Kulturwelten im Medium

Was für eine Vision: Machen wir ein Buch! Über Bücher. Also über die Welt, die Zeit, die Menschen. Und damit über Lebensweisen, Ereignisse, Gefühle, Taten, Schicksale, Wegmarken. Und damit über Kultur.

Klar: Wo Menschen sich verhalten, ist Kultur. Wo Bücher sind, erst recht. Bücher machen Kultur greifbar, im Glücksfall begreifbar. Kultur ohne Bücher — schwer vorstellbar. Bücher ohne Kultur — ein Ding der Unmöglichkeit. Entsteht ein Buch, entsteht Kultur.

Das Buch ist Basismedium. Als es noch gar keine anderen Medien gab, sorgte
es schon für Revolutionen. Galt darum selbst als revolutionär, herrschafts-bedrohend, gefährlich. Weil man mit ihm Gedanken offenbar machen — schlimmer: verbreiten konnte. Kultur also erstmals reproduzierbar, vervielfältig- bar, verteilbar wurde. Also rezipierbar, umsetzbar, (be)denkbar. Vermittlerin
von Kenntnis. Erzeugerin von Erkenntnis.


Wandel durch Verbreitung

Seit Kultur auf Trägern fixierbar ist, kommt tausendjähriger gesellschaftlicher Status ins Rutschen. Im Kopf fängt es an: Lesen schafft Wissen. Wissen bewirkt Aufklärung. Aufklärung sucht Veränderung. Veränderung hebt Unmündigkeit auf, stellt Abhängigkeit infrage, gefährdet Macht. Das Zeitalter der sozialen Umbrüche beginnt. Es mündet in die erste industrielle Revolution. Mit ihr industrialisiert sich auch die Produktion von Büchern, Schriften, Journalen.
Was wiederum die Verbreitung all dessen begünstigt, was in Köpfen entsteht.

Auch der Bauch kommt zu seinem Recht. Es meldet sich Lesebedarf nach Trost und Rat, Herz und Schmerz, Trug und Traum. Buchmärkte entstehen. Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht, kulturpessimisselt Karl Kraus, dessen grandioses Sprachwerk zunächst selbst für periodische Verbreitung steht, mithin von Vervielfältigung lebt.

Ob via Kopf oder Bauch, Ratio oder Libido — Bücher greifen ins Leben ein. Erzeugen Interessen, vermitteln Erkenntnisse, bieten Orientierungen, vertiefen Erlebnisse, schaffen Bedürfnisse. Bücher, die die Welt verändern heißt eine Taschenbuch-Anthologie. Erfahrungen, die man kaufen kann wirbt ein Buchhandels-Slogan.

Das gedruckte Wort hat den Wandel befördert. Nicht nur den sozialen und gesellschaftlichen, auch den technischen und ökonomischen. Mehr noch: Als Vermittler universellen Wissens, auch über Forschung und Entwicklung, haben Bücher ihre eigene Emanzipation und Expansion mitbeeinflußt.

Kultur per Kommunikation

Seither gibt es kein Halten mehr. Zum Lesetext die Illustration, dann das Lichtbild, dann die Farbreproduktion. Dann die akustische Tonaufnahme.
Dann die bewegten Bilder. Dann die Wort/Bild/Ton-Kombination — erst im Kino, dann am Bildschirm. Dann die elektrische, schließlich die digitale Aufzeichnung, Wiedergabe, Massenverbreitung. Buch als Display, Display als Buch. Zum Lese- das Hörbuch. Film-Funk-Fernsehen. LP, MC, CD. Video, Bildplatte, CD-ROM. Jahrhunderte bis zur Buchauflage, Jahrzehnte bis zum Media-Mix, nurmehr Jahre (wenn nicht Monate) von Innovation zu Innovation.

Das Zeitalter der computergestützten, digitalisierten Multimedia-Gesellschaft
hat begonnen. Mit Kommunikation ohne Grenzen: Individuelle Programm-gestaltung, weltweite Vernetzung, virtuelle Welten — alles längst Realität.
Alles in Hard- und Software zu haben, selbsttätig erstellbar, unbeschränkt greifbar, auswählbar, adressierbar. Der Medien-Rezipient wird zum Medien-macher. Er nimmt aktiv an Kultur teil. Und schafft Kultur.

Und zwischen der beherrschenden Fülle der Bilder, Töne, Appelle — das Buch. Nicht überholt, nicht ersetzt, nicht entbehrlich. Im Gegenteil: Je mehr Medien-revolution, um so mehr Stoff für Vor‑, Auf‑ und Nachbereitung. Und um so mehr Chancen für die Verbreitung von Inhalten. Nicht nur im Buch, auch auf Ton‑, Bild‑ und Datenträgern, auf Wellen und in Netzen. Der Film nach dem Buch,
das Buch zum Film. Die Premiere live im Funk, auf CD, auf Video, somit jederzeit im TV. Ein jedes Medium initiiert, ergänzt, nutzt das andere. Aber keines macht ein anderes überflüssig.

Kultur für jeden

Das ist ein Trost. Weil es um Kultur geht. Weil Kultur nicht alles, aber nun mal alles Kultur ist. Hier hat sie einmal eine Chance, wahr zu werden — die Utopie von  Kultur für alle (der berühmte Buchtitel von Hilmar Hoffmann), präziser gefaßt als Kultur für jeden. So betrachtet, markieren sie einen kulturellen Entwicklungsstand, die miteinander konkurrierenden, einander ergänzenden Medien. Wie ihr Basismedium Buch greifen sie ins Leben ein. Vielfältig wie
die Kultur selbst. Kulturträger im besten Fall.

Vielfalt ist da geradezu eine Untertreibung. Längst gibt es keine kulturelle Hervorbringung oder Äußerung mehr, die nicht auf Trägern vervielfältigt und verbreitet wäre. Überschreitet man die durch Zielgruppen und Regionalmärkte gesetzten Grenzen, dann bleibt wirklich nichts, was es nicht gibt. Man muß es nur finden, respektive beschaffen (lassen). Aber spätestens dann wird die Schwachstelle der wunderbaren neuen Welt der Kultur im Medium offenbar:
der Handel.

Aufrüstung im Medienhandel

Kaum glaublich, aber wahr: Bis zur Eröffnung der Kultur-Kaufhäuser, wie sich die Großformen des kulturbezogenen Einzelhandels in den späten 90er Jahren stolz zu nennen beginnen, gab es tatsächlich keinen Angebotsverbund. Keine Adresse zum Einkauf von Büchern und Schallplatten und Kunstblättern und Videos und CD-ROM und Software und und und. Es gab und gibt die Fach- handelsketten-Filialen, sogar das Modell Bücher-Supermarkt. Es gibt die Versandkataloge großer Buch- oder Tonträger- oder DV-Versender. Aber die multiple Angebotsverbindung von Medien im Zeichen der breiten Vielfalt von Kultur in einem einheitlichen Sortiment gab es bisher nicht, gibt es auch jetzt
nur in Ansätzen.

Zeit also, sie zu schaffen. Und zwar dort, wo die Vision von Kultur für jeden reine, umfassende, universelle Gestalt annimmt: Im weltweiten Netz, genannt Internet — in den Zugriffsweisen des eCommerce. Und wieder zeigt sich: Auch dort geht’s los mit Büchern. Das Basismedium — erneut avanciert es zum Fundament des Kerngeschäfts. Mit ihm starten, wachsen, reüssieren die Marktführer der Zukunft.

www – World Wide War

Die ersten Großanbieter von Kultur auf Trägern sind längst im Spiel — amazon.de, bol.de, buecher.de, libri.de. Einige sehen den Zeitpunkt der selbsttragenden Rentabilität bereits in Sicht. Der Natur der Sache nach sind sie Großinvestoren mit World-Wide-Dimensions in Reichweite, Repertoire, Zugriff, Handling. Und eben deshalb steuern sie allesamt auf die klassische Ablaufkette zu: Erst Markterfassung, dann Marktaufteilung, dann Marktkonzentration, dann Programmausweitung, dann Programmbereinigung. Was nichts anderes heißt als: Angebotskonzentration (also ‑reduzierung) auf world-wide-saleable Goods. Der Prozeß ist im Gange — lange bevor die Wegmarke Programmausweitung einen Status erreicht, der für Kulturelle Welten, also für umfassenden Angebots-verbund im Zeichen von Kultur, stehen könnte.

Das ist bedauerlich, ja traurig. Und zugleich gut, belebend, wettbewerbs-fördernd. Also Vielfalt erzeugend und damit kulturgemäß. Denn wo das Massengeschäft mit Kultur(trägern /medien) vorrangig das ohnehin Gängige, Hit- und Seller-Trächtige noch weiter verhittet und versellert — da schlägt die Stunde der Spezialisten und Individualisten. Sie sind es, die Kultur entstehen lassen — und Repertoirelücken füllen, Zielgruppen kennen, alternative Märkte entdecken, entwickeln, entfalten. Oder sogar kreieren.

Weil es sie gibt, werden Kulturwelten im Medium auch in Zukunft nicht verblassen oder gar versinken. Sondern sich dort beleben, bewegen, bestätigen, wo die Vielfalt beginnt: im Detail, am Platz, in der Individualität.

Mit Kultur Märkte machen

Als weltweiter Kommunikations- und Handels-Marktplatz wird das Internet diesen Wirkungen erst richtig Bahn brechen. Es begünstigt kulturelle Hervor-bringung und deren Verbreitung — als Solo, Dialog, Diskurs oder Chor. Und
es macht universelle kulturelle Individualität der universellen kulturellen Nachfrage zugänglich. Eine Einladung an alle; gerade dann, wenn markt-mächtige Giganten zugunsten des großen Geldes auf kulturelle Individualität pfeifen.

Klar, Buch ist Basismedium. Doch weil es um Kommunikation — Wissen in Bewegung — geht, Kommunikation hingegen die Quelle und Triebkraft von Kultur ist, sollte/dürfte es nicht bei Büchern bleiben. Wohl aber bei der Konzentration auf thematische Felder, Nischen, gewiß auch Märkte.

Kultur heißt Grenzüberschreitung — jederzeit, überall. Und Themen sind stets auch Medien. Mit ihnen und über sie interaktiv sein, das schafft Motivation, Initiation, Animation. Dieses Ganzheitsansatzes wegen werden zielgruppen- bezogene Anbieter — mit Publishing & Shop im Internet — nicht nur  Angebots- und Kaufadresse sein. Sondern auch zur Kommunikationszone werden.

Eine faszinierende Vision  - oder?                                           
                                                                                                               KUS

                        
(Beitrag für Bücherbuch — Berlin 1998 / erw. Neufassung 2001)

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© Klaus Ulrich Spiegel