Basso cantante

supremo americano
 

Giorgio Tozzi – Träger der Tradition
und Stage Allrounder

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang wurden die Maßstäbe hochklassiger Opern-Interpretation und meisterlichen Gesangs auf dem amerikanischen Kontinent von New York aus gesetzt. Zunächst von den konkurrierenden Instituten Manhattan Opera Company (1906-1927) und Metropolitan Opera Ass. (1883 bis heute). Zahlreiche weitere Standorte des US-Opernschaffens leiten ihre Geschichte aus dem 19. Jahrhundert her, wurden aber erst im Laufe des 20. zu etablierten Aufführungsstätten mit regelmäßigen Stagioni und prominenten Compagnien. So die Boston Civic Opera (seit 1888 und 1909), San Francisco War Memorial (seit 1923), Chicago Civic (seit 1929), Los Angeles Civic Light (seit 1938), Washington National (seit 1919, dann 1956) oder die New Orleans Opera (nach mehreren Vorläufern seit 1859 und 1919 fest ab 1943).

Die Mehrzahl solcher bedeutender Opernzentren offerierte nicht kontinuierlichen, saisonalen Spielbetrieb, sondern meist Tournee-Stations oder Stätten für Ad-hoc-Produktionen und Gastspiele. Das hatten sie mit ruhmreichen Instituten in Mittel- und Südamerika gemeinsam – man denke an das weltberühmte Teatro Colón Buenos Aires, die Stagioni im Palacio de Bellas Artes von Mexico City, die Temporade in Rio, Montevideo, Santiago oder die sagenverklärte Opernexotik des Teatro Amazonas von Manaos im brasilianischen Dschungel.

The Golden Age in Übersee

Am Beginn der glanzvollen Geschichte des führend gebliebenen Weltopernzentrums „The Met“ in New York City stand die Grand-Opéra (mit Melba, Calvé, den DeReszkes, Salignac, Saléza, Lasalle, Campanari, Plançon), dann die Opera Italiana (mit Sembrich, Eames, Scalchi, Mantelli, Cremonini, de Marchi, Maurel, Kaschmann, Ancona, Arimondi bis zu Caruso und Ponselle), im Wechsel damit Golden Ages of Wagner (mit Lehmann, Nordica, Fremstad, Gadski, Schumann-Heink, Niemann, Dippel, van Dyck, Reichmann, van Rooy, Fischer). Der großen Namen ist kein Ende. Allein die Wagner-Aufführungen an der Met der Jahrhundertwende überragten an Klasse, Rang und Qualität deutlich die Interpretationen in Bayreuth und an deutschen Staatstheatern.

Wer die „Roster“ der Seasons an den großen Häusern in USA und Südamerika (aber auch in London oder St. Petersburg) durchsieht, macht die nicht überraschende Feststellung: Nahezu alle Gesangssolisten waren für Traumgagen engagierte Weltstars, meist europäischer Herkunft. Nur selten findet man frühe Träger/innen angloamerikanischer Kultur. Und wo doch, stammten sie mehrheitlich aus britischen oder australischen Breiten und waren von Pädagogen ausgebildet, die europäische Traditionen und Schulen vermittelten. Zunächst dominierten Soprane – so Nellie Melba, Emma Eames, Lillian Nordica, Suzanne Adams, Ellen Beach-Yaw, Olive Fremstad, Frances Alda, Geraldine Farrar.

Ergänzt man solche Eindrücke durch Stücke, Aufführungen und Abendbesetzungen, stellt man fest: Zwar wurden die großen Sängerstars der ersten Jahrhunderthälfte repertoire-überschreitend Gesangsfächern, nicht Genres, zugeordnet eingesetzt, doch dominierten wiederum nicht-amerikanische Künstler mit durchwegs europäischem Hintergrund.

Auf dem Parnass

Das zeigt sich ausgeprägt an der Entwicklung der Besetzungen von Bass-Partien. Zunächst schien es überhaupt nur zwei Herkunfts- und damit Stil-Repräsentanzen zu geben: Einerseits die Vertreter der französischen „Alten Schule“, also des klassischen Belcanto-Ideals – so Edouard De Reszke, Jules Vinché, Eugène Dufriche, Pol Plançon bis zu Marcel Journet. Dann die „Bassi seriosi“ aus dem deutschen Sprachraum, prädestiniert für Mozart, Wagner, Weber, deutsche Spieloper – so Adolf Robinson, Emil Fischer, Georg Sieglitz, Johannes Elmblad, Adolph Mühlmann, Victor Klöpfer, Robert Blass.

Noch bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hinein wurden dominante Italo-Basspartien wie Don Basilio, Sparafucile, Ramfis, Colline, Mefistofele von Franzosen wie Plançon und Journet gesungen. Die Italiener – und damit der in Bariton-Höhen vorstoßende, auf hoher Tessitura phrasierende „Basso cantante“ – kamen erst in den 1900er Jahren ins Spiel, mit Vittorio Arimondi, Arcangelo Rossi, Giovanni Paroli, Raffaele Barocchi, Giulio Rossi, Pompilio Malatesta, Andres de Segurola und schließlich José Mardones. Ihm, dem Besitzer einer großdimensionierten, ebenholzfarbigen, vor Kraft und Sinnenreiz fast überquellenden Schwarzbass-Stimme, die dennoch bis übers Fis’ expandieren konnte, folgte seit 1926 der legendäre Jahrhundertbass Ezio Pinza, für drei Jahrzehnte die führende Bass-Stimme italienischer Provenienz, Muster der Fachkategorie „Basso cantante“, berühmtester Don Giovanni seiner Ära und bis zum Durchbruch seines wohl einzigen ranggleichen Nachfolgers Cesare Siepi in den 1950ern die überragende Bassistengestalt im italienischen Fach schlechthin.

Bemerkenswert: Die meisten seit der Jahrhundertwende an der Met präsenten Italo-Bassisten waren für die „zweiten“ Bassrollen und die Comprimarii, auch die Bassbuffo-Gestalten, aufgeboten. In zentralen, werkbestimmenden Basspartien des italienischen Repertoires traten entweder die großen Franzosen, nach De Reszke und Plançon zuletzt Marcel Journet, dann der russische Jahrhundertbass Fjodor Schaljapin und der mit Grandeur vokalisierende Pole Adam Didur auf. Bis ins dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, also bis zu Mardones und Pinza, neben Caruso, Destinn, Alda, Farrar, Muzio, Ponselle, waren sie und Mardones die „italienischen“ Erstfach-Bassisten in New York.

Verspätete Auftritte

Wo blieben in solch illustrem Konkurrenzfeld die Amerikaner? – Es ist nicht so, dass die USA und die Met außer von europäischer Tradition geprägten Sängerinnen kontinentaler Herkunft im ersten Jahrhundertdrittel nur importierte Sängerelite zu bieten gehabt hätten. Dafür zeugen die Tenöre Orville Harrold, Riccardo Martin, Charles Hackett, Mario Chamlee, Paul Althouse oder die Baritone Clarence Whitehill, Reinald Werrenrath, Arthur Middleton, Lawrence Tibbett. Die Bassisten Leon Rains und Allen Hinkley waren über Erfolge an deutschen Opernhäusern und in Bayreuth an die Met gelangt, wo sie vorrangig deutsches Repertoire mit Wagner im Zentrum sangen.

Doch eine Ära bedeutender amerikanischer Bassisten, die in der Weltspitze mitgewirkt hätten, gab es nicht. Sie nimmt erst in den 1930/40er Jahren eher unauffällig ihren Anfang – zunächst mit Comprimario- und Zweitfach-Sängern wie Douglas Beatty, John Gurney, Lansing Hatfield, Lorenzo Alvary und vor allem Norman Cordon, die sich nur teil- und anlassweise zu größeren Partien vorarbeiten konnten, doch im Schatten der Fachberühmtheiten aus Europa blieben. Und die hießen Pinza, Rothier, Lazzari, Pasero, Baccaloni, List, Moscona, Kipnis.

Die Zeit der US-Bassisten von Weltklasse begann mit der Met-Season 1946/47. Da debütierte als „Officer“ im englisch gesungenen Boris Godunov neben Pinza, Moscona und Baccaloni jener Sänger, der wenig später als „The Great American Bas“ Hauptpartien-Träger eines universalen Repertoires werden und internationalen Ruhm auf Weltbühnen wie auf Schallplatten erwerben sollte: Jerome Hines, neben und nach Kipnis und Ernster, dann Siepi und Rossi-Lemeni bald Basso dominante des weltberühmten Hauses, ab 1956 als Gurnemanz, Marke und Wotan in Bayreuth auch in Deutschland ein Begriff.

Es vergingen weitere neun bzw. 12 Jahre, bis endlich zwei „geborene“ amerikanische Vertreter des eigentlichen italienischen Bassfachs für das Repertoire vom Belcanto bis zur Spätromantik und Moderne, mit Verdi im Zentrum,  auf die New Yorker, bald auch die internationale Opernbühne traten. Nicht zufällig waren sie Abkömmlinge amerikanischer Einwanderer und trugen (ihrer Fachkarriere sicher nicht hinderlich) italienische Zivil- wie Sängernamen: Giorgio Tozzi und Ezio Flagello.

Flagello (1931-2009) kam aus Florida, war der Jüngere, entsprach nach Habitus, Auftritt, Stimmcharakter eher dem Typus „schwerer Spielbass“, also Charakterbass und Bassbuffo. Er hatte großen Stimmumfang und Expansionskraft „in alto“, aber insgesamt eine eher finstere Ausstrahlung und eine schwärzere Stimmfarbe. Insofern schien er für sinistre, brütende, bedrohliche, mitunter auch komische, jedenfalls scharf konturierte Operngestalten prädestiniert. Er hatte als Basso comico mit dem Dulcamara in L’Elisir d’amore beim Ellenville Festival debütiert, kam zwei Jahre darauf an die Met und blieb ihr von 1957 bis 1981 fest verbunden. Sein Partienspektrum steigerte er vom Sagristano in Tosca bis zum Filippo II im Don Carlo und sogar zum Pogner in den Meistersingern. Er gastierte auch an großen europäischen Häusern und hinterließ einige markante Rollenportraits auf Tonträgern.

Giorgio Tozzi (1923-2011), der Ältere, hatte eine längere Laufbahn, bot ein breiteres und varianteres Repertoire, reüssierte in mehr Genres der Musikbühne – und bleibt wohl auch der in der Gesangshistorie bekanntere, dominantere Basso americano, neben Hines lange der wichtigste Repräsentant dieser bislang kleinen Gruppe unter den Weltrang-Bassisten.

Gesangsfach der Extreme

Tozzi war ein fürs italienische Fach prädestinierter, prototypischer Basso cantante. So bezeichnet man jene Spielart der Bass-Stimme, deren Tessitura um einen bis zwei Töne höher liegt als die des Basso profondo oder „Seriösen Basses“. Ihr Umfang reicht in der Regel vom tiefen D/E im Bass-Schlüssel zum Fis’ des Baritons. In deutsch geprägten Fachbeschreibungen wird diese Stimmlage meist mit dem sog. Heldenbariton, also dem dramatischen Bassbariton (für Holländer, Telramund, Sachs, Wotan, Pizarro, Lysiart, Igor, Boris, Jochanaan, Sebastiano, Borromeo) gleichgesetzt, wodurch sich die bei Wagner verwendete Bezeichnung „Hoher Bass“ erklärt.

Nun waren in der Aufführungspraxis des lange vorherrschend gewesenen Ensembletheaters solch feine Differenzierungen eher bedeutungslos: Ein Bassist sang und singt alles, unabhängig von Stil- und Repertoirefragen. Und beim weithin erstarrten Weltrepertoire bilden die Wunsch- und Traumpartien eines Karrierebassisten wiederum ohne Spezialisierung eine publikumsbekannte Kerngruppe. Mit deren zentralen Partien kamen die als groß gehandelten Starbassisten auch auf die Festspielbühnen und Tonträger: Sarastro, Osmin, Falstaff, Kaspar/Eremit, Rocco, Basilio, Alidoro, Conte Rodolfo, Oroveso, Sir Giorgio, Enrico VIII, Raimondo, Daland, Landgraf, König Heinrich, Marke, Pogner, Fasolt/Fafner, Hunding, Hagen, Gurnemanz, Zaccaria, Silva, Banco, Conte Walter, Sparafucile, Ferrando, Filippo II, Fiesco, Guardiano, Ramfis, Alvise, Sussanin, Pimen/Valaam, Chovanskij/Dosifej, Galitzkij/Kontchak, Kezal, Madruscht, Archibaldo, Ochs, Morosus, dazu die Buffogestalten Cimarosas, Paisiellos, Rossinis, Donizettis, Aubers, Lortzings und der klassischen Operette. Ein Repertoire voller Varianten und Kontraste, stilistisch, sängerisch, darstellerisch – doch es wird weltweit von eng verwandten wie von weit divergierenden Bass-Stimmen und -Farben und -Charakteren dargestellt.

Und dennoch: Der Basso cantante verkörpert einen eigenen, eigentlich extremen Stimm- und Sängertyp. In der sängerdarstellerischen Praxis ist nicht die enorme Spannweite des Stimmeinsatzes in baritonalen Regionen vorrangig – sondern das Gebot  souveräner Tonproduktion und entspannter, atmender, schwingend-pulsierender Legato-Phrasierung mit bruchfreiem Passaggio auch in baritonalen Höhen. Auch die sichere Attacke auf Spitzentöne über dem eigentlichen Basso-System bildet nicht den höchsten Schwierigkeitsgrad und hat bei richtiger Tonplatzierung auch kaum stimmschädigende Wirkung. Doch die permanente Anspannung der Klangproduktion auf durchgängig hochliegenden Tonstufen birgt Gefahren für Material und Organismus. Nicht jeder Basso kann deshalb den Anforderungen dieser Fachvariante genügen. Der echte, sonor und klangprächtig bis unters tiefe C lotende Profondo sollte deshalb solche Regionen, etwa beim frühen Verdi, lieber meiden.

Italo-Sound & Continental Manner

Giorgio Tozzi war ein echter Basso cantante. Anders als Hines, der ein Profondo „mit Höhe“ war und so auch Don Giovanni singen konnte, oder als Flagello, der die übers Bass-Register hinaufreichende Extremhöhe bis zum G’ locker produzieren konnte, aber ein ausladender „schwerer“ Basso profondo war, bewegte Tozzi sich in der heldenbaritonalen Tessitura entspannt und souverän, benötigte keine Hilfsmittel wie Glottisschläge oder Falsettierungen, um in den gefährlichen Regionen überm E’ bei Verdis Zaccaria oder Silva glanzvoll aufzutrumpfen. Er hatte zugleich die schallkräftige Tiefe für Serioso-Partien jeder Art und Stilrichtung. Was dem Hörer seiner erfreulich zahlreichen Einspielungen und Mitschnitte nicht sofort bewusst wird: Er kam vom Baritono italiano her und blieb lebenslang im heldenbaritonalen Spinto-Bereich – schallkräftig, mit Stamina und Höhenstrahl, in seinen Reifejahren auch in reinen Heldenbariton-Partien wie Ruslan in Glinkas großer Zauberoper, vor allem als Hans Sachs.

Tozzis Stimme hatte stark italienischen Charakter in herbstlichen Farben mit ausgeprägter Metall-Legierung. Er besaß nicht den gaumig-nasalen Beiklang von de Angelis oder Rossi-Lemeni, nicht die runde, samtige Fülle von Pasero und Tajo, nicht die erotisierende Vibranz des unvergleichlichen Siepi und nicht die kernig-körnige Markanz von Bass-Stimmen russisch-osteuropäischer Provenienz wie Christoff, Ghiuselev, Diakov. Er war ein Solitär – wenn überhaupt, dann eher großformatigen Bassbaritonstimmen à la Bockelmann, Schipper und vor allem Nissen farbklanglich verwandt. Er konnte „bassig“ grollen und gleißend-strahlend schmettern. Doch vor allem verkörperte er vorbildlichen Legato-Gesang, in abgestuften Farbnuancen, dynamischer Stärkeskala, ausdrucksintensiv durch musikalisch-sängerische Mittel, den dargestellten Charakter suggestiv aus Linie und Klang formend.

Das ist schon sehr viel und im Kollegenumkreis sehr eigenständig. Doch Tozzis Alleinstellung wird durch weitere erstaunliche, ja verblüffende Faktoren bekräftigt. Er begann seine Laufbahn als veritabler Verdi- und Verismo-Bariton. Eine Handvoll früher Rundfunkaufnahmen von Ende der 1940er Jahre belegt es glanzvoll – durch atmende Phrasierung auf hoher Tessitura, bruchlose Passaggi, unangestrengte Top-Noten überm Fis’, souveräne Attitüde eines Verdi-Sängers. Und weiter: Während seiner ganzen Karriere bewies sich Tozzi auch als idiomatisch klangbewusster American Good Guy – in Musicals und Broadway-Shows, mit Crossover-Programmen, als Stage- und Radio-Star, im Metier Musical dem älteren Pinza nachfolgend.

Von Kind auf Profi

Giorgio Tozzi wurde als George John Tozzi am 8. Januar 1923 in Chicago geboren. Er war der Sohn italienischer Einwanderer. Seit früher Kindheit sang er in Laienchören, trat auch schon als Knabensolist auf. An der DePaul University in Chicago begann er ein Studium der Biologie, nahm aber auch Gesangsstunden – bei keiner Geringeren als der legendären Sfogato-Sopranistin Rosa Raisa, der ersten Turandot, dann bei dem nicht minder berühmten Falstaff Giacomo Rimini. Im Zweiten Weltkrieg leistete er Militärdienst bei der US Army. Dann begann er mit Auftritten als Sänger, zunächst in Nachtclubs, auch in Konzertchören. Sein früh entfaltetes Prachtorgan wies ihn klar als Spinto-Bariton aus. Als solcher gab er auch sein professionelles Bühnendebüt, spannend genug – im Ziegfeld Theatre am New Yorker Broadway, als Tarquinius in Benjamin Brittens The Rape of Lucrezia. Das brachte ihm ein Engagement nach London ein. 1949 spielte er im dortigen West End Theatre einen Boxer in dem Musical Tough At the Top von Vivian Ellis.

Danach unternahm Tozzi eine Studienreise nach Italien, suchte sängerische Vervollkommnung mit weiteren Lektionen bei dem namhaften Gesangspädagogen Giulio Lorandi, bekannt auch als Fachautor über Belcanto und Gesangshistorie. Dieser diagnostizierte in ihm einen Basso cantante, prädestiniert für die anspruchsvollen Partien dieses Fachs zwischen Bellini, Verdi und Verismo. Nach intensiver Umschulung konnte Giorgio Tozzi, wie sich der Italo-Amerikaner nun nannte, 1950 sein Operndebüt am Teatro Nuovo di Milano machen – als Conte Rodolfo in Bellinis La sonnambula, also mit einer der klassischen Belcanto-Partien eines Basso cantante.

Er trat nun als Anfänger an mehreren Opernbühnen Italiens auf, konnte auch an Opernproduktionen der RAI mitwirken, bis ihn 1953 die Mailänder Scala für die Partie des Stromminger in Catalanis Verismo-Oper La Wally engagierte. Am 7.12.1953 stand er unter Carlo Maria Giulinis Leitung neben Renata Tebaldi, Mario del Monaco, Giangiacomo Guelfi und Renata Scotto erstmals auf der weltberühmten Bühne. Der Mitschnitt ist erhalten. Ihm folgten weitere Auftritte an den großen italienischen Häusern, 1962 erneut in einer Scala-Premiere: als St.Bris in Meyerbeers Gli Ugonotti, unter Gianandrea Gavazzenis Leitung neben Joan Sutherland, Giulietta Simionato, Franco Corelli, Nicolai Ghiaurov.

Schon zuvor war Tozzis Ruhm weltweit geworden. Die New Yorker Met, seit 1949 unter Rudolf Bings Direktion, verpflichtete ihn 1955 für Ponchiellis La Gioconda. Von Cesare Siepi übernahm er darin die Partie des Alvise Badoero, wieder eine Aufgabe für Basso cantante, neben Milanov, Rankin, Baum, Warren unter Fausto Cleva. Das war der Beginn einer langen Met-Karriere voller Höhepunkte, darunter 1968 Verdis Luisa Miller, erst mit Moffo/Bergonzi, dann mit Caballé/Tucker, worin sich der finstere Ezio Flagello als Wurm und der markante Tozzi als Conte di Walter ein furioses Basso-Incontro lieferten, das in mehreren Auflagen, live, Studio und konzertant seine Dokumentation auf Tonträgern gefunden hat. Oder 1958 als alter Doktor in der Uraufführung von Barbers Vanessa mit Steber, Gedda, Resnik, Elias unter Mitropoulos. Oder 1957 als Figaro in Mozarts Nozze unter Leinsdorf. Oder 1963 als Pimen im Boris Godunov unter Solti. Oder 1971 als König Marke im Tristan unter Horst Stein. Schließlich als Hans Sachs in den Meistersingern 1967 unter Joseph Rosenstock.

Personalità forte

Insgesamt trat Giorgio Tozzi an der Metropolitan Opera in 21 Seasons an 528 Abenden in Hauptpartien auf: als Alvise in La Gioconda, Ramfis in Aida, Samuel in Ballo in maschera, Don Basilio im Barbiere, Colline in La Bohème, Pimen im Boris Godunov, Philippe II im Don Carlos, Titelrolle + Commendatore im Don Giovanni, Silva in Ernani, Gremin im Eugene Onegin, Rocco + Don Fernando im Fidelio, Daland im Fliegenden Holländer, Guardiano in Forza del destino, Conte di Walter in Luisa Miller, Banco im Macbeth, Count Des Grieux in Manon, Plumkett in Martha, Sachs + Pogner in den Meistersingern von Nürnberg, Zaccaria im Nabucco, Oroveso in Norma, Figaro in Nozze di Figaro, Gurnemanz im Parsifal, Arkel in Pelléas et Mélisande, Sparafucile im Rigoletto, Hebräer in Samson et Dalila, Fiesco im Simone Boccanegra, Conte Rodolfo in La sonnambula, König Marke in Tristan und Isolde, Doktor in Vanessa, Sarastro in der Zauberflöte, mit der Basspartie in Verdis Messa da Requiem, dazu in Gala Performances und Concerts.

Tozzi war ungeachtet seiner Vielbeschäftigung an der Met und bei Projekten der Schallplattenindustrie häufiger Gast an ausgewählten Opernhäusern. Etwa in San Francisco, Chicago, Boston und Houston. In San Francisco hatte er schon 1955 als Ramfis in Aida debütiert. In Boston war er Ruslan in der spektakulären amerikanischen Erstaufführung von Michail Glinkas Ruslan und Ludmila. 1958 und 1961 kam der bereits weltberühmte Bassist zu den Salzburger Festspielen, um dort erst unter Dimitri Mitropoulos in der europäischen Premiere von Barbers Vanessa mitzuwirken und dann unter Gianandrea Gavazzeni neben Tito Gobbi und Leyla Gencer als Jacopo Fiesco in Verdis Simone Boccanegra und in einem Mozart-Konzert mit Bernhard Paumgartner zu glänzen.1973-74 gastierte er als Hans Sachs am Opernhaus Frankfurt/M. und an der Hamburgischen Staatsoper.

Universal Artist

In den USA war Giorgio Tozzi nicht nur als Opernbassist bekannt und gefeiert. Hier entfaltete er sein zweites Wirkungsfeld als TV- und Musical-Star. Schon 1957 hatte er sich auf die Spuren des großen Vorgängers Ezio Pinza begeben und in San Francisco neben Mary Martin als de Becque in Rogers+Hammersteins South Pacific Furore gemacht. Der Erfolg, der Tozzi auch zu Film und Fernsehen brachte, führte ihn bald an den New Yorker Broadway, wo er in Produktionen von Fanny, Fiddler On The Roof und The Man From La Mancha, dann erneut in South Pacific gefeiert wurde. Die bekanntesten Songs daraus wurden Plattenerfolge, und in der Verfilmung des Stücks lieh Tozzi dem Hollywood-Actor Rossano Brazzi seine Gesangsstimme. 1979 schließlich spielte er am Broadway in Frank Loessers Musical-Erfolg The Most Happy Fella und wurde dafür mit einem Tony Award ausgezeichnet.

Tozzi wirkte auch in TV-Produktionen ganzer Opern mit: 1961 in der Titelpartie von Boris Godunov und 1978 in Menottis Ahmal And The Night Visitors. Seit den 1970ern übernahm er auch reine Sprechrollen in TV-Serien wie Kojak, Baretta und The Odd Couple. Er erscheint in über 30 Opern-Gesamtaufnahmen und -mitschnitten. Besonders bekannt und zum Teil preisgekrönt wurden Mozarts Nozze di Figaro, Rossinis Barbiere, Donizettis Lucia, Puccinis Bohème und Turandot unter Leinsdorf, Verdis Ernani und Luisa Miller unter Schippers, Verdis Aida unter Solti, Wagners Holländer unter Dorati, Tschaikowskis Eugen Onegin, Puccinis Fanciulla, Strauss’ Elektra unter Mitropoulos.

In den 1980ern beendete Giorgio Tozzi seine Bühnenlaufbahn. Er legte noch eine Wirkungsphase nach – als Pädagoge für musiktheatralische Darstellung an der Juilliard School of Music und an der Brigham University, seit 1991 an der Indiana University (dort mit Meisterklassen der Jacob’s School). Damit noch nicht genug: 1977 war er mit The Golem Of The Golden West auch als Romanautor hervorgetreten.

Erst im Jahr 2006 setzte sich der eminente Künstler zur Ruhe. Ihm blieben noch fünf Jahre: Am 30. Mai 2011 verstarb er an seinem Ruhesitz in Bloomington/Indiana. Tozzi war der erste echte Basso cantante amerikanischer Herkunft in der Gesangshistorie. Er hat bisher allenfalls in Paul Plishka und dem virtuosen Samuel Ramey amerikanische Nachfolger gefunden; danach scheint vorerst nichts zu kommen. Tozzis Stimme, Gesangskunst und Künstlerpersönlichkeit sind über mediale Vermittlung so präsent wie eh und je. Die Erinnerung an ihn lebt.


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© Klaus Ulrich Spiegel