Protagonista espressivo
Baritono drammatico der Verismo-Ära:
Giovanni Albinolo
Im verbreiteten Fachjargon der Opern- und Gesangsenthusiasten wird die Zeitphase ab dem
Ende des 19. bis zum Ablauf des ersten Viertels im 20. Jahrhunderts oft als Golden Age of Singing bezeichnet. Damit sind nicht nur die gerade dann tontechnisch möglich gewordenen
überlieferten Klangzeugnisse originaler Repräsentanten der klassischen Schuola di canto und damit der Belcanto-Epoche bezeichnet. In mindestens gleichem Ausmaß steht das „golden“ dieses
Ages auch für eine anhaltend entdeckenswerte Großzahl an Tondokumenten aus allen Zentren und Kulturstätten der damaligen Zeit, die - im Gegensatz zur heutigen weltweiten Vermarktung -
eine kaum glaubliche Fülle, Breite, Vielfalt damals präsenter Vokalisten sämtlicher Stimmlagen, Eignungen, Spezialisierungen und jedenfalls Karrieren, von lokal bis international, erfassen und
akustisch abbilden.
Angesichts der Dutzendschaften geliebter, verehrter, also absatzsicherer Tenorstimmen
wie auch Primadonnenkünste werden selbst unter engagierten Sammlern weithin die Hundertschaften an Baritonen - wieder: aller Richtungen, Typen, Charakteristiken, Fächer, Timbres und Schulen -
übersehen oder unterschätzt. Deren schier unfassbare Anzahl auf den frühen Tonträgermedien, macht Analogien zur Stereoproduktion bis heute unmöglich. Um auf Italo-Baritone beschränkt zu bleiben: Seit
den 1950er Jahren wurden von Gobbi und Taddei über Warren, Merrill, Bastianini bis Cappuccilli und Bruson nur je ein Handvoll Weltrang-Baritone vermarktet und damit ins Bewusstsein von Rezipienten
und Konsumenten gebracht. Heute muss das (ohnehin auf minimale Dimensionen reduzierte) italienisch-französische Bariton-Repertoire mangels Vertretern mediterraner Herkunft meist mit
angloamerikanischen und osteuropäischen Rollenträgern bestritten werden.
Der ewige Vorrat großer, weltbedeutender Stimmen aller Fächer, vorrangig aber Italo-Baritone
aus der frühen = der Acoustic Era ist selbst für Kenner kaum überschaubar; er scheint sich auch immer noch zu erweitern - mit immer neuen „Ausgrabungen“ völlig zu Unrecht ungekannter oder
vergessener, zudem von der sich so gebenden Kultur-Medienindustrie durchwegs vernachlässigt, gestrichen, getilgt, sofern überhaupt je angeboten.
Ein in jeder Hinsicht zutreffendes Beispiel dafür bildet der - heute allerwegen gänzlich
unbekannte - Spitzenbariton, den diese CD-Dokumentation vorstellt: der Piemonteser GIOVANNI ALBINOLO. Wenn man den Begriff
„Entdeckung“ (nicht einmal Wieder-Entdeckung) anwenden kann, dann auf ihn, der heute absoluter Weltstar wäre und dem Vergessen wohl nur deshalb anheimfiel, weil die Überfülle bei seinen
Karrierezeiten genau jene Selektionen schuf, von denen hier die Rede ist. Dies freilich in einem Ausmaß von Unangemessenheit, die dennoch unentschuldbar scheint. Weshalb dem endlich-dringlich
abzuhelfen war.
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GIOVANNI ALBINOLO - Bariton
* 13.6.1865 Torino (Turin) - † 7.7.1925 ebendort
Über seine Herkunft und frühe Entwicklung ist kaum etwas bekannt.
Als Jüngling sang er in (wahrscheinlich kirchlichen) Laienchören. Dabei wurde man auf seine
Stimme aufmerksam, die zunächst die eines Basso cantante zu sein schien. Er erhielt privaten Gesangsunterricht - auch darüber sind keine konkreten Informationen auffindbar. Seine lexikalische
Existenz als professioneller Künstler beginnt mit dem relativ späten Bühnendebüt 1896, nun als dramatischer Bariton, an einem damals als führend geltenden italienischen Opernhaus: dem Teatro Piccinni
von Bari, als Conte di Luna in Verdis Il Trovatore.
In rascher Folge schlossen sich weitere Standardpartien von Verdi-Opern an: Rigoletto, Carlo
V., Renato, Germont, Carlo di Vargas, schließlich Amonasro und Jago. Albinolo hatte zunächst kein Stammhaus, tourte vielmehr kreuz und quer durch die italienische Stagioni-Landschaft, mit Auftritten
u.a. in Ferrara, Fiume, Genova, Modena, Pisa, Piacenza, Reggio Emilia ... Dann erfuhr seine Laufbahn einen folgenreichen Schub: mit dauerhaften Verpflichtungen ans Teatro Regio di Torino und ans San
Carlo di Napoli - hier wieder in zentralen Verdi-Partien, doch auch als Donizetti-(also Belcanto-)Baritono mit Enrico in Lucia di Lammermoor, Alfonso in La Favorita, Severo in
Poliuto.
Obwohl er bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein einen Ruf als Universalist
und Beherrscher varianter Stilformen erworben hatte, tendierten Albinolos Vokalentwicklung und sein Repertoire immer stärker ins (hoch-)dramatische Fach, so mit Nelusco in Meyerbeers
L’Africana, Barnaba in Ponchiellis La Gioconda, Escamillo in Bizets Carmen, Gérard in Giordanos Andrea Chénier, Mascagnis Alfio, Leoncavallos Tonio, Puccinis
Scarpia. Zwischen etwa 1900 und dem Weltkriegbeginn zählte man ihn zu den prädestinierten Interpreten des Stile Nouvo, also der Opern des damals in Hochkonjunktur dominanten
sog. Verismo.
Karriere mit Raritäten
Einen Hinweis darauf gibt die Folge effektstarker Partien, in deren Ur- und Erstaufführungen
oder frühen Erfolgsproduktionen Albinolo mitwirkte - allein in Torino/Turin an drei Häusern: neben dem Teatro Regio auch an den Teatri Balbo und Vittorio Emanuele. So 1902 in A basso porto
von Nicola Spinelli und in Suprema Via von Vittorio Radeglia. 1906 in Il Battista von Giocondo Fino. 1907 in Radeglias Margherita d’Orleans. 1911 in Dolorosa von
Eduardo Sanchez. 1915 in Juana von Arrigo Pedrollo. Große Erfolge hatte er auch in früheren Werken des Dramma musicale, so als Issachar in L’Ebreo
von Giuseppe Apolloni, als Ulmo in Edmea von Alfredo Catalani, als Carlo Worms in Germania von Alberto Franchetti und als Don Sallustio in Ruy Blass von Filippo Marchetti.
Insgesamt ein außergewöhnliches, faszinierendes Repertoire, das eine Ahnung davon vermittelt, wie einförmig-beschränkt das gängige Musiktheater der Jetztzeit geworden
ist.
Albinolos Zentral- und Gusto-Opernpartie war aber der Jago in Verdis
Otello. Ihn gab der Sänger während seiner gesamten Laufbahn auf
allen großen Bühnen Italiens bis zur Scala di Milano, auch als oftmaliger Partner des Tenorgiganten Francesco Tamagno, Titelrollenträger der Uraufführung, mit dem der Bariton befreundet war und auch
in anderen Verdi-Werken (Ballo, Forza) und in Donizettis Poliuto ein Bühnenpartner war. Den Jago soll Albinolo während seiner Karriere über 400mal gesungen
haben.
Seine letzten Auftritte fanden in der Saison 1923/24 in Marchettis Ruy Blas am Teatro Verdi in Milano statt.
Albinolo hat also praktisch bis zu seinem Tod auf den Opernbühnen seines Heimatlandes gestanden - in einer Laufbahn von fast 30 Jahren, von Mailand und Neapel bis Fiume und Pistoia. Soweit
Archivdaten zu entnehmen, war er selten mit Einzelauftritten im europäischen Ausland präsent und nur 1907 mit der Compagnia der Opéra de Monte Carlo als Don Carlo in Verdis Ernani an einer
Südamerika-Tournee beteiligt. Auch dieses, in scheinbarer Begrenztheit universale Spektrum gibt uns Hinweise auf einen paesaggio dell‘opera senza limiti, von dem heutige Opernfreunde nur träumen
können.
Albinonis Position darin wird auch deutlich durch eine für seine Ära beachtliche Folge von an die fünf Dutzend
Tonaufnahmen, allesamt in akustischer Aufnahmetechnik, einige Stücke in zwei oder drei unterschiedlichen Versionen: die bekanntesten beim erstaunlich präsent klingenden Label Odeon
(1905-1910) und bei der eher unzureichend reproduzierenden Marke Anker (1907), einzelne auch bei den Kleinproduzenten Milagrophon und Disco Italia. Sie erfassen im
Wesentlichen Albinolos zentrale Bühnenpartien, aber auch Beispiele aus Belcanto-Werken. Struktur und Umfang dieser Hinterlassenschaft lassen auf eine gewichtige Rolle und Resonanz des Sängers im
Opernbetrieb seiner Ära schließen.
Aus dem Brunnen des Vergessens:
ein Spitzensänger
Unter Rezipienten - Kennern, Vokalhistorikern, Archivaren, Rezensenten - von Vokalaufnahmen ist Giovanni Albinolo bis
dato ganz vergessen. Die Qualität seines Naturmaterials, gesangstechnische Perfektion, Phrasierungs-Eleganz, Höhensicherheit und Ausdrucksfülle lassen kaum verstehen, dass er nach heutigen
Kriterien nur eine Semikarriere gemacht hat und auch bei Sammlern untergeordnete Nachfrage erzielt haben dürfte. Seit mehr als acht Jahrzehnten lagerten Originalmatrizen und Schellacks-Einzelstücke
in Hersteller-Archiven und bei ganz wenigen spezialisierten Sammlern. Nie ist diese grandiose Baritonstimme auf LP oder CD erschienen. Die HAfG-Edition erweckt die Tondokumente nach jahrzehntelangem
Schlaf nun aus dem Brunnen der Vergangenheit.
Wie stets gewinnt man Maßstäbe auch bei diesem Anlass aus Vergleichen. Albinono gehört nicht zu den Spätzeugen der
klassischen Belcanto-Schule, wie sie uns aus dem späten 19. Jahrhundert in Aufnahmen von d’Andrade, Santley, Kaschmann, Renaud, de Gogorza, Ancona, Battistini, Campanari bis de Luca herüber tönen.
Sein dunkel gefärbtes (ein wenig auf frühe Basso-Praxis hindeutendes), kerniges, noch auf den klangschwachen Anker-Einspielungen schallkräftig-schwingendes, im Timbre fein-granuliert anmutendes
Prachtorgan ist eher in die Gewichtsklasse der Magini-Coletti, Giraldoni, Viglione-Borghese bis Stracciari und Franci einzuordnen.
Ein von den Ressourcen her prädestinierter Verismo-Bariton von Stimmgewalt und Ausdrucksreservoir, so will es scheinen -
und doch ein später Vertreter und Demonstrant klassisch geschulten Singens mit Eigenschaften für die erste Rangklasse: präziser Intonation, modulationsstarker Tonbildung aus lyrischem Ansatz,
souveräner - vor allem: flexibel-dynamischer - Phrasierung, bruchloser Klangentfaltung bis zu metallisch-strahlenden Höhen übers Gis‘‘ hinaus. Dazu, unter Charakterbaritonen selten: auch eine zu
reicher, lyrischer Klanggestaltung steigerbare Mezzavoce. Rundum ein Erstrangsänger, mit Tondokumenten, die ihn auf den Olymp der Jahrhundert-Vokalisten heben müssten - wenn es in der
Rezeptionsgeschichte objektiv und markt- wie auch gusto-unabhängig zuginge.
KUS