„ ... denen’s dann noch will gelingen,
ein schönes Lied zu singen,
seht: Meister nennt man die!“
Professionalität und
Seriosität
Der klassische Heldenbariton Hermann Weil
Eine Bestandsaufnahme wichtiger Vertreter der Kategorie „deutscher Heldenbariton“ in der Frühphase der Tonaufzeichnung
ist markiert durch die in Bayreuth vorherrschende stilistischen und interpretativen Standards. Ihre zentralen Repräsentanten, allesamt „hohe Bässe“ (Bassi cantanti), zeichneten sich aus durch
besondere Klangfülle, pathetische Attitüde, primär textbezogene Autorität: so Carl Perron, Hermann Bachmann, Theodor Bertram, Walter Soomer, Carl Braun. Wie ein Vorgriff auf künftige Trends ragt in
diesem Kreis als einziger Vertreter der klassischen Schule des Kunstgesangs der von Julius Stockhausen ausgebildete, darum zuerst auf Konzert- und Liedgesang orientiert gewesene Anton van Rooy
heraus. Ein anderer bedeutender Zeitgenosse dieser Klasse, Baptist Hoffmann, kam nach Differenzen zur Rollenwahl nie auf die Bayreuther Festspielbühne.
Dennoch setzte gegen Ende des ersten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert gerade im Bereich der tiefen Männerstimmen – seriöser
Bass und Helden- bzw. Bassbariton – ein langsamer Wandel der sängerischen Stilprägungen ein. Man kann von einer Renaissance klassischer Methodiken und natürlicher Formen sprechen. Es fielen auch die
zuvor starren Abgrenzungen zwischen „deutscher Art“ und mediterraner Manier. Die nahezu kodifizierte Überbetonung von Declamato und konsonantenreichem „Ausdruck“ wich einer Rückbesinnung auf ein
legatobestimmtes Singen als Kunstereignis. Träger und Vermittler dieser Kunst waren in Bayreuth zuerst Clarence Whitehill, Friedrich Schorr, Josef Correck, Theodor Scheidl, dann dominant Rudolf
Bockelmann.
Das vielleicht ausschlaggebende Engagement eines für Bayreuth „neuen“, also nicht mehr den Cosima/Kniese-Doktrinen
verhafteten Sängertyps nach einem Vierteljahrhundert der Schwergewichtler stellte ab 1911 der Bariton HERMANN WEIL dar – kein Lirico oder Nobile und kein „gezogener“ Basso, sondern ein Universalist
mit breiter Verankerung in allen Fachbereichen seiner Stimmlage, von Rossini und der Opéra français, über Verdi zu Puccini und den Veristen und natürlich im deutschen Repertoire von Mozart, Weber,
Lortzing bis d’Albert, doch vor allem im Musikdrama, mit Wagners heroischen Bassbariton-Gestalten im Zentrum.
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Hermann Weil
* 29.5.1876 Mühlburg (Karlsruhe) / † 6.7.1949 Blue Mountain Lake (New York)
Er stammte aus bürgerlicher, kulturverbundener Familie, geprägt vom säkularisierten deutschen Judentum. Klassische
Bildung war sein geistiges Ambiente seit Kindesbeinen. Er studierte Philologie und Pädagogik, strebte zum Beruf eines Volksschullehrers. Aus Leidenschaft für alle Formen der Tonkunst erweiterte er
sein Studium auf Musikwissenschaft, Musiktheorie und Klavierspiel. Am Konservatorium seiner Heimatstadt belegte er Kurse für Orchesterleitung bei dem legendären Wagner-Interpreten Felix Mottl,
dominanter Dirigent in Bayreuth, führend am Covent Garden London, Musikdirektor der Hofoper München.
Ganzheitliche Musikerpersönlichkeit
Der hochmusikalische Studiosus hatte bald auch seine Gesangsstimme entdeckt und zeigte sich fasziniert vom Bühnenmetier.
Der namhafte Stimmbildner Adolf Dippel in Frankfurt/M. (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Met-Tenor Andreas D.) führte ihn zur Konzert- und Bühnenreife. Sein erstes Engagement hatte Weil mit
Beginn der Spielzeit 1900/01 am Hoftheater Karlsruhe – als Korrepetitor. Wenige Monate später debütierte er als Sänger am Stadttheater Freiburg als Wolfram im Tannhäuser – ein lyrischer
Bariton mit dramatischen Optionen also. Er hatte sogleich Erfolge, kam zu Gastspielen an führenden Musiktheatern. 1904 wurde er Ensemblemitglied der Stuttgarter Hofoper. Diesem Haus blieb er fast 30
Jahre lang als erster Bariton verbunden, sang das ganze Baritonrepertoire, gleich welcher Tessitura, von Verdi-Partien (in fallweise extremen Lagen inkl. Rigolettos hohem Vendetta-A‘),
Belcanto, Spieloper, Verismo, Musikdrama mit Sachs und Wotan, dazu auch Bass-Partien des deutschen und italofranzösischen Repertoires.
In Stuttgart wirkte Weil in wichtigen Erstaufführungen und Hauspremieren mit. So in Richard Strauss‘ Salome (als
Jochanaan) und Elektra (als Orest), ferner als Dietrich in Hans Pfitzners Der arme Heinrich. 1909 war er der Pantalone in der Uraufführung von Walter Braunfels‘ Prinzessin
Brambilla. In Amsterdam gab er 1909 den Sebastiano in d’Alberts Tiefland und 1911 den Kurwenal in Wagners Tristan und Isolde. Ab 1913 war er an der Mailänder Scala, am Royal
Opera House London, in Madrid, Brüssel und Berlin. 1911 folgte er Einladungen in die USA. An der Metropolitan Opera NYC sang er während sechs Seasons in 115 Vorstellungen 16 Partien, zumeist in
Wagner-Opern, doch auch die Titelrolle in Monteverdis Orfeo, Oreste in Glucks Iphigénie en Tauride und Faninal in der US-Premiere des Rosenkavalier. 1912 bis 1914 trat er
auch am Boston Opera House auf.
Gefangen im Sängerparadies
Als die USA 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten, wurden zahlreiche deutsche Künstler interniert, Hermann Weil bis
Jahresbeginn 1919. Gleich nach seiner Freilassung sang er in einer Opernstagione der German Opera Company am Lexington Theatre in New York deutsche Bühnenpartien. Doch zu einer
Wiederverpflichtung an die Met kam es nicht mehr. Weil reiste heim, wurde als Rückkehrer an der nunmehrigen Württembergischen Staatsoper jubelnd begrüßt.
Von Stuttgart aus gastierte Weil wieder an europäischen Häusern. 1920 bis 1923 war er ständiger Gast an der Wiener
Staatsoper: als Wagners Holländer, Wolfram, Telramund, Kurwenal, Hans Sachs, Wotan, Wanderer, Gunther; als Mozarts Conte Almaviva; als Beethovens Don Pizarro; als Meyerbeers Comte Nevers; als
Lortzings Zar Peter; als Verdis Conte di Luna; als Puccinis Marcello; als d’Alberts Sebastiano; als Mascagnis Alfio und Leoncavallos Tonio; schließlich als Richard Strauss‘ Kunrad und Jochanaan. Was
für eine Präsenz in nur drei Spielzeiten! Doch auch in Übersee setzte sich Weils Laufbahn fort: 1923/24 war er erneut Star der German Opera Company auf einer Tournee durch
Nordamerika
Neue Perspektiven für Bayreuth
Hermann Weils Ausstrahlung muss bezwingend gewesen sein. Dafür spricht schon sein frühes Engagement bei den Bayreuther
Festspielen, die inzwischen vom Wagner-Sohn Siegfried geleitet wurden. Dieser tat einen behutsamen Schritt zu Erweiterung der Interpretations-Varianten, auch im Musikalischen. 1911 war in der
Neuproduktion der Meistersinger von Nürnberg die zentrale Partie des Hans Sachs in doppeltem Sinn alternativ besetzt: mit Walter Soomer (dem Nachfolger Theodor Bertrams als Wotan), einem
Basso drammatico und Repräsentanten der Cosima/Kniese-Schule, der zuvor auch Hunding und Hagen gesungen hatte – und Hermann Weil, dem Spinto-Bariton, dessen Rollenspektrum bis zu den Lirici und
Spielbaritonen des Standardrepertoires reichte. Weil wurde nicht nur akzeptiert, sondern sogleich gefeiert. Er trat in diesem und den folgenden Festspielsommern auch als Gunther und Amfortas
auf.
Bei der Wiedereröffnung der Festspiele 1924 war Hermann Weil, nahezu selbstverständlich, von Siegfried Wagner wieder als
Sachs besetzt, im Folgejahr 1925 erneut. Doch diesmal war die Resonanz nicht einhellig. Fritz Busch, der Großmeister am Pult der Meistersinger, berichtet von nationalistischen und
antisemitischen Grundstimmungen, die er einen „vergifteten Brutkessel des Chauvinismus“ nannte. Jüdische Künstler, selbst zu Cosimas Zeiten unbehelligt, ja verehrt (man denke an Hermann Levi, den
Dirigenten der Parsifal-Uraufführung), sahen sich feindseligen Affekten ausgesetzt. Das traf erst den bedeutenden Friedrich Schorr, als Baritono eroico ein Jahrhundertsänger, dessen
Wotan/Wanderer 1925 in Bayreuth förmlich durchgesetzt werden musste.
Hermann Weil – als deutscher Kulturbürger mit jüdischem Familienhintergrund eine stimmlich, sängerisch, musikalisch und
interpretativ besonders überzeugende Besetzung für Hans Sachs – wurde gerade in dieser Partie, „der reinsten Verkörperung deutschnationalen Geistes“ (J. Goebbels) zum Ziel rassistischer
Stimmungsmache seitens völkisch verbissener Kreise, die aber nicht wenig zur Finanzierung des Festivals beitrugen. Der sanfte Festspielleiter zeigte sich dem kaum gewachsen.
Hermann Weil folgte dem entschiedenen Beispiel des großen Dirigenten und kam nicht nach Bayreuth zurück. Er setzte seine
Karriere fort, mit dem Stuttgarter Stammhaus als Basis. Nach der Machtübergabe an Hitler und seine braunen Horden 1933 verlor er seine Engagements in Deutschland, konzentrierte sich auf
europäische Bühnen, gab aber dem Druck der eskalierenden Bedrohungen nach und emigrierte in die USA, ließ sich wieder in New York nieder. Sein Name war noch so angesehen, dass er sich rasch als
Gesangspädagoge etablierte. Er konnte in gesicherten Verhältnissen leben, mit Schülern und Freunden der deutschen Kultur verbunden. Der Tod ereilte den 73jährigen Künstler völlig überraschend: Bei
einem Angel-Ausflug zum Lake Blue Mountain traf ihn ein Herzschlag. Er ist in seiner alten Heimat kaum mehr als eine Saga, in seinem Altersumfeld hingegen bis heute als Repräsentant verloren
gegangener Standards des Wagnergesangs unvergessen.
Signatur der Meisterschaft
Das hat seinen Grund – und zahlreiche Tondokumente, alle aus der Acoustic Era, machen ihn nachvollziehbar. Hermann Weils
Eigenschaften als Vokalist sind mit denen der größten Wagnerinterpreten der ersten Jahrhunderthälfte zu vergleichen, in einigen Aspekten gleichzusetzen.
Zunächst sein stimmliches Material: eine mittelgroße, warme, markant strukturierte, männlich tönende Baritonstimme der
dunklen, breitströmenden Art, von weitem Tonumfang, überdies expansiv, vom hohen A‘ bis zum nicht sehr schallkräftigen, aber ohne Druck klanggefüllten Tiefenregister des Basso.
Das Timbre hat nicht den wärmenden, mitunter leicht erotischen Glamour der einzigartig farbigen Stimme Rudolf
Bockelmanns. Es mutet ein wenig „braver“ = „normaler“ an, hat aber annähernd gleiche Maserung, gegen Bockelmanns Mahagoni-Tönung ein Nussbraun von einheitlicher Monochromie. Das dürfte über das
natürliche Klanggepräge hinaus mit gebändigter Schattierungskunst auch atemtechnisch erzeugt sein.
Meisterlich der Einsatz klassischer, dem Belcanto naher Dynamisierungsmittel: Der Atem wird so ruhig und diszipliniert
geführt, dass sich ein ausgewogener Tonstrom ohne Flackern oder gar Wabern entfaltet und auch bei rhetorischer Artikulation Bestand hat, anders gesagt: Hermann Weil lässt selbst bei kurzen Noten oder
abrupten, affektiven Tonverstärkungen ein Legato von großer Ausgewogenheit hören, wie es unter den Kollegen seiner Ära kaum andere als Schorr und eben Bockelmann zustande
bringen.
Schließlich ist der Sänger Weil ein Meister der Klangbildung. Er vermag Farbvaleurs und Schattierungen in so feinen
Nuancen zu setzen, andererseits den präzise attackierten Ton auf allen Stufen so rapide mit Klang zu füllen, dass die Farb- und Dynamik-Skala einer großen, Heroenstimme evoziert, gleichsam aus feinem
Stoff erzeugt scheint – eine beachtliche Kunst von einer im Grundformat eher lyrischen Stimme. Man erlebt, was gemeint ist, wenn dem Wagner-Sänger Weil das Prädikat eines Belcanto-Baritons im
Wagnerfach (Einhard Luther) zugesprochen wird.
Hermann Weil: Ein wichtiger, für heutigen dramatischen (und vor allem Wagner-)Gesang vorbildhafter Sänger von Seriosität
und Kunstbewusstsein – weniger den Effekten von Virtuosität und Glanz verpflichtet als meisterlicher Beherrschung sängerischer Mittel, ausgewogener Klangbildung, hoher Musikalität und wahrhaftiger
Vermittlungskunst. Er gehört in eine Reihe mit den Erstrang-Heldenbaritonen seiner Zeit, also mit Bohnen, Schipper, Latterman, Schorr, Nissen, Bockelmann und (dem jüngeren) Hotter. Kann man größeren
Lobpreis ausbringen?
KUS
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Hermann Weils Recordings Legacy beginnt bei Grammophon Berlin 1908 mit Ausschnitten aus meist italienischen Opern in
nicht eben brillanter, ein wenig dumpfer Tonqualität. Es folgen klanglich etwas klarer reproduzierte Titel vom gleichen Label aus 1911 und von Odeon 1910/11, darin auch erste Wagner-Aufnahmen.
Besonders interessant ein ganzer Tannhäuser-Akt mit Fritz Vogelstrom in der Titelpartie unter Leitung von Eduard Künneke, Dresden 1911. Weitere Aufnahmen datieren von ca. 1912 (Pathé,
Berlin) und 1912/1914 (deutsche Folklore bei Columbia NYC). 1921 wurden weitere 10 Titel bei VOX nachgetragen. Zwei Lieder, 1943 privat mitgeschnitten, fanden sich zeitweise auf dem Label Nola. Der
Sänger ist also im Acoustics Portfolio recht gut dokumentiert. Doch das aufgenommene Repertoire ist mehrheitlich das gängig-übliche, mit Tonio und Escamillo, einigen schwäbischen Kleinigkeiten,
leider viel zu wenig Wagner. Aber das Spektrum ist breit und variant. Man kann sich ein Hörbild machen – und dieses ist durchwegs von hohem stimmlichem und sängerischem Niveau.