in ihren Bühnenrollen sowieso, doch auch in ihren Tonaufnahmen.
Kritischen Hörern heute beschert das erstaunliche Eindrücke, ungeachtet der ein-geschränkten
Tonqualität des Acoustic-Verfahrens mit seiner gerade bei Frauen-stimmen geminderten Reproduktionsfähigkeit hoher und heller Diskantklänge. Bei mittleren und tiefen Registern (im Obertonbereich
zwischen 2.500 und 3.000 Hertz) sind Sängerinnen-Stimmen ‚phonogener‘, weil energiereicher und darum realitäts-näher: Je schallkräftiger = raumfüllender die Naturstimme, umso besser ihre akustische
Abbildung auch via Aufnahmetrichter.
Die genannten Wiener Mezzosopranistinnen/Altistinnen kommen deshalb in durch-wegs guter = informativer Klangqualität und Timbre-Eigenheit vors Ohr. Das gilt besonders für die - leider schmale -
tönende Hinterlassenschaft der Hofopernsängerin Laura
Hilgermann, der diese CD gewidmet ist. Sie ist in der
Gesangshistorie primär als Altistin notiert, war aber ausweislich ihrer Tonaufnahmen eine echte Mezzo-sopranistin mit dramatisch orientierter, klanggewichtiger Faktur - und beachtlicher
Expansionsfähigkeit, ähnlich ihrer lyrischer orientierten Kollegin Kittel oder der zur Sopranheroine aufgestiegenen Walker. Hilgermann war eine nicht nur Wiener, sondern auch groß-österreichische
Erscheinung, ein Denkmal ihrer Ära - freilich
auch mit ein paar Schrammen.
Laura Hilgermann – Alt - Sopran
* 13, Oktober 1857 Wien - † 9. Februar 1945 Budapest
Als Laura Oberländer wurde sie geboren. Ihr Vater war Schullehrer in Wien.
Sie wuchs als Kind bürgerlicher - und das hieß damals: kulturell interessierter und bewusster - Kreise auf, erlebte früh Kunst, Theater, Konzert und Oper, gewann auch Kontakt zu Berufsmusikern. Ihre
Gesangsstimme wurde von einer Wiener Operettensoubrette entdeckt. Früh erhielt sie Gesangsunterricht. Ihre Lehrer waren Karl Maria Wolf und Siegfried Rosenberg, ihr späterer erster Ehemann. Ab 1887
trat sie unter dem Bühnennamen Hilgermann auf, nach
einer zweiten Eheschließung in Ungarn auch als Hilgermann-Radó.
Debüt und Karriere - dreimal Spitzenbühnen
Ihr Bühnendebüt gab sie 1885 am Deutschen Theater Prag in der dramatischen Alt-Partie der
Azucena in Verdis Il Trovatore. Dort war der legendäre Impresario und Wagner-Protektor Angelo Neumann Operndirektor. Unter seiner Ägide trat die junge Sängerin durchwegs in Partien für
Altstimme auf. In ihrer vierten Spielzeit in Prag kam es über Besetzungsfragen zu einer Auseinandersetzung
mit Neumann, die sich nicht heilen ließ. Hilgermann verließ deshalb mitten in der Saison Prag. Ein Engagement an der Nationaloper Budapest erleichterte ihr diesen Schritt. Sie avancierte zur ersten
Altistin dieses Hauses von damals europäischer Bedeutung und blieb es für zehn Spielzeiten - bis sie von Gustav Mahler 1900 in dessen bereits berühmtes Ensemble an die Wiener Hofoper verpflichtet
wurde.
Mit Ausnahme der Spielzeit 1902/03, als sie sich für weitere Studien beurlauben ließ,
gehörte sie dem Wiener Opern-Verband bis 1920 an, setzte ihre Laufbahn als reisende Gastsängerin fort und hatte weiterhin regelmäßig Auftritte an der nun-mehrigen Wiener Staatsoper, zu deren
Ehrenmitglied sie beim Ausscheiden aus den festen Vertragsbindungen ernannt worden war. 1936 beendete sie ihre Bühnenkarriere und übersiedelte nach Budapest, wo ihr eine Professur für Stimmbildung an
der Ferenc-Liszt-Akademie übertragen wurde. Ihre Lehrtätig-keit gewann rasch Geltung durch Schüler/innen mit ruhmvollen Karrieren - so den echten Contraltistinnen Enid Szanto und Maria
von Ilosvay, Sopranstars wie Mária Németh und Gitta Alpar, dem Helden- und Charaktertenor Anton Arnold, einem späteren Rollen-Rekordhalter an der Wiener
Staatsoper.
Ruhmgewinn in Mahlers Star-Ensemble
Wie ihre von Gustav Mahler engagierten und geförderten Fachkolleginnen Hermine Kittel und
Edyth Walker war Laura Hilgermann ein Mezzosopran mit beachtlicher Expansionsfähigkeit - einerseits ins dramatische Alt-Fach, anderer-seits zur Sopranlage der jugendlichen Kategorie. Sie beherrschte
ein Rollen-repertoire von etwa 65 Partien (56 in Wien) - von 1. Norn und Waltraute in der Götterdämmerung über Adriano, Venus, Ortrud, Brangäne, Fricka, Azucena, Amneris, Klytämnestra bis zu Dorabella, Idamantes, Giulietta, Carmen, Mignon, Elisabeth, Sieglinde, Gutrune, schließlich
sogar zu Soprano-lirico-Partien wie Mozarts Contessa, Glucks Eurydike, Offenbachs Antonia. Unter den an der Wiener Oper meistgebotenen waren Dorabella in Mahlers ruhmvoller
Revitali-serungs-Produktion von Così fan tutte, Glucks Orpheus, Sieglinde in Wagners Walküre, Verdis Azucena und Amneris, die Titelgestalten in Mignon und
Carmen. Sie übernahm auch Aufgaben in zeitgenössischen Werken und deren Ur- und Erstaufführungen - so in Siegfried Wagners Banadietrich, Franz Schrekers Die Gezeichneten,
Janáceks Jenufa, Wolf-Ferraris Neugierigen Frauen, Gortners Süßes Gift, Korngolds Violanta, Goldmarks Wintermärchen.
Hilgermanns Schwerpunkt lag im Bereich der Mezzo-Partien lyrischen wie dramatischen Charakters. Im Gegensatz zur Kollegin
Kittel, die eine wahre Fantuttona weiblichen Bühnengesangs war, beschränkte sie sich auf Partien im Umfang von etwa G-B‘‘/C‘‘‘, was für eine Stimme mit Contralto-Register bereits eine weite
Ausdehnung ist, insbesondere bei hochdramatischen Rollengestal-tungen. Hilgermann war darüber hinaus - wieder im Gegensatz zu ihren unmittelbaren Fachkolleginnen - auch eine engagierte,
kontinuierlich tätige, weithin geschätzte Lied-Interpretin. Konzertlieder bilden einen erheblichen Anteil ihrer nicht umfangreichen Diskographie: G&T 1902, Pathé 1905, Gamophone 1908 + 1909, alle
in Wien.
Erstaunliche Hinterlassenschaft
Laura Hilgermann hinterließ Tonaufnahmen von so erstaunlicher wie erfreulicher Klangpräsenz.
Sie vermitteln eine farbenreiche Mezzo-Stimme. Contralto-Partien fehlen bedauerlicherweise völlig. Dafür gibt es einen im Vergleich zur Bühnenlaufbahn auffälligen Anteil an Sopran-Stücken aus dem
dramatischen und sogar lyrischen Fach: Contessa Almaviva, Antonia, Elisabeth, Sieglinde, Santuzza. Die Mehrzahl ist hörbar um bis zu 1½ Töne transponiert. Dennoch hatte die Sängerin mit einigen
ohnehin komplexen (meist durch Registerwechsel erschwerten) Notenbindungen ihre Mühe. Anders als die beweglicher phrasierende Hermine Kittel in denselben Stücken muss Hilger-mann ihre von Natur
schwerere Stimme per Glottisschlag stellenweise zur Vollhöhe pressen.
Auch die Intonation wirkt zwar bewusst, aber nicht völlig souverän: Im „alten Stil“ lässt sie Tonintervalle und Figurationen an- und abgleiten. Das Klangbild ist insgesamt kraftvoll und voluminös, es
vermittelt imponierende Klangpracht und vibrante, beinahe stählerne Schallkraft. Soweit in den frühen Trichteraufnahmen möglich, vermittelt sich Hilgermann auch als „wissende Sängerin“, dies nicht
zuletzt in ausgewogen-dosierten, vermittlungsstarken, schönstimmigen Lied-gestaltungen.
Am 7. Oktober 1909 hatte sie für Gramophone in Wien eine Folge von Gesangs-schul-Etüden
eingesungen - eine Disko-Rarität, auch ein Vorgriff auf die spätere Gesangs-Meisterpädagogin.
Laura Hilgermann war so etwas wie eine Grande-Dame im Wiener Opernleben - nicht nur als
Sängerin, auch als künstlerische und gesellschaftliche Erscheinung. Als grenzüberschreitende Protagonistin der Musikbühne genoss sie Respekt und Ansehen. Sängerinnen wie sie werden heute
international vermarktet. So ist sie vor allem ein Beispiel für das generelle Kulturniveau ihrer Zeit, einer Wiener
Ära mit langdauerndem Nachhall.
KUS