Monument mit Schäden
Triumph und Tragödie:
Die Bassbariton-Legende Theodor Bertram

In der teils schwärmend erinnerten, teils kritisch abgewerteten Ära des frühen Bayreuth zwischen der Parsifal-Uraufführung 1882 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war das Fach des dann so genannten Heldenbaritons, also eigentlich eines deutschen Basso cantante, reich und stimmlich eindrucksvoll besetzt. Dafür stehen längst historisierte Namen wie Bachmann, Demuth, Weidemann, Feinhals,  Soomer, Whitehill, Braun, Weil, Plaschke, unter ihnen auch der singmeisterliche Solitär Anton van Rooy. Gesangsstilistisch werden die Tondokumente mancher großer Vertreter dieses Fachs heute wenig freundlich beurteilt – vom „Bell-Canto“ und „Bayreuth Bark“ ist in der Reihe HAfG-Acoustics notwendig oft die Rede.

Doch wegen der puren Vokalsubstanz und Schallkraft dieser Protagnisten für Holländer, Telramund, Kurwenal, Sachs, Wotan/Wanderer, Amfortas (häufig
im gleichzeitigen Wechsel mit den parallelen Basspartien) sind deren Tondoku-mente über 100 Jahre später mehr denn je von Belang – nicht nur zur kultur-historischen Information, sondern auch zum Vergleich. Dieser fällt, was die noch aus Trichtern und von Walzen tönenden Hörbelege angeht, vokal oft eindrucks-voll aus. Das gilt vor allem für den Besitzer der vielleicht voluminösesten, vibrantesten, staminantesten Bassbaritonstimme seiner Zeit, den damals als Inkarnation des Wagnersängers geltenden Theodor Bertram.


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Theodor Bertram  
* 12. Februar 1869 Stuttgart. † 24. November 1907 Bayreuth


Er war ein Sohn des Sänger-Schauspieler-Ehepaars Heinrich und Marie Bertram. Wie seinem Bruder, dem ebenfalls erfolgreichen Schauspieler Ernst Bertram, war ihm der Weg zur Bühne vorgezeichnet. Nach dem Stimmwechsel entfaltete er eine offenbar vollsaftig dröhnende Gesangsstimme, wurde schon als Jüngling bei Gelegenheiten aller Art als Sänger  nachgefragt. Sein Vater erteilte ihm Gesangs-stunden; im übrigen blieb er Autodidakt und als solcher von der klassischen Arte di canto weithin unberührt. 1889 stand er 20jährig als Eremit im Freischütz am Stadttheater Ulm erstmals auf einer Opernbühne, erhielt einen Anfänger-Vertrag, sang meist Basspartien, blieb für zwei Spielzeiten. Dann hatte sich die Kunde von seiner Begabung verbreitet. Die Hamburger Operndirektion verpflichtete ihn ans große Haus der Hansestadt. Bald darauf ging er an das Kroll‘sche Theater in Berlin, wo er, auch mit Gastauftritten an der Hofoper, zum Star aufstieg. Nach einem Wechsel ans Hoftheater München war er als Bühnensänger von inter-nationalem Ruf etabliert – für ein eminentes Repertoire, mit immer gewichtige-rem Schwerpunkt für die Heroenpartien Richard Wagners. Schon bei den Münchner Opernfestspielen 1893-99 wurden sein Hans Sachs und Wotan gefeiert.

Protagonist im Cosima-Bayreuth
So unglaublich es klingt: Gegen Ende der 1890er Jahre erschien Bertram in Partien von Graf Luna in Verdis Troubadour bis zum Stadinger in Lortzings Waffenschmied, einem schier unglaublichen Spektrum. 1900-1901 wirkte der als Mitglied des Metropolitan Opera House in New York und zugleich bei der Maurice Grau Company auf Tourneen durch Nordamerika. Aus den USA zurück, ging er auf Gastspielreisen nach Wien, Berlin, Hamburg, München, Stuttgart. Er arbeitete dann mit internationaler Reputation an großen europäi-schen Häusern: 1901-1905 am Deutschen Theater Prag, 1903-1905 am Opernhaus Zürich, 1904 an der Königlichen Oper Stockholm, jährlich am Opernhaus Frankfurt/M. und, vielleicht als Krönung, 1900-1907 am Royal Opera House London. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden auch seine Tonaufnahmen – bei diversen großen und kleinen Labels (Edison, Columbia, G&T, Odeon, Lyrophon, Parsifal, Favorit, Janus, Minerva), mit breitem Reper-toire aus Bariton- und Basspartien, zahlreiche Stücke in mehreren unterschied-lichen Aufnahme-Tracks.

Bertrams Ruhm als Wagner-Interpret war bereits groß, als er 1901 für die erste Bayreuther Produktion des Fliegenden Holländer nach Bayreuth verpflichtet wurde. Alternierend mit dem ganz anders ausgerichteten Fachkollegen Anton van Rooy sang er darin die Titelpartie – mit Emmy Destinn und den berühmten Siegfried-Darstellern Ernst Kraus und Alois Burgstaller. Es folgten bis 1906 Wotan/Wanderer, Wolfram, Amfortas. Zu seinem weltweiten Repertoire gehör-ten auch Hans Sachs, Telramund, Kurwenal, Gunther, Don Pizarro, Lysiart, Jago, Tonio, Escamillo, Mephisto, Offenbachs vier Bösewichter, diverse Mozart- und die wichtigen Spielopern-Gestalten: Baritone wie Bässe.

Tragik in Niedergang und Ende
Auf dem Gipfel seiner Karriere ereilten den Sänger Schicksalsschläge von besonderer Tragik. 1897 hatte er die Sopranistin Fanny Moran-Olden geheiratet. Diese erkrankte an einem Hirnleiden, musste in eine psychiatrische Anstalt; sie starb 1905 „in geistiger Umnachtung“. Bertram war tief getroffen, fiel in Depres-sionen und „erlag immer mehr der Trunksucht“. 1906 ging er mit der Sängerin Lotte Wetterling eine neue Ehe ein, die ihm Kraft zu verleihen schien. Doch auch diese Gattin wurde ihm genommen, sie kam im Februar 1907 bei einem Schiffs-unglück vor Hoek van Holland ums Leben.

Bertram erlitt dauerhaft schwere Zusammenbrüche. Der Alkoholmissbrauch hatte seine Stimme bereits merklich geschädigt. Als Schallplattensänger blieb er noch gefragt. Doch in Bayreuth, einem Zentrum seines Daseins, reagierte Cosima Wagner, auch aus Sorge um die mit ihm besetzten Aufführungen, hart: Bertram wurde nicht mehr engagiert. Das trieb den Verfall seiner Persönlichkeit voran. Ohne Lebensmut, verschuldet, verzweifelt erhängte er sich im November 1907 im Bayreuther Bahnhofshotel – „mit Blick auf den Festspielhügel, den Platz seiner größten Triumphe“. Er war noch nicht 40 Jahre alt. In Holland wurde er
an der Seite von Lotte Wetterling beigesetzt. Die Trauer um ihn war groß; sie drückte sich auch literarisch aus. In der ungarisch-europäischen Zeitung Pester Lloyd wurden „Th. Bertrams letzte Briefe“ veröffentlicht.


Ästhetik der Epoche. Spuren der Zeit.
Theodor Bertram zählt zu den exemplarischen „heroischen“ Baritonen der Jahrhundertwende, und dies in besonderer Ausprägung, vor allem als Besitzer einer enorm tragfähigen, schallkräftigen, live im Raum offenbar umwerfend-machtvollen Bassbariton-Stimme mit außergewöhnlichem Umfang (vom tiefen Basso-C bis zum Bariton-Gis‘‘) und schier unerschöpflicher Expansionskraft. Das Timbre ist nicht eigentlich farbenreich, hat aber markanten Kern und mitunter leuchtenden Höhenstahl – bemerkenswert auch deshalb, weil der Sänger nach „deutscher Schule“ im oberen Register die Töne (mehr als dem Wohlklang zuträglich) deckt und damit oft regelrecht abschattet. Dann gehen belebendes Vibrato und schwingendes Portamento weitgehend verloren. Die Resonanz-räume des Rachen-Nasal-Stirn-Bereichs werden hingegen voll genutzt; darum sind dröhnende Fülle und beinahe röhrende Wucht bestimmende Klangele-mente. Das singtechnische Problem: Bertram zieht die Bruststimme durchwegs hinauf bis in die Höhenrandbereiche – von Passagio und Mischklang kann kaum die Rede sein. Alles wirkt von Krafteinsatz mit Glottisschlägen in substanz-zehrender Kraftleistung erzwungen. Wahrlich: Kein Legatomeister. Ein Charaktersänger – Rampenakteur und Bühnentier.

Die Zeitgenossen sahen in Bertram unangefochten den bedeutendsten Helden-bariton seiner Generation – trotz der fast übergroßen Konkurrenz von Kollegen (s. oben). „Neben der fulminanten Kraftentfaltung seiner Stimme galt die Bewun-derung dem dramatischen Darsteller Bertram, der, offenbar mit magnetischer Bühnenpräsenz begabt, sich … regelrecht medial mit der darzustellenden Bühnengestalt identifizierte und sie mit rückhaltloser Expressivität  zum Leben erweckte. Unverkennbar die Parallele zu den Verismo-Sängern in Italien. Gerade jene exaltierte Ausdruckswut begeisterte das damalige Publikum, das sich gern schockieren ließ – so von exaltierter Darstellung in Musikdramen und Werken wie Tosca, Salome oder Bajazzo.“

Der Nachwelt bleiben die Dokumente, Bild und Ton. „Leider machen uns beide Medien den Zugang nicht leicht, irritieren uns und können sogar unfreiwillig komisch wirken. Das hat einen Grund zunächst in den Medien selbst, die uns mit perspektivischen Minderungen, rudimentärer Klangqualität, schwankenden Drehzahlen bei der Aufnahme und primitiver Klavier- oder Orchesterbegleitung befremden. Auch die musikalische Sorglosigkeit beim Erstellen der frühen Aufnahmen ist oft ärgerlich. Bertram passte sich all dem recht gleichgültig an. Sicher ist, dass er das bei Bühnenauftritten unter namhaften Dirigenten nicht tat!“ Vielleicht haben auch wir heutige Hörer einen Anteil am offenkundigen Mangel an Hörgenuss: Wir gehen mit heutiger Ästhetik und heutigen Hörge-wohnheiten an Bertrams und seiner Zeitgenossen oft martialische Singmanier heran.

„Bertrams Stimme und Tongebung erscheinen uns heute als grob, schwerfällig und unausgeglichen. Der Aufnahmetrichter hat die Unebenheiten der unver-kennbar großen Raumstimme so vergrößert, wie er die Klangpracht reduziert hat. Auch entsprach Bertram der damals verbreiteten Maxime, dass eine dramatische Stimme immer mit möglichst großem, sattem Ton erklingen muss, um dem heiligen Ernst und der Bedeutung der Werke zu entsprechen. Seine schauspielerhafte, ausdruckssatte, oft grell zugespitzte Deklamation erscheint uns fremd – damalige Hörer waren davon überwältigt! Und in der Tat: Hat je ein späterer Holländer den zentralen Schlüsselsatz ‚Fahr hin mein Heil in Ewigkeit!‘ derart plastisch und zwingend auf einem Tonträger verewigt? Hier spürt man die Qualitäten des Bühnensängers. Bertram und die meisten seiner Zeitgenossen sangen im kleinen Studio nicht anders als auf der großen Bühne. So wird der begrenzte Rahmen der Schallplatte mit groß-pathetischen Expressivität über-laden. (Man vergleiche etwa die Tosca-Ausschnitte der Emma Carelli)“.


Sodann „ist der Niedergang Bertrams zwischen den ersten Aufnahmen von
1902 und den letzten von 1907 unüberhörbar. In den Tracks von 1906/1907 gibt es groteske Qualitätsschwankungen“ – weniger in der stimmlichen als in der sängerischen Darbietung. Schon zum Ende der 1910er Dekade änderte sich der Publikumsgeschmack. Bertrams zahlreiche Aufnahmen – bald auch technisch überholt – wurden nicht mehr aufgelegt und sind heutzutage Raritäten. „Und dennoch: In den besten Aufnahmen tritt uns eine schier überwältigende Riesenstimme und ein glühend intensiver Darsteller entgegen, der trotz allen technischen Minderungen und stilistischen Fremdheiten beeindruckt“. Als Dokumente einer längst vergangenen Musiktheaterästhetik sind sie unver-zichtbares Studienmaterial.

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© Klaus Ulrich Spiegel