jW – 24.12.2016

“Der Kapitalismus ist eine Religion.“

Gespräch mit Eugen Drewermann. Über Lohndumping,
Kapitalismus als Kult und den Mangel an Hoffnungsträgern

Interview: Horsta Krum

Eugen Drewermann ist katholischer Theologe. Die katholische Kirche entzog ihm im Oktober 1991 die universitäre Lehrerlaubnis. Ab dem 9. Januar 1992 durfte er dann auch sein Priesteramt nicht mehr ausüben. Der damalige Briefwechsel mit dem zuständigen Erzbischof von Mainz ist in dem Buch »Worum es eigentlich geht« dokumentiert.

Eugen Drewermann: Geld, Gesellschaft und Gewalt. Kapital und Christentum
Band 1. Patmos-Verlag, Ostfildern 2016, 406 Seiten, 32 Euro
Band 2 (Frühjahr 2017 )trägt den Titel »Finanzen, Frieden und Freiheit«

Frage:
»Der Kapitalismus hat sich nie geändert, er hat nur die Dimensionen seiner Verbrechen, die er als legitime Interessenwahrung hinstellt, vom Regionalen ins Globale ausgedehnt« – das ist ein Zitat aus Ihrem jüngst erschienenen Buch »Geld, Gesellschaft und Gewalt«, dem ersten von zwei Bänden; beide haben als Untertitel »Kapital und Christentum«. Sie geben eine ausführliche Analyse des Kapitalismus. Wer sich nicht oder kaum mit Ökonomie beschäftigt hat, findet hier ein Lehrbuch. Wer »Das Kapital« und andere Klassiker kennt, findet Bekanntes, besonders in der Analyse, aber auch Abweichendes. Sie verhandeln ein Thema, etwa Sklaverei, Handel, Krieg, nicht isoliert, sondern als Teil der Menschheitsgeschichte. Es geht also um Kapitalismus. Wie kommt der Theologe Eugen Drewermann dazu, sich diesem Thema so ausführlich zu widmen?

 

Antwort Eugen Drewermann:
Ich halte die ursprüngliche Botschaft des Christentums für antikapitalistisch. Den Kapitalismus betrachte ich als eine Wachstumsdynamik, die sich unter zwei Voraussetzungen selber unter Zugzwang setzt: Die eine ist der Faktor der Konkurrenz – ein Krieg aller gegen alle, der nur zu gewinnen ist, wenn man bei gegebenem Marktpreis billiger produziert als die Konkurrenz derselben Branche. Das geschieht durch Lohndumping und durch eine effizientere Ausbeutung der Natur zum Schaden von Tieren und Menschen, besonders in den Ländern der »dritten Welt«.
     Dieses geht einher mit der ständigen Regime-Change-Strategie vor allem der USA: Sie brauchen korrupte Regime, die dafür bezahlt werden, den transnationalen Konzernen jedes Recht zuzuschanzen und sie machen zu lassen, was sie wollen. Die jüngsten Beispiele sind die Handelsabkommen CETA, TTIP und die Ostausdehnung der NATO. Dieses System kann sich nur erhalten durch ständiges Wachstum, es muss kriegerisch sein. Es ist strukturell außerstande, das zu tun, was dringend nötig wäre, nämlich das Gleichgewicht herzustellen zwischen Mensch und Natur. Täte es das, wäre es am Ende.

 

Das erste Wort Ihres Buchtitels ist »Geld«.
Ist das die zweite Voraussetzung?

Geld, aber nicht mehr in der produktiven, sondern in der monetären Sphäre. Wie die Unternehmen Druck ausüben auf die Beschäftigten, so üben die Kapitaleigner Druck auf die Unternehmer aus. Wer in den Wirtschaftskreislauf des Kapitalismus eintreten will, muss hochverzinsliche Kredite aufnehmen, also den geliehenen Geldern auf dem Markt hinterherlaufen, um die schon gemachten Schulden plus Zinsen einzufangen. Die Banken haben inzwischen gar kein Interesse mehr, durch Kreditvergaben investiv in die Wirtschaft hineinzuwirken. Sie haben längst gemerkt, dass man mit Geld direkt Geld verdienen kann durch Spekulation. Sie führen Schulden auf der Habenseite, wobei ihnen entgegenkommt, dass die Staaten ja selber in unglaublichen Schuldenkrisen stecken. Das so reich scheinende Staatsgebilde Bundesrepublik Deutschland hat mehr als 2,3 Billionen Euro Schulden, eine gigantische, unbezahlbare Größe. Aber die Banken gehen mit den Staatsanleihen um, als seien sie wirkliche Guthaben, mit denen sie spekulieren können. Und die Opfer von alledem sind immer wieder die Menschen, die man verschulden muss, damit wenigstens irgend etwas zurückkommt.

     Rosa Luxemburg hat einmal gefragt, wie es denn möglich sei, dass sich der sogenannte Mehrwert versilbert. Das geht nur, indem die Menschen in den Schuldturm gesetzt und damit erpressbar werden.

 

Mit dem Thema »Schuld, Schulden« haben Sie sich oft auseinandergesetzt.
Dabei bin ich auf Walter Benjamin gestoßen, der 1921 in einem kleinen Fragment schrieb, der Kapitalismus sei eine Religion – und das ist mittelbar auch die Antwort, warum ich mich als Theologe für diese Wider-Religion interessiere. Benjamin setzt voraus, dass die Gier ein gewolltes Ziel des Kapitalismus ist. Die Unersättlichkeit der persönlichen Bedürfnisse ist nur der Reflex der objektiven Wachstumsdynamik dieses Wirtschaftssystems. Die völlige Sinnentleerung soll kompensiert werden durch immer neue Sehnsüchte, die dem Subjekt als Glücksbedarf vorgegaukelt werden: Wenn du dies kaufst und das auch noch hast, kannst du dich glücklich schätzen im sozialen Wertempfinden. Am allerärgsten ist aber – darauf macht Benjamin aufmerksam –, dass diese Religion des Kapitalismus ein Kult ist, der keine Ausnahme kennt, der rund um die Uhr arbeitet. Wir sitzen hier gegenüber einem Kaiser’s-Supermarkt und lesen: Öffnungszeiten von 7 bis 24 Uhr. Eigentlich könnte man doch gleich rund um die Uhr öffnen!

 

Gibt es bereits: Galeria Kaufhof am Alexanderplatz wirbt damit, dass man dort gelegentlich rund um die Uhr shoppen kann. Würden sich Gewerkschaften und Kirchen nicht wehren, wäre das wohl schon ein Dauerzustand. Aber Kaiser’s, dessen Reklame wir hier sehen, haben die langen Öffnungszeiten nichts genützt.
Die Beute teilen sich jetzt Rewe und Edeka.

Der Kapitalismus, auch das hat Benjamin geschrieben, ist eine Religion, die nicht wie
die anderen Religionen entsühnt, sondern die immer weiter in die Schulden treibt. Am Ende steht die Erwartung der Apokalypse. Man dient einem namenlosen Gott, der sich
im Crash offenbart. Und dann wird erklärt werden, dass der freie Markt alternativloses Schicksal war. Er war aber überhaupt nie frei, er war angelegt auf den Untergang, auf
den Crash.

 

Wie viele Opfer wird das kosten?
Opfer an Tieren, an menschlichem Leid, an Kriegen, die im Nahen Osten, in Nordafrika geführt werden, um die Erdölressourcen zu sichern. Bereits 1991 stellte Paul Wolfowitz, Berater mehrerer US- Präsidenten und späterer Weltbankchef, eine höchst korrupte Persönlichkeit, die Agenda auf, die jetzt abgearbeitet wird: wie man den Irak und Syrien zerstört, wie man Libanon, die Hisbollah destabilisiert, Libyen angreift, den Iran dazwischen nimmt. Man kann von Glück sagen, dass Obama gegen Ende seiner Amtszeit diesen Spuk beendete, hatten doch die Israelis alle paar Tage damit gedroht, der angeblichen atomaren Gefahr, die vom Iran ausgehe, durch einen Großangriff zu begegnen.
     Es ist nicht möglich, Kapitalismus von Gewalt und Krieg zu trennen. Gefühle wie Mitleid, Menschlichkeit kann er nicht aufbringen, denn er kennt nur eine einzige Form von Verantwortung – wenn man diesen sittlichen Begriff überhaupt anzubringen wagt –, nämlich die Rendite­steigerung, die die Aktionäre erwarten. Für nichts sonst ist er verantwortlich. Wir können nur von Herzen wünschen, dass wir dieses System endlich loswerden!

 

Gibt es denn heutzutage irgend etwas dagegenzusetzen?
Ich habe dieser Tage durch Zufall Mikis Theodorakis im Fernsehen der DDR gesehen
bei einem Konzert von 1987 …

 

Wen gäbe es heute noch als Hoffnungsträger, jemanden wie ihn? Mit rauh gewordener Stimme und im Rollstuhl sitzend, hat er noch in diesem Sommer
Mut zugesprochen und zum Widerstand aufgerufen.

Ein Mann, der gegen die Obristen gekämpft hat, der bekennender Kommunist war, der schon gleich nach 1945 auf seiten der ELAS stand, der unter drei Regimen gefoltert wurde, ins Ausland musste, der geradegestanden hat für alles. Hört man seine Lieder, ist man bewegt und wünscht sich eine Menschheit, die zusammenwächst in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, aber doch nicht zur Durchsetzung von Kapitalinteressen transnationaler Konzerne.
     Dieses sehend, kann man nur feststellen: Die drüben hatten uns im Westen doch mal was zu sagen und hatten es nicht verdient, dass wir im Durchmarsch alles platt machten. Es gab 1989 das Angebot von Gorbatschow, Gesamteuropa vom Ural bis zum Atlantik zu demilitarisieren. Das war übrigens das dritte Mal, dass die Russen einen Vorstoß zur Demilitarisierung machten: 1952 in der Stalin-Note, 1956 durch den polnischen Außenminister Rapacki. Nie wurde das gehört, aber halluziniert wurde, dass der Russe nachts im Nebel mit Panzerarmeen das übrige Europa überrollt. Das wollte er nie und hätte es auch gar nicht gekonnt. Aber es diente als Alibi für permanente Rüstung bis hin zum Wahnsinn, dass Atomkriege führbar seien. Und da sind wir jetzt dicht dabei. Will man wirklich, was im Kalten Krieg undenkbar war, nämlich die Erstschlagskapazität in dem Sinne, dass man diesen Schlag führen kann, ohne im Gegenschlag getroffen zu werden? Das alles ist die Apokalypse.

 

Haben Sie Hoffnung?
Wenn ich ehrlich bin: nicht viel. Das sage ich, weil ich religiös denke. Würde ich nur politisch denken oder nur als Tierschützer oder nur als Menschenrechtler, als der ich mich engagiere, seitdem ich denken kann, würde ich sagen: Es ist nicht möglich, Erfolg zu haben. Wir haben im Westen in der Friedensbewegung nichts erreicht, sondern erleben heute, dass die Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft ankommt. Frau von der Leyen bringt mit schönem Gesicht siebzehnjährigen Mädchen bei, dass Panzerfahren ein Vergnügen sei. Sie schickt ihre Offiziere zur Werbung in die Schulen, ohne dass man das gegenbesetzen darf. Die werden den Erfolg haben, den sie brauchen, zumindest momentan.
     Der Umweltschutz hat viel erreicht, das will ich nicht leugnen. Aber die tropischen Regenwälder werden weiterhin vernichtet. Der Artenschwund in Europa ist so gewaltig, dass wir bis zum Jahr 2050 mehr als die Hälfte der Wirbeltiere vernichtet haben werden. Das ist überhaupt nicht zu stoppen, weil es zum System gehört. Und es lässt sich nicht bepredigen.
     Das Buch habe ich geschrieben, um zu zeigen, an welchen Stellschrauben dieses System von innen her scheitern muss. Alle Preise im Kapitalismus stimmen schon deshalb nicht, weil er die Kosten externalisiert. Sie müssten aber rückgerechnet werden als wirkliche Betriebskosten für die Produktion, einschließlich der sozia­len Folgen, der Naturzerstörung usw. Würden wir das tun, dann wären die Autos unbezahlbar teuer, das System selber käme ins Wanken. Das wäre das Ende des Kapitalismus und der Anfang einer Gleichgewichtsgesellschaft. Dass es dahin kommt, steht außer Zweifel.

 

Aber wann und zu welchem Preis?
Ja, wie viele Tote brauchen unsere Kriege noch? Wieviel Naturzerstörung? Schon heute gibt es in Deutschland zwischen Hochalpen und Wattenmeer keine Natur, nur renaturierte Gebiete, die vielleicht vor der Faust der Industrie bewahrt werden können. Wir müssten lernen, dass es in der Natur Zonen gibt wie Heiligtümer, Tabus, die Menschen nicht nutzen dürfen. Das sind religiöse Gedanken, die ich aufs engste mit der Botschaft Jesu verbinde. Denn diese Botschaft verkündet Schuldenbefreiung. Sie ist der Praxis des Kapitalismus diametral entgegengesetzt, die Menschen in die Schuldenspirale hineintreibt, um sie zu strangulieren. So kann ich Martin Luther gut verstehen, der die Predigt von der Gnade Gottes gleichsetzt mit dem Kampf gegen den Zinswucher – ein Beispiel unter anderen, wie Christentum sich aktualisieren könnte.

 

Erhoffen Sie das tatsächlich von der Kirche?
Nein. Seit Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert ist sie staatserhaltend. Nehmen Sie als Beispiel die Berliner Gedächtniskirche: Sie finden allen Ernstes, dass in ihr Bismarck und der deutsche Kaiser in Golgatha als Leidende dargestellt werden, wenn sie Frankreich überfallen. Aber solch ein Unfug ist möglich. Und 1935 wurde die Wehrpflicht mit dem Schwur unbedingten Gehorsams gegenüber Adolf Hitler eingeführt, ohne dass eine der beiden Konfessionen widersprochen hätte. Sie hatten kein Rückgrat – nicht dass man’s hätte zerschlagen können: Es gab keins. Diese Struktur von Kirche ist allzu alt, allzu machthörig; sie ist reich und meint, ohne Kirchensteuermittel nicht auszukommen. Auch das ist Teil des Systems und müsste auf heftigsten Widerspruch stoßen. Den zu formulieren betrachte ich als meine Aufgabe: Kapitalismuskritik auf dem Umweg der Kirchenkritik.

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© Klaus Ulrich Spiegel