Urgestein der Oper
Von der Soubrette zur Charakterheroine:
Die unglaubliche Anny Schlemm

 

„Ihre Begabungen waren grenzüberschreitend und vereinten scheinbar Unvereinbares: Sie war Operettendiva und Tragödin, war lyrischer Sopran und vitale Erzkomödiantin. ... Ein Vollblut-Theaterpferd“                                                                                                                                   Ekkehard Pluta

Der Sänger-Typus, den der angesehene Theaterwissenschaftler und Musikkritiker hier benennt, tritt in der Tat nicht häufig auf, wird darum durchwegs als Ereignis gewertet. In der Generation, die den Drei-Jahrzehnte-Zeitabschnitt des Musik- und Opernlebens nach dem zweiten Weltkrieg prägte, kam er aber mehrmals vor: in zeitgleicher Entwicklung und Wirkung von – vor und neben Anny Schlemm – mindestens vier bedeutenden Heroinen der Musikbühne und deren Nachfolgerinnen, die bei aller Individualität von Charakter und Stil ein gemeinsames Profil einprägten.

Das waren die im Prinzip als „dramatische Soprane“ sortierbaren Christel Goltz (berühmt als eine Art großformatiger Charaktersopran zwischen Fidelio-Leonore und Wozzeck-Marie), Inge Borkh (die führende hochdramatische Strauss-Primadonna ihrer Zeit), Astrid Varnay (die zwischen sensationellem Bühnendebüt als „bronzetönende Jugendliche“ an der Met über glanzvolle Jahre als Brünnhilde in Wielands Bayreuth bis zur vielseitigen Comprimaria in München dem Begriff „hochdramatisch“ spezifische Ausformung gab) und schließlich Martha Mödl (der moderne deutsche Mezzo-Beitrag zum Theateraufbruch der 1940er, dann als Isolde, Brünnhilde, Kundry eine dominante Wagner-Heroine und die Verkörperung des Begriffs „Sängerdarstellerin“ schlechthin).

Diesen ruhmvollen Sängerinnen war neben großem Stimm-Material für überwältigende musikalische Vermittlung gemeinsam: Sie waren vor allem Sängerschauspielerinnen, Tragödinnen und Komödiantinnen, nicht nur Trägerinnen dramatischer und hochdramatischer Gesangspartien, sondern vor allem suggestive Darstellerinnen unterschiedlichster Gestalten und Charaktere des Musiktheaters. Als ihre stimmlichen Mittel sich wandelten, hatten sie genügend Ressourcen und Motive, von den extremen Sopranhöhen zu Fachfeldern für dramatischen Mezzo und Alt zu wechseln, von strahlendem Klanggepräge zu vielfarbig changierenden Ausdrucksformen, Klanggesten, Valeurs, von leidend Liebenden zu starken oder gebrochenen Persönlichkeiten, Charakteren, Individualitäten.

Göttinnen und Actricen

So gab Goltz prägnante Portraits reiferer Frauen, weiterhin vor allem von Strauss und aus der Moderne, wechselnd von Arabella zu Adelaide, Madeleine zu Clairon, Jenufa zu Kostelnicka. Borkh schritt etwa von Salome zu Katerina Ismailova und schuf sich spät noch ein ganz neues Aktionsfeld als Diseuse und Chansonette, auch als Rezitatorin und Komödiantin der Sprechbühne. Varnay und Mödl vollzogen komplette Fachwechsel (eigentlich eher Fach-Erweiterungen) – nun als dramatische Mezzosopranistinnen mit verblüffenden Vorstößen auch in Alt-Regionen, mit Waltraute, 1. Norn, Eboli, Ulrica, Quickly, Dido, Pique Dame, Klytämnestra, Herodias, Amme, Geschwitz, Kabanicha, Jokasta, Claire Zachanassian, später in einer Fülle von Klein- und Randpartien, von Marthe über Schenkwirtin bis Mama Lucia, schließlich gar in Operetten und Musicals. Sie bereicherten so das Genre Musiktheater, stets mit charakteristischer Farbe und suggestiver Persönlichkeit. Drei Sängerinnen der Folgegeneration gingen im Karriere-Herbst ähnliche Wege, nicht gleich umfassend, aber den Vorbildern folgend: Leonie Rysanek, Helga Dernesch, Anja Silja. Der Typus Sängerdarstellerin im umfassenden Sinn ist damit festgelegt, Begriffe wie Vollblut, Bühnentier, Schlachtross haben sich dafür nahezu eingebürgert.

Eigenprofil zwischen den Fächern

Dieser bei allem Gewicht eher kleinen Schar von „Saurierinnen der Musikbühne“ muss jene Sängerin zugerechnet werden, deren eindrucksvolle und lange Laufbahn unübersehbare Parallelen aufweist und dennoch von eigenständigem anderem Kaliber war, mehr noch: einen ganz anderen Weg ging – die 1929 geborene Anny Schlemm. Wenn irgendeine, dann muss sie als eine nicht nur starke, markante, variante, sondern auch als die fast alleinständig Überraschende und Verblüffende, ja fallweise Unglaubliche unter den dramatischen Fachspringerinnen und Bühnentieren gewertet werden. Ihr Stimmtypus, ihre Genre- und Fachwahl wie auch ihr Karriereverlauf weisen weitgehend andere, ganz eigene, um so frappantere Charakteristika auf. Die machen sie zu einer einzigartigen Erscheinung wenn nicht in der Gesangshistorie, dann doch in der neueren Geschichte des Musiktheaters.

Bemerkenswert: Ihre Vorgängerinnen waren von Haus aus und lebenslang dramatische Sängerinnen. Anders Anny Schlemm. Weder ihre Stimmsubstanz noch ihr Timbre noch ihre Gesangsweise erlauben eine präzise Zuordnung zu einem Stimmfach. In nahezu sechs Jahrzehnten einer so vielfältigen wie spannenden Künstlerlaufbahn hat sie ganz außergewöhnliche, ja rahmensprengende Wandlungen vollzogen. Pluta benennt sie: „von der Soubrette über den Jugendlich-lyrischen zum Lirico-Spinto-Sopran, schließlich zum Mezzosopran und Charakter-Alt“.

Das trifft – und kann doch nur äußerliche Einordnungen andeuten. Denn von alleinständigen Metamorphosen ihrer Singdynamik, Phrasierungs- und Artikulationskunst abgesehen: Der natürliche Stimmklang und die Stimmcharakteristik der Schlemm waren von Anbeginn ihrer dokumentierten Laufbahn ganz unverwechselbar und sogleich identifizierbar – von einer Eigenständigkeit, die eigentlich Einschränkung hätte herstellen können, aber Variabilität und Vielfalt, ja nahezu Grenzenlosigkeit ermöglicht zu haben scheint.


“Voce isolata“

Bereits in den ersten Aufnahmen vom Beginn der 1950er Jahre prägt sich Anny Schlemms noch leichter, flexibel formbarer Ton als charakteristisch ein. Wir hören eine präzise im vorderen Resonanzraum platzierte, sehr schlank geführte, von auffällig spannungsvoller Atemstütze getragene, im Timbre sanft golden schimmernde, jugendfrisch-attraktive Leggiero-Stimme, farblich etwa zwischen Erna Berger und Trude Eipperle angesiedelt, ein wenig auch an die junge Schwarzkopf erinnernd. Auffällig ist bereits ein ausgeprägtes, extrem schnelles Vibrato – in hochkonzentrierter Schwingung, direkt aus dem nasalen Resonanzbereich kommend.

Dieser spezifische Schlemm-Klang, mit markantem Portamento bei konzentrierter Führung und enormer Atemspannung erzeugt, hat nicht nur Freunde gefunden. Immer mal wieder hört man von angeblichem „Knödel“ in dieser Stimme reden. Doch das trifft es gar nicht – der Klang ist in seiner spannungsvoll-schwingenden Hochkonzentration und hellen Frische allenfalls von der Anmutung eines leichten „Gurrens“ geprägt. Das mag man mögen oder auch nicht, für die spätere Expansion der stimmlichen Mittel hin zu größerem Ton und breiter Phrasierung ist diese Form der Tonproduktion vermutlich ursächlich. Wenn man sich erst in dieses Klangbild eingehört hat, gewinnt es lebendigen Reiz, Faszination der Unverwechselbarkeit, mitunter nahezu erotische Attraktivität.

Die beschriebenen Eigenschaften suggerieren akustisch auch eine Ausstrahlung von Sicherheit des Auftritts und Selbstbewusstsein des Agierens. Das wird gut hörbar in den verzierten Passagen der Arietten des Pagen Oscar in Verdis Maskenball, eingespielt 1951. Nimmt man diese Hörproben und dazu Mozarts Cherubino vom gleichen Jahr, hat man gutes Ausgangsmaterial zur Beobachtung der weiteren Stimmentwicklung, zur Lyrischen und zur Jugendlisch-Dramatischen – zu Susanna, Marzelline, Jungfer Anna, Undine, Rusalka, Marenka, Micaëla, dann zu Agathe, Dorabella, Antonia, dann zu Contessa, Elvira, Tosca, Arabella.

Vokale Biographien

Dass sich eine zunächst kleine, feine, leichte Stimme bei richtig dosierter Anwendung und genügend Zeit für Wachstum ökonomisch entwickeln lässt, zur Expansion von Umfang, Volumen und Schallkraft – das hat sich in der Gesangshistorie häufig vollzogen und lässt sich an größten Beispielen nachweisen, am spektakulärsten wohl an der letzten echten deutschen Assoluta: Lilli Lehmann (1848-1929), die vom 1. Knaben in der Zauberflöte zur Brünnhilde wuchs, den Uraufführungs-Waldvogel im Siegfried und Jahre später eine Weltrang-Isolde sang.

Wir kennen bedeutende Mozart- und Strauss-Primadonnen, die in Spielpartien begannen und kontinuierlich zu Protagonistinnen im jugendlich-dramatischen Fach wuchsen, von Reining, Seefried, Schwarzkopf, Grümmer, Jurinac, sogar Güden und Lipp bis jüngst etwa Lucia Popp. Rollenwechsel während einer Lebenskarriere in ein und demselben Werk sind keine Seltenheit, zum Beispiel im Rosenkavalier von der Sophie zum Octavian zur Marschallin zur Leitmetzerin oder in Nozze di Figaro von Barbarina zu Susanna zur Contessa und dann sogar zur Marcellina (so der Partienbogen von Anny Schlemm).


Kurz: Eine Stimme entwickelt sich – in Kraft, Färbung, Tessitura; immer vorausgesetzt, dass sie nicht verheizt, sondern pfleglich behandelt, schulgerecht eingesetzt und geführt wird. Genau solche Entwicklungsphasen kann man am Tonmaterial studieren, das Anny Schlemm hinterlassen konnte. Aus dem Soprano Lirico der 1950er wurde in den 1960ern eine Jugendlich-dramatische, danach eine fachübergreifend dramatische Charaktersopranistin, schließlich ein Mezzo, der sich darstellungsfreudig, mitunter überbordend-ausgelassen auch auf Altpartien mit hohem singrhetorischem Gestus werfen konnte. Das weist die universale Singdarstellerin Anny Schlemm als zur Gruppe der „Bühnentiere“ gehörig aus. Sie kam nicht vom hochdramatischen Gesang, sondern begann als Leggiero (Soubrette) und wuchs durch alle Frauengesangsfächer. Sie war zugleich eine so vitale wie wissende Interpretin ohne Grenzen und als solche ein Exklusiv-Phänomen. Dazu ein Exkurs.

Der Typus Charaktersopran

„Charaktersopran“ – das ist eine weitgehend ungeklärte Kategorie, mehr ein Hilfsbegriff. Er wird dann angewendet, wenn definierte Fachgrenzen überschritten werden und keine adäquate Zuordnung möglich erscheint. Er weist vor allem darauf hin, dass es sich um eine Sängerpersönlichkeit mit überdurchschnittlichen, oft rahmensprengenden singdarstellerischen Fähigkeiten und dazu passender Stimmausrüstung handelt. Solche Sängerinnen sind nicht notwendig fiorituren- und koloraturensichere Virtuosinnen, auch nicht vorrangig Trägerinnen besonders schallkräftigen oder vibranten Materials oder Erzeugerinnen strömender Klangfluten. Ihr Künstlertum liegt in darstellerischen, gestalterischen, suggestiven Mitteln und Singpraktiken. Sie können über eine Vielfalt von Farben, über besondere Intensität der Gefühls- und Inhaltsvermittlung, über spezifische Timbrereize oder Ausdrucksressourcen verfügen. Entscheidend ist: Sie sind nicht so sehr dem klassischen Klangideal – also dem Vorrang für vokale Schönheit – verpflichtet, sondern vorrangig der sängerischen Interpretation.

Damit ist nicht jene (seit dem Siegeszug des „Verismo“ notorische) sängerische Praxis gemeint, die stimmliche Defizite mit Hilfe eines Arsenals außermusikalischer Mittel, im Extremfall mit Intensitätshuberei und antigesanglicher Rhetorik zu kaschieren sucht. Vielmehr ist die Beherrschung sängerischer Grammatik eine zentrale Voraussetzung für den hier gemeinten „Charaktergesang“. In sängerischer Vollkommenheit (oder Annäherung an sie) Gestalten und Konstellationen zu evozieren – das ist das Wesen von Charaktersopranen.

Um einen Rahmen anzugeben: Vertreterinnen dieser Gattung waren im deutschen Sprachraum (unter vielen anderen) Margarete Teschemacher, Maria Cebotari, Liselotte Enck, Hilde Zadek, Ilona Steingruber, Helene Werth, Maud Cunitz, Aga Joesten, Elfride Trötschel, dann Anja Silja, Evelyn Lear, Hildegard Behrens, heute etwa Angela Denoke. Man sieht: Es geht nicht um Einordnungen vokalen Rüstzeugs wie lyrisch oder dramatisch, buffonesk oder heroisch, sondern um musikdramaturgische Wirkungsfähigkeiten. In diesem Sinne lässt sich ein wesentlicher Teil wie auch Zeitabschnitt in der Lebensleistung der Anny Schlemm mit „Charaktersopran“ qualifizieren.


Stoff für Grenzüberschreitungen

Doch das gilt beileibe nicht für alles und jedes, was sie geleistet hat. Ein Blick auf das Programm- und Aufgabenspektrum ihres langen Künstlerlebens verbietet strikte Abgrenzungen. Als 17jährige Elevin hatte sie ihr frühes Bühnendebüt – und sprang sogleich in eine Laufbahn der Grenzüberschreitungen: Dorabella und Cherubino, Zerlina und Saffi, Manon und Arabella, Rosalinde und Agathe, Baronin Freimann und Melisande, Jenufa und Rosalinde, die zentralen Partien von Mozart, Weber, Donizetti, die Spieloper, den lyrischen Verdi, den ganzen Puccini, die Spätromantiker, Franzosen, Russen, Osteuropäer, eine Fülle von Aufgaben und profilierten Gestalten der Moderne – ein Spektrum ohne Grenzen. Darin stets auch ein dominanter Anteil „Leichte Muse“ – und nach einer Langzeitleistung, die anderen Sopranen für den Ruhestand ausreicht, noch eine Karriere in Dutzenden von Charakterpartien aller Genres, Stile und Repertoirebereiche, Konzertauftritte und Liedprogramme nicht gerechnet: Fast sechs Jahrzehnte aktive Bühnenpräsenz, ein Rekord, den ihr in drei Sängergenerationen kaum jemand streitig machen dürfte.

Principessa der Operette

In Anbetracht solcher Fülle kommt uns ein weiteres Feld von Anny Schlemms Künstlerschaft fast unglaublich vor – doch füllt es einen wesentlichen Teil ihres Nachruhms, und das auf Dauer: Sie war die große Operettendiva der 1950er Jahre, in nachwirkender Dominanz nur von der so erfolgreichen Anneliese Rothenberger gestreift. Im Gegensatz zu dieser und einer Handvoll anderer spezialisierter Diven wie Rethy, Barabas, Talmar, Schramm verkörpert die Schlemm aber nicht den schwärmerisch-schmachtenden Damentyp; sie ist stets die selbstbewusste, emanzipierte, zwischen schelmisch und trotzig, gelegentlich auch kämpferisch changierende Actrice.  

Die Voraussetzungen für diese Parallelkarriere entstanden während Anny Schlemms Engagements am Opernhaus Köln 1951-53 (dem weitere Jahre häufiger Gastpräsenz folgten) und aus der Begegnung mit dem repertoirekundigen, ubiquitär und en suite Operette einspielenden Chefdirigenten des Kölner Rundfunkorchesters Franz Marszalek (1900-1975), der für seinen Sender ein nahezu unendliches Archiv an Operettenmusik wachsen ließ – mit populären Tenören dieser Jahre wie Peter Anders, Rudolf Schock, Karl Friedrich, Heinz Hoppe, Horst Wilhelm und vor allem Franz Fehringer. Die tönende Hinterlassenschaft dieser ein volles Jahrzehnt umfassenden Arbeit wirkt sich noch Jahrzehnte später im Funk und auf Tonträgern aus; sie füllt nahezu zwei Boxen dieser CD-Edition.

Nicht nur als Radio-Universaldiva, auch auf der Bühne hat Anny Schlemm die Operette als Fressen für sängerisches und komödiantisches Wirken genutzt – und dabei unvergessliche Ereignisse mitbestimmt. So als Rosalinde (schon 1949 beim RIAS), dann als Orlofsky in der Fledermaus. Oder als Offenbachs Julia, Großherzogin von Gerolstein, Millöckers Palmatica im Bettelstudent und Gräfin Carlotta im Gasparone, später als Öffentliche Meinung in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Dazu in Musicals wie My Fair Lady, Hello Dolly, Feuerwerk.
 

Am berühmtesten ist wohl Felsensteins legendäre Produktion von Jacques Offenbachs Ritter Blaubart (Barbe bleue) in der Komischen Oper Berlin, ein Langzeit-Hit, 1963-99 an die 370mal aufgeführt und als TV-Film wie als Tonspur aufgezeichnet (HAfG 30119). Eine der Attraktionen im Blaubart-Ensemble: Das Heroenpaar der Berliner Komischen Oper (u.a. Titelheld und Desdemona in Verdis Othello): Hanns Nocker und Anny Schlemm als Blaubart und Boulotte. Wie die längst im jugendlich-dramatischen Fach bewährte Schlemm 1963 den Soubrettenpart des den gewissenlosen Brutalo mattsetzenden Bauernmädchens Hörgestalt werden lässt, ist exemplarisch für die Definition eines Charaktersoprans. Man höre, wie sie „ ... konkurrieren / geht’s ums Küssen und Poussieren“ mit minimalen Klang-Umfärbungen derart aufzuladen weiß, dass eine Anmutung erotischer Doppelbödigkeit, ja Gefährlichkeit spürbar wird – mit rein sängerischen Mitteln, wohlgemerkt.

Finale Triumphe

Solche Akzentsetzungen finden sich überall in den Tondokumenten der Anny Schlemm, gleich welchem Genre und Stil zugehörig, von der kokett Naiven über die tragisch Liebende bis zur eifernd Rasenden. Der Berliner Rezensent Daniel Nayber trifft es: „Sie war, um via Puccini zu vergleichen, vom Typ her immer mehr Minnie als Mimi“. Freilich hat sie beide Partien dargestellt und Manon und Cho-Cho-San, diese 1960 in einer DG-Gesamtaufnahme unter Ferdinand Leitner mit Sándor Kónya und dem Ensemble der Stuttgarter Staatsoper, ein Glücksfall deutschsprachiger Puccini-Interpretation, heute eine Such-Rarität. Die Minnie, live aus der Frankfurter Oper 1958, sichert eine der allerbesten Schlemm-Interpretationen im veristischen Repertoire, wieder ein Lehrstück zum Typus Charaktersopran.

Eine auch nur annähernde Darstellung der Sängerpersönlichkeit Anny Schlemm und ihres künstlerischen Weges muss schließlich das alleinständige, in seinen Dimensionen nahezu triumphale Karriere-Finale betrachten. Als die vielseitige Sopranistin nochmals das Fach wechselte und nach der Marschallin im Rosenkavalier nun Mezzo-, dann sogar Alt-Partien übernahm, brillierte sie mit der Titelpartie in Carmen, dann europaweit mit Klytämnestra in Elektra, Küsterin und alten Buryja in Jenufa, Gräfin in Pique Dame, Ulrica im Maskenball und Quickly im Falstaff, Mutter in Fortners Bluthochzeit, Leokadja in Weills Mahagonny, Mumie in Reimanns Gespenstersonate, schließlich sogar einer suggestiven Erda in Wagners Ring – mit souveräner Fondo-Tessitura, sonorem Timbre und suggestiver Dämonie. Nicht jedes dieser Portraits ist als Mitschnitt dokumentiert, doch einige aufregende Beispiele werden in unserer Sammlung zugänglich.

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Diese CD-Edition ist die bisher wohl größte Zusammenstellung von Einspielungen und Mitschnitten der Ausnahmekünstlerin und universalen Sängerdarstellerin Anny Schlemm. Sie stellt viele den Zeitgenossen wohlbekannte, für heutige Gesangsinteressenten aber kaum mehr greifbare Aufnahmen zusammen mit lange vergessenen oder weitgehend unbekannten, auch mit bisher nie gehörten unveröffentlichten Tondokumenten vor. Natürlich existieren weitere Archivstücke, etwa solche aus Werkaufnahmen, die aber als ganze schon veröffentlicht und leicht zugänglich sind. Wer sich mit einem Stück Opernlegende aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Phänomen sängerdarstellerischer Totalität und dem Genre „Interpretativer Gesang als Kunst“ auseinandersetzen möchte, findet hier ein weites Feld für Hörstudien – faszinierend und erhellend.

                                                                      


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Anny Schlemm – Inbegriff des Musiktheaters

Anny Schlemms Weg und Wirken sind in Portraits der Fachmagazine, in Musiklexika und auf Websites im Netz vielfältig nachschlagbar. Hier sollen ein paar Hinweise ausreichen: 1929 kam sie im südhessischen Neu-Isenburg (der Heimatstadt des großen Tenors Franz Völker) als Tochter eines Choristen der Frankfurter Oper zur Welt. Der Vater wechselte 1941 ans Opernhaus Halle (Saale), wo Anny ihre entscheidenden kulturellen Eindrücke empfing. In Halle erhielt sie auch ihre erste Gesangsausbildung. Am dortigen Jugendtheater debütierte sie 1946 als Bastien (ja, in der Tenorpartie)  in Mozarts Singspiel, dann am Stadttheater als Nanette im Wildschütz, kam als Soubrette-Elevin ins Ensemble.

Zwei Jahre darauf engagierten zwei bedeutende Intendanten die junge Sopranistin nach Berlin: Ernst Legal an die Staatsoper, Walter Felsenstein an die Komische Oper. Sie nahm an Uraufführungen wie Arthur Kusterers Was ihr wollt (nach Shakespeare) und Walter Schartners Und Pippa tanzt (nach Gerhart Hauptmann) teil. Seit 1951 gehörte die Schlemm außerdem zum Ensemble der Kölner Oper. 1953 ging sie eine feste Bindung ans Opernhaus Frankfurt/M. ein, das damals unter der Leitung des später weltberühmten Georg Solti stand.

Dem Frankfurter Haus blieb Anny Schlemm für mehr als 40 Jahre treu – ungeachtet ständiger Gastspiele, Konzerte, Rundfunk- und Plattenproduktionen und Auftritte in der Welt, so in München, Stuttgart, Hannover, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Dresden, Wien, Amsterdam, Genf, Paris, London, Stockholm, Moskau, Toronto, San Francisco, bei den Festivals von Schwetzingen, Edinburgh und Glyndebourne, seit 1978 bei den Bayreuther Festspielen. In den 1950ern war sie zudem die wohl meistbeschäftigte Diva in Aufnahmen eines universalen Operettenrepertoires – einige ihrer Einspielungen gelten als Sternstunden der Operettenkunst.

Anny Schlemms Repertoire schien grenzenlos. Es reichte von Monteverdi bis John Cage. Ihr aktives Wirken umgriff nahezu alle Fächer für konzertanten und dramatischen Gesang der Frauenstimme. Sie hatte als Spielsopran und Leggiera begonnen, eroberte die Lirico-Partien der deutschen, italienischen, französischen und slawischen Oper, dann die Jugendlich-Dramatischen zwischen Verdi und Puccini, schließlich zahlreiche Charaktergestalten in einem Repertoire ohne Grenzen, von Zerlina und Cherubino über Agathe und Desdemona bis Tosca, Cho-Cho-San und Minnie.


Nach 30 Jahren erweiterte sie ihr ohnehin gewaltiges Repertoire um Mezzo- und sogar Alt-Partien, von „Wurzen“ wie Mary oder Madelon bis zu Zentralgestalten wie Carmen, Ulrica, Quickly, Klytämnestra, Komponist, Küsterin, Pique Dame, Erda. Man kann von einer dritten oder vierten Karriere sprechen – mit internationaler Resonanz, vielfacher Würdigung in Feuilletons und Fachpresse, dann neuerlichen Schallplattenproduktionen, so in Wagners Holländer, Giordanos Andrea Chénier, Weills Mahagonny und besonders spektakulär als Knusperhexe in Sir Georg Soltis Produktion von Humperdincks Hänsel und Gretel.

Anny Schlemm ist Ehrenmitglied der Komischen Oper Berlin wie auch der Opernhäuser Frankfurt und Halle, überdies Ehrenbürgerin ihrer Geburtsstadt Neu-Isenburg. Insgesamt verkörperte sie 135 Partien. Erst 2003, nach fast 60 Jahren Karriere ohne Brüche, zog sie sich von der Bühne zurück, in den Dimensionen ihres Bühnenwirkens noch über Opernlegenden wie Mödl, Varnay, Rysanek hinausreichend. Im Jahr 2000 wurde sie mit dem Joana-Maria-Gorvin-Preis für Bühnendarstellung ausgezeichnet. Ein Förderpreis für Sänger trägt ihren Namen.

                                                                                                         
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