La voix de Corse
Lucidité, Douceur, Style:
Die Sopranistin Martha Angelici

Ungeachtet seiner englischsprachigen Etikettierung ging das Golden Age Of Singing hauptsächlich von Paris, der Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts, aus. Dort wurden die Maßstäbe gesetzt, die Regeln geheiligt, die Wirkungen erzeugt, die Protagonisten geschult, die Weltstars geformt. Von dort strahlten die Vokal-ereignisse aus, die dann in Gastspielen, Tourneen, Ensemblebildungen von St. Petersburg bis New York City weltweit Geltung gewannen. Selbst bedeutendste Musikschöpfer und größte Erfolgswerke von Klassik, Romantik, Musikdrama, vor allem des Belcanto italiano waren im Weltruhm erst definitiv angelangt, wenn sie in Paris reüssiert hatten.

Gleiches galt für die Maîtres du Chant, die führenden Sängerinnen und Sänger der Epoche, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Zugleich setzte eine speziell franzö-
si sche Schule, ein französisches Stilbewusstsein die Konditionen authentischer Gesangsinterpretation in Opéra, Opéra comique, Opéra lyrique, Opérette. Bis zu den 1920ern entstanden auch Tondokumente in Fülle, die uns dieses Leistungs- und Stilniveau maßstäblich vermitteln.

Große Namen der Ère acoustique, führen uns ein wahrhaft goldenes Zeitalter
im Zeichen von Chant ouvré und Voix pure vor Ohren: Tenöre wie Escalais, Lafitte, Dalmorès, Muratore, Franz, Clément bis Vezzani und Thill. Baritone und Bässe wie Maurel, Lassalle, Renaud, Noté, Duffrane, Plançon, Delmas, Nivette
bis Albers und Journet. Soprane und Mezzos wie Calvé, Litvinne, Norena, Luart, Féraldy, Meyriane, Gerville, Raveau bis Vallin und Lubin. Die Reihe scheint unendlich — und verliert sich nach dem ersten Jahrhundertquartal doch im Brunnen der Vergangenheit.

Es mag am Vorhall der späteren Globalisierung aller Wirtschafts‑, dann Gesell-schafts‑, schließlich Kulturbereiche gelegen haben, dass die weltbeherr-schende Stellung des Chant et Style français seit den 1930er Jahren sukzessiv gemindert, in den 1940ern bis 60ern auf regionale Bedeutung gesetzt, dann von Universal-berühmtheiten mit glanzvollen Stimmen nahezu verdrängt wurde. Seither präsentieren Tonaufnahmen französischer Werke internationale Solistenpromi-nenz. Sie realisieren aber nicht mehr das Stilprinzip der Verschmelzung kon-trollierter Tongebung mit Finessen der französischen Diktion (Jürgen Kesting). Nurmehr eine Handvoll französischer oder frankophoner Sänger war und ist einbezogen — wie etwa Régine Crespin, Alain Vanzo, Alfredo Kraus, Gabriel Bacquier, José van Dam und der als Schwede offenbar beste französische Tenor der zweiten Jahrhunderthälfte, nämlich Nicolai Gedda. Das macht attraktiv scheinende, doch kaum mehr werkgerechte Besetzungen mit Sills, Freni, Horne, Cotrubas, Norman, Troyanos, Baltsa, Domingo, Carreras, Milnes, Ghiaurov, Raimondi zwar weltmarktfähig, bewirkt aber Kenntnis- und Rezeptionsverluste, gerade in diesem kulturhistorisch bedeutenden Repertoire.

Stilverlust durch Marktexpansion
Der Bruch vollzog sich im Übergang von der Schellackplatte zur LP. Die Radio- und Tonfilmzeit war noch eine Ära regionalen und, besonders in Frankreich, nationalen Kulturschaffens. Wie in anderen europäischen Ländern wurden Musikwerke mit Gesang in den Nationalsprachen, also in übertragenen Fassun- gen der Originale, aufgeführt. Entsprechend die Funk- und Plattenversionen. So wie es in Deutschland den Barbier, die Traviata, die Aida, die Bohème, den Boris, also auch MargareteMignonCarmen nur auf Deutsch zu hören gab (gleich ob auf Bühnen oder Tonträgern), so gab es in Italien, Russland, Frankreich die entspre-chenden Werke nur in italienischen, russischen, französischen Versionen.

Die heute mitunter befremdlich wirkenden Ergebnisse - ZauberflöteRigolettoButterflySalome in französischer Färbung und Diktion - waren für den Absatz-erfolg lange unerheblich, wenn nicht sogar förderlich. Solange man von Schall-platten nur Soli oder allenfalls Ausschnittfolgen vernehmen konnte, erwarb und hörte man ja eher Interpreten als Werke. Auch darum sind die Tonzeugnisse der Goldenen Ära so exemplarische Dokumente großer Gesangskunst, nicht nur die aus dem französischen Repertoire.

Doch seit man ganze Opernwerke, dazu Konzerte & Recitals, in Tonstudios produzieren konnte, parallel dazu die Absatzmärkte zusammenwuchsen, entwickelte sich Nachfrage nach ganzen Werken in Originalfassungen, dies vielleicht noch mehr zu grenzüberschreitender Vermarktung als kultureller Aneignung. Doch noch in der Übergangszeit, den 1950/60ern, wurden in großer Zahl Regionalfassungen mit ausschließlich deutscher oder französischer oder englischer oder russischer Besetzung eingespielt. Eine lange Reihe erstklassiger Gesangskünstler blieben in solcher Tondokumentation eingegrenzt. Sofern sie in Werken ihres Kulturkreises zu vernehmen sind - die Franzosen also von Rameau bis Honegger - bleiben sie dem Sammler und Kenner unverzichtbar. Doch wer will seit ca. 1960 noch NozzeLuciaBalloBohèmeLohengrin oder Lustige Witwe 
auf Französisch hören, gar archivieren?

So gehen der Sammlerlust, gar der Fachkenntnis viele Perlen großer Gesangs- kunst verloren, vor allem solcher, die zugleich Zeugnisse eigenständiger natio-naler Kunstgattungen sind. Von Met-Weltstars wie Lily Pons und Raoul Jobin abgesehen, aus der französischen Opernszene dieser Zeit sind große Beispiele hierzulande kaum mehr bekannt: Mireille Berthon, Marisa Ferrer, Géory Boué, Vina Bovy, Lily Djanel, Janine Micheau, Renée Doria, Gaston Micheletti, José Lucioni, René Maison, Henri Legay, Jean Giraudeau, Charles Cambon, Jean Borthayre, Michel Dens, Pierre Mollet, René Bianco, André Pernet — nur an Bassisten von Weltformat aus französischem Umfeld hat es bereits seit den 1930ern gefehlt, sehr im Gegensatz zur Fülle zum Jahrhundertbeginn.

Von der Isolation zur Archivierung
Symbolhaft, jedenfalls maßstabsetzend, standen seit der Nachphase des Golden Age vor allem lyrische Sopranstimmen für das, was man als französischen Gesangsstil, genauer: als dessen Klangbild empfand. Im deutschen Rezeptions- raum mag dafür prototypisch der brillant geführte, quellfrische, sympathische Sopran der Ninon Vallin gelten, einer Art gallischer Berger und Cebotari in einer Person. Vor allem als Partnerin des letzten großen Weltrangtenors der Franzosen, Georges Thill, überdauert sie ruhmvoll auch auf modernen Tonträgern, nimmt noch im Fernklang der Elektro-Aufnahmen mit Charme, Eleganz, Flexibilität gefangen.

Vereinzelungen sind immer ungerecht — doch am Beispiel Vallin lässt sich der Grundtypus des Sopran français erkennen: Ein nicht unbedingt farbvariabler, stets heller, schlanker, eher kühler (auch mal saurer) Klang, mit eher schmaler Ausdruckspalette, doch enormer Beweglichkeit und mitunter erstaunlicher Belastbarkeit. Von dramatischen Solitären wie Germaine Lubin und Régine Crespin (nicht zufällig fulminanten Wagnersängerinnen) abgesehen: Bei unter-schiedlicher Einfärbung verkörpern fast alle französischen Soprane diesen
Typus. Soweit auf Tonträgern nachprüfbar, beweisen sie vielseitige, manchmal grenzenlos wirkende Eignung für ein universelles Repertoire, von Oratorium über zwei Jahrhunderte Operngeschichte bis zu Opérette und Chanson, auf der  Klangbühne Tonträger vom Soprano leggiero bis zu Verdis Desdemona und Puccinis Butterfly, also bis zum großen lyrischen Sopran mit jugendlich-dramatischen Möglichkeiten.

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Une étoile de l’île 
Ein solcher Soprantypus war die Sängerin, der unsere CD-Edition gewidmet
ist: MARTHA ANGELICI (
 1907 – † 1973). Sie hatte ihre Hauptwirkungszeit in exakt jener Phase des Übergangs, die hier behandelt wird. Radiodebüt 1933 in Brüssel. Konzertdebüt 1934 in Ostende. Operndebüt 1936 in Marseille. Paris- Debüt in der Opéra-comique 1938. Grand-Opéra-Debüt, bereits prominent: 1953. Schallplattenkarriere 1936 bis ca. 1960. Ein Soprano lirico, doch in allen Phasen ihres Wirkens auch an den Grenzen des jugendlichen Fachs bewährt.

Angelicis Status in den 1940/50er Jahren war der einer nationalen Berühmtheit. Das beweist sich auch auf Tonträgern — in zwei Arien-Recitals, zahlreichen Einspielungen von Chorwerken und Oratorien, ausgewählten Operettenstücken, Orchesterliedern, Chansons, Volksweisen, dazu Rollenportraits in Operngesamt-aufnahmen: Mozarts Bastienne 1948, Gounods Siebel 1953, Bizets Micaëla 1950 und Leila 1954, Puccinis Mimi 1955 und Cho-Cho-San 1956, Ravels Princesse 1949, Strawinskys Renard und Rossignol 1951, dazu die Girolama in Tomasis Don Juan de Maňara 1952, schließlich im Live-Mitschnitt vom Festival de Vichy 1955 die Tani-Zerga in Tomasis L’Atandide, deren Uraufführung Angelici 1954 in Mulhouse mitbestritten hatte. Auch hier: ein Spektrum von der Soubrette bis
zur großen Lirica.

Martha Angelici (gelegentlich liest man den Vornamen Marthe) stammte von
der Insel Korsika, wurde dort in der Ortschaft Cargèse geboren, kam als etwa
20-Jährige nach Brüssel, studierte dort an der Académie Musicale, hauptsächlich in der Gesangsklasse von Alfred Mahy. Seit 1933 hatte sie Auftritte bei nieder- ländischen, belgischen und luxemburgischen Rundfunksendern. Nach dem öffentlichen Konzertdebüt erhielt sie zahlreiche Engagements als Konzertsänge-rin. Ihr Operndebüt machte sie als Mimi in La Bohème. 1936 sang sie bei den Concerts Pasdeloup in Paris in der Uraufführung von Tomasis Zyklus Chants de Cyrnos. Ihr erster Auftritt an der Opéra-comique fand als Comprimaria in Charpentiers Louise statt. An dem legendären Haus hatte sie eine mehr als 20 Jahre lange Karriere mit mehr als drei Dutzend Hauptrollen des französischen und italienischen Repertoires, aber auch als Pamina in Mozarts Zauberflöte, dazu mit zentralen Aufgaben in den Uraufführungen von Lavagnes Comme ils s’aiment (1941) und Delannoys Ginevra (1942). Ihre Antrittsrolle an der Grand- Opéra war dann Micaëla in Bizets Carmen.

Vielgefragt und vielgefeiert 
Seit Ende der 1940er erreichte Angelici europäische Bekanntheit. Tourneen führten sie, teilweise mit dem Opéra-comique Ensemble, nach USA und Brasilien. Karajan verpflichtete sie an die Mailänder Scala. Doch ihr Haupt-aktionsfeld blieben neben den beiden großen Häusern in Paris die Opernbühnen und Konzertsäle Frankreichs und der Benelux-Staaten. Dem Konzertgesang in Oratorien und Messen, Konzert- und Lied-Zyklen widmete sie einen gleichen Anteil ihrer Tätigkeit wie der Oper. Besonders erfolgreich und beliebt war sie in musikalischen Komödien und Opérettes, von Grétry, Offenbach, Messager, Hervé, Lecocq, Ganne, Hahn. Doch sie galt auch als führende Interpretin von Sakralmusik aus Barock und Klassik, schließlich als exzellente Liedsängerin.  Berühmt war ihr Vortrag korsischer Volkslieder.

Ihre tönende Hinterlassenschaft ist beachtlich. Schon seit den späteren 1930er Jahren konnte sie Solotitel für Schellacks in der Edition Anthologie Sonore  aufnehmen. Dann war sie Vertragssängerin bei Pathé Frères. Für Columbia,
HMV und Forlane sang sie in Opern-Gesamtaufnahmen. Der später weltbe-rühmte Dirigent André Cluytens schätzte sie besonders und holte sie oft ins Aufnahmestudio.

Angelicis Sopran war von lichtem, typisch weißem Klanggepräge, doch im Gegensatz zu gleichzeitig wirkenden Lyrikerinnen bereichert von einem gleichsam von innen leuchtenden Kern. Ihr Legato hatte berückende Wärme, bei leichter Tonverstärkung auch von schimmerndem Metall erfüllt. Die Tonbildung vollzog sich nahezu ohne Einschwingbedarf, der Klangstrom war von wunder-barer Ausgeglichenheit, präsentierte kein eigentliches Vibrato, hatte dennoch sanft-belebenden Puls — musterhaft zu vernehmen in den Soli von Antonia und Leila. Dazu verfügte sie, mehr als etwa die vielgeschätzte Konkurrentin Micheau, über eine Skala valider Nuancen und variabler Farben, von heiter und kokett über sehnsuchtsvoll und elegisch bis jubilierend und erfüllt. Man hört keinen sauren, keinen schrillen Ton. Keine Note fällt aus der natürlich schwingenden, ausge-formten, stufenlos gebundenen Kette. Sie gebot auch über Verzierungs-fähigkeiten, abrufbar bis zu sanften Trillern. Une belle voix — parfaitement maîtrisée.

Repräsentantin einer Ära 
Martha Angelici war eine zentrale Erscheinung des Pariser Musiklebens: auch
im Hinblick auf ihr Spektrum und ihre mediale Wirkung so etwas wie eine deutsche Rothenberger mit Optionen einer della Casa. Sie war verheiratet mit dem Direktor der Opéra-comique François Agostini. Das dürfte ihrer gesell-schaftlichen Position im Nachkriegs-Paris nicht geschadet haben. Ihre tönende Hinterlassenschaft weist sie als eine typische Vertreterin des Style français und der Lirici francesi aus, doch sie hatte künstlerisch wie sängerisch deutlich mehr zu bieten als viele ihrer Zeitgenossinnen.

Im deutschen Sprachraum konnte sie keine nachhaltige Medienwirkung ent-
fal- ten. Sie blieb aber auch hierzulande ein markantes Beispiel für französische Kultur, für Charakteristik, Stil und Klang authentisch-treffender Ensemble- und Darstellungskunst im Welt-Opernkatalog. Sie bietet Exempla classica der erin- nernswürdigen Ära zwischen den Epochen. Insofern gilt sie heute vor allem als Repräsentantin einer nahezu verlorenen Interpretationskultur.


                                                                                      KUS
 

 

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© Klaus Ulrich Spiegel