„Der Sang erwarb
euch Meisterpreis!“
Der entdeckenswerte Bassbariton Werner Engel
Seit sich im 19. Jahrhundert aus der ursprünglichen Fächer-Zweiteilung Tenor & Bass die Mittelstimme Bariton
herausgebildet hatte, entfaltete sich dieser neue Stimmtypus in enormer Dynamik: nach oben bis zum G‘‘ und Gis‘‘/A‘‘, nach unten zum G und F des sog. „hohen“ Basso. In den Bariton-Partien des
italienischen und französischen Repertoires wurden geborene Bass-Stimmen nun stimmlichen Anforderungen = Schwierigkeiten ausgesetzt, die manches wertvolle Organ zugrunde richten konnten und deshalb
umfassende Basisschulung, dazu fortgesetztes professionelles Training erforderten.
Zum Beispiel bei Verdi: Sein Rigoletto steigert sich im 3. Finale aufs A‘‘, sein Jago im 1. Otello-Akt gar auf
dreimal As‘‘. Die zeitgenössischen, noch vom Belcanto geprägten Interpreten vor Battistini, Ancona, de Luca & Colleghi hatten, ausweislich früher Tondokumente, dennoch eher füllige,
bassdunkel timbrierte Stimmen, aber mit singtechnisch erzeugten exponierten Tessituren und Spitzentönen - man denke an Maurel oder Giraldoni, dann Ruffo oder Viglione-Borghese.
In den deutschsprachigen Interpreten finden sich solche Stimmcharaktere als Standards wieder. Nahezu alle überlieferten
Baritonstimmen deutscher Provenienz sind als eigentlich hochgetriebene Bassi cantanti identifizierbar. In ihnen gab sich deren deutsche Variante - der Charakter- und Heldenbariton, eigentlich
Bassbariton - zu erkennen. Dessen Dominanz über alle Fachgrenzen hinweg währte zumindest bis Ende der Acoustic Recording Era. Bis dahin und im Folgenden emanzipierten sich auch heute als typisch
geltende hellere Baritonstimmen wie Ziegler, Hüsch, Domgraf-Faßbaender, Schellenberg, Schmitt-Walter. Sonderrollen spielten die klassisch geschulten Heinrich Schlusnus und Rudolf
Bockelmann.
Baritonsang auf deutsche Art
Abgesehen von einer Handvoll zentraler Fachvertreter der Kaiserzeit auf deutschen Staatsbühnen und deutschen Tonträgern -
mit dem prachtvoll vokalisierenden und phrasierenden lettisch-deutschen „Italobariton“ Joseph Schwarz (1880-1924) an der Spitze - sind nahezu alle dokumentierten Baritone dieser Zeit
Repräsentanten der sog. „deutschen Schule“: oft beeinflusst durch den sog. Bayreuther Stil (ironisch „Bayreuth Bark“), mit fülligem Ton, massiger Tonbildung, herbdunklem oder borkig-knorrigem
Klanggepräge, schwarz-braun-grauen, nicht primär farbenreichen Timbres, häufig weitem Vibrato, aber großer Schallkraft. Sie sind nach heutigen Vergleichsmustern mit dem Begriff Bassbariton
zu kennzeichnen und auch bei Orientierung an klassischen Gesangsstilen eher diktions- als legato-bestimmt.
Das Repertoire dieser Sänger schloss meist beide Fachbereiche ein - Bariton und Bass. Sie trugen wenig bei zum Glamour
durch puren Stimmappeal, zur Faszination durch sinnlich-farbig schimmernden oder gleißend-strahlenden Soundeffekt. Ihre Wirkung und Wertigkeit kam in der Regel von mimischer Charakterisierung,
gestalteter Dramatik, Vermittlung aus wissender Singdarstellung. Orthodox auf klassische Gesangskunst eingeschworene Kritiker rechnen die Mehrheit von ihnen kaum zum Parnass großen
Singens als Kunst. Dennoch waren sie vielfach bedeutende Sängerdarsteller, so etwa: Hermann Bachmann, Theodor Bertram, Baptist Hoffmann, Walter Soomer, Friedrich Weidemann, Leopold Demuth, Karl
Armster, Josef Correk, Emil Schipper, Friedrich Schorr, Theodor Scheidl, Alfred Jerger … bis zu Hans Hermann Nissen, Mathieu Ahlersmeier, Robert Burg, Paul Schöffler.
Das Glück später Funde
Die meisten hier Genannten und einige mehr sind auf Tonträgern höchst vielseitig,
meist genre-, fach-, stil-übergreifend hörbar. Einige sind es mit ganzen Titelkatalogen aus mehreren Wirkungsjahrzehnten. Andere sind nur aus ein bis zwei kleineren Aufnahmesitzungen bezeugt.
Angesichts der damals schier unüberblickbaren Zahl greifbarer Erstrangsänger kann das nicht verwundern. Doch ungeachtet der enormen Auswahl (oder gerade ihretwegen) bleibt Sammlerinteresse vital und
Erkenntnisgewinn sicher, wenn sich versunken geglaubte Namen und Tonspuren wiederfinden. Das gilt exemplarisch für den Sänger, dem diese CD gewidmet ist: den Charakter- und
Heldenbariton Werner Engel, vergleichbar auch seinem Zeitkollegen Karl Tannert, in ihrer Zeit beide typische Repräsentanten für das sängerische Niveau im deutschen
Opernbetrieb.
WERNER ENGEL - Bassbariton
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(* 1884 Berlin - ? Todesdatum nach 1937)
Er erhielt eine Basisausbildung als Bühnensänger am Eichelbergschen Konservatorium in Berlin. Schon dabei muss er
gewichtigen Eindruck gemacht haben: Sein finales Studium betreuten ab 1904 zwei Sängerstars der Kaiserzeit: die legendäre jugendlich-dramatische Sopranistin Mathilde Mallinger (Eva in der
Münchner Uraufführung von Wagners Meistersingern) und der Golden Age-Bariton Paul Bulß (Johannes in der Berliner Uraufführung von Kienzls Evangelimann). Mit solchen
Referenzen im Berufsgepäck war dem Eleven ein Debüt in der Reichshauptstadt vorgegeben: es fand 1906 am Theater des Westens statt. In der Folgesaison kam er ans Opernhaus Lübeck, weiter nach Poznán
(Posen) und Mulhouse (Mühlhausen/Elsass). 1910 hatte er es zum Hauptpartiensänger am Opernhaus Zürich gebracht. 1913 gelang ihm der Sprung an die „ersten Häuser“: bis 1915 am Deutschen Opernhaus
Berlin, bis 1916 an die Hofoper Dresden, bis 1918 zugleich am damals erstrangigen Opernhaus Dessau.
Engels Ruf festigte sich im ganzen deutschen Sprachraum. Schon in den Sommern 1911/1912 wirkte er als Amfortas im
Parsifal bei den Bayreuther Festspielen mit. 1919 wurde er Ensemblemitglied der nunmehrigen Wiener Staatsoper (55 Abende in 16 Partien), war ab 1921 auch an den Berliner Häusern Deutsche
Oper und Volksoper. Nach 1925 war er nur noch als Gastsänger tätig - so am Covent Garden London, an den hauptstädtischen Opernhäusern von Stockholm, Kopenhagen, Amsterdam, Budapest und an den
deutschen National- und Staatstheatern. Bereits 1913 hatte er sein London-Debüt mit der Titelpartie im Oberst Chabert von Hermann Waltershausen. 1922 wurde er im „Bayreuth des Nordens“, der
Waldoper Zoppot, als Wanderer im Ring des Nibelungen gefeiert.
Profil in reichbesetzter Szenerie
Typisch für eine führende Position als deutscher Baritonist, s. oben: Engels Rollenspektrum war nicht riesig,
aber vielseitig: mit Mozarts Almaviva, Giovanni, Sprecher; Beethovens Don Pizarro; Webers Lysiart; Lortzings Kühleborn; Wagners Holländer, Wolfram, Telramund, Kurwenal, Hans Sachs, Wotan, Amfortas;
Verdis Luna, Filippo, Amonasro; Thomas‘ Lothario; Bizets Escamillo; Offenbachs Bösewichtern; Mascagnis Alfio; Leoncavallos Tonio; Weingartners Genzò.
Engel hatte auch als Operetten-Bonvivant Erfolg: Am 3.2.1937 belebte er im Berliner Admiralspalast die Uraufführung von
Rudolf Kattniggs Kaiserin Katharina. Als Konzert- und Oratoriensolist war er weithin angesehen und beliebt. Er trat sogar in Filmen auf, so u.a. 1930 neben Gustaf Gründgens in dem
UfA-Streifen Brand in der Oper. Er sang bis durch die 1930er Jahre. Dann brechen alle Informationen ab - medial ist er letztmalig Ende 1937 in Berlin erwähnt.
Timbre, Technik, Stil: meisterlich
Verglichen mit dieser Karriere voller Events und Erfolge, großer Häuser und zahlreicher Radiopräsenzen ist die
Diskographie des Werner Engel schmal. Immerhin enthält sie gute Beispiele für einen Eindruck von Stimm-Material, Timbre, Gesangsstil.
Wir hören eine voluminöse, dunkle, schallkräftige Bassbariton-Stimme, die diese Bezeichnung rechtfertigt - mit
ausgeglichenen Registern, bester Platzierung und Nutzung aller, nicht nur der vorderen Resonanzräume, nach klassischen Regeln gebildet auf fester Stütze und vollem, doch sanft dosiertem Atemstrom.
Das ebenholzfarbene, lyrisch determinierte Klangbild weist klar auf Herkunft aus den Bassregistern. Die Expansion zum Fis‘‘+G‘‘ vollzieht sich aber ohne Anstrengung oder
Forcierung.
Auf allen Ebenen bewahrt der Sänger integrierten, in alto sanft gedeckten Klang - und vermag doch leichte Inflektionen
hin zum lyrischen Bariton anzubringen. Auch in baritonaler Hochlage - wie im fehllos phrasierten Bariton-Lied an den Abendstern: Man ist erinnert an Bassi seriosi wie Richard Mayr, Rudolf
Moest, Paul Bender, Ludwig Weber. Ein Hörerlebnis besonderer Qualität, wie man es heute kaum mehr kennt. Auf spezifisch-eigene Weise bestätigt sich auch an Engel wieder die zur Formel gewordene
Sentenz: Sänge er heute, wäre er Weltstar.
KUS
Zur Ergänzung ein Bonus
KARL TANNERT - Bariton - Ein
Engel-Zeitkollege
In der beachtlichen Reihe deutscher Baritone der Kaiserzeit bis zu den 1930er Jahren hatte auch dieser Sänger eine beispielhafte Laufbahn
als Repräsentant der „ersten Reihe“ an deutschen Opernhäusern. Er hatte vor allem in den nordöstlichen Teilen des deutschen Reichs, namentlich in Sachsen, Reputation und regionale Popularität. Dem
trug die damalige Tondoku-Branche mit einer überschaubaren Folge akustischer Aufnahmen Rechnung: Grammophon, 4 Schellacks = 8 Titel, r. 1918-1921 in Berlin. Das reichte nicht für
ein Erinnerungs-Überleben im Archivbestand vokaler Tonaufnahmen, bleibt aber verfügbar als Beitrag zu Betrachtung und Wertung sängerischer Standards im deutschen Sprachraum zur
Hoftheaterzeit.
Leider ging mit der Wiederentdeckung der Hinterlassenschaften Tannerts und
anderer Zeitgenossen vorerst keinerlei archivarische Sicherung von Daten zu Persönlichkeiten, Wegen und Stationen einher. Tannert & Fellows sind in keiner Chronik, keinem Kompendium verzeichnet.
Ein Netzeintrag zum Opernchef Fritz Busch weist aufzählend darauf hin, dass Carl Tannert für einige Spielzeiten in den frühen 1920er Jahre Gastsänger an der Dresdner Staatsoper war, im Übrigen den
Hauptteil seiner Karriere als festes Ensemblemitglied am Leipziger Opernhaus basierte.
Schön- und Gebrauchssänger
Man darf unterstellen, dass er oft an führenden deutschen Musikbühnen, inkl. Berlin, gastierte. Er sang
repertoire-typische Partien für lyrischen Kavalier- bis Charakterbariton. Sein jugendlich klingender Bariton war im Kern ein 1-2 Töne höher gelagert als Werner Engels voluminöses Organ. Die wenigen
Plattentracks scheinen sein zentrales Rollenfach zu umreißen: Lirici wie Wagners Wolfram und Heerrufer, Verdis Germont, René und Ford, Puccinis Marcel, Leoncavallos Silvio, Deutsche Spieloper von
Kreutzer und Lortzing, klassische Operette und Liedgesang von Schubert bis Abt.
Tannerts lyrisch, dabei rund, warm, obertonreich klingendes, tabak-beige gefärbtes Organ von mittlerem Volumen und
begrenztem Umfang kann auch heutige Hörer erfreuen. Vor allem die den Klangstrom dominierende Mezzavoce offeriert guten Stimmsitz und große Flexibilität. Seine Dynamik ist begrenzt, geht nicht über
schön integrierte Akzentsetzungen hinaus, muss aber auf Schmetter- und Strahlwirkungen verzichten. Die Höhenlage ist lehrbuchhaft register-gemischt und maßvoll gedeckt, die Tiefe nicht „bassig“, eher
flach, doch ohne Drücker produziert. Ein Schönsänger, vermutlich auch prädestinierter Liedgestalter. Er wusste, wie man singt, um Schwächen des Materials auszugleichen. Stilistisch gehört er ins
Umfeld von Engel & Compagni, wenngleich doch eine Rangstufe darunter.
KUS