Im Schatten
des Giganten
Heldentenöre neben Melchior: Paul
Althouse
Der alles überstrahlende Ruhm des "Heroic Tenor of the Century" dominiert die
Erinnerungen noch lebender Zeitgenossen und die Rezeption durch seine Nachwelt. Er wird auch die Maßstäbe der Zukunft prägen. Nicht nur, weil Lauritz Melchiors gesamte Laufbahn durch Tonbeispiele
dokumentiert ist – von den Zeitgenossen hat allenfalls Max Lorenz eine ähnlich umfassende Hinterlassenschaft aufzuweisen. Sondern vor allem, weil die Alleinstellung, die daraus gefolgert wird, den
Blick auf eine ganze historisch bedeutende Szene zu ver-stellen scheint.
So kolportierte sogar Jürgen Kesting (in der Erstausgabe von Die großen Sänger),
der große Däne habe während seines zwei Jahrzehnte langen Wirkens an der Metropolitan Opera sämtliche New Yorker Wagneraufführungen bestritten – ein Irrtum, der mit einem Blick in veröffentlichte
Chroniken des berühmten Hauses
leicht vermeidbar gewesen wäre. Doch er kennzeichnet ein Symptom: So vergleichs-los, so einzigartig erscheinen die Zeugnisse von Melchiors Kunst im Blick auf den seitherigen jahrzehntelangen
Niedergang, dass The Greatest längst von der Glorie
des eigentlich nicht mehr leibhaftig Vorstellbaren überstrahlt erscheint.
Doch das Goldene Zeitalter des Wagnergesangs an der Met wäre nicht wirklich golden zu nennen, wenn es seinen Glanz
nur von einer einzigen, wenngleich außerordentlichen Erscheinung bezogen hätte. Nicht nur in Bayreuth, Berlin,
Wien und den meisten europäischen Metropolen der Vorkriegszeit waren (zugegeben: fast) ebenbürtige Heldentenöre der leichteren und schwereren Gewichtsklasse verfügbar. Auch in New York,
Chicago, Boston, San Francisco und Südamerika wurden Wagners Werke hochklassig aufgeführt. Und eine stolze Reihe von Protagonisten mit Weltrang garantierte die Erfüllung der damals offenbar
obligatorisch hohen Maßstäbe. "Weltspitze" – das bedeutete zugleich Breite.
Weder die Met noch ein anderes Haus der ersten Kategorie mußte Kompromiss-lösungen akzeptieren, wenn Melchior nicht verfügbar war. Was heutigen Hörern und Sammlern davon blieb, ist freilich doppelt
limitiert: Es existieren viel zu wenige Tondokumente.
Und nur wenige dieser wenigen wurden bislang wieder oder erstmals veröffentlicht. Wir verfügen über kaum mehr
Material als für einen ersten Eindruck. Selbst dieser erschließt uns Welten – und und macht schmerzhaft deutlich, welches Ausmaß von Mediokrität am Übergang zum 21. Jahrhundert als hoher Standard
galt.
Wer diese These – zunächst am Beispiel der Heldentenöre der Met - anhand der wenigen Tondokumente überprüfen will,
sollte mindestens vier Namen kennen, vier Sängerpersönlichkeiten der gleichen Generation würdigen: die Amerikaner Paul Althouse und Eyvind Laholm, den Belgier René Maison
und den Briten Arthur Carron. Alle vier wurzeln in der Tradition des europäischen Musiklebens. Und alle vier begannen, wie so viele bedeutende Wagnersänger, ihre Laufbahn im italienischen
und französischen Fach.
Paul Althouse – Rhetorik aus dem
Klang
Paul Althouse (1889-1954), Kind deutscher Einwanderer, stammte aus Reading /Pennsylvania, wurde in New York bei Aldrich, Stevens und Saenger
ausgebildet und debütierte schon 1911 als Gast einer Operntruppe aus Philadelphia am Zielort jeder amerikanischen Sängerkarriere: in New York City in der Titelpartie von Gounods
Faust.
Sein Erfolg war durchschlagend. Schon zwei Jahre später kam er ins Starensemble der Metropolitan Opera, diesmal
nicht in einer Partie des italienisch-französischen Fachs – sondern, neben Adam Didur und Margarete Ober - als Dimitrij in der amerikanischen Premiere von Mussorgskijs Boris Godunov. Sieben
Jahrelang blieb
er an der Met und etablierte sich dort als italienischer Lirico-spinto und eine Art Spezialist für "interessante" Partien, etwa in Uraufführungen amerikanischer Opernwerke von Herbert, Koven und
Cadman.
Nach Gastspielen an amerikanischen Häusern wechselte er für eine inter-nationale Karriere nach Europa, mit
Auftritten vor allem an den wichtigen deutschen Bühnen, auch an der Staatsoper Berlin. Erst Ende der 1920er Jahre, angeblich unter dem Eindruck eines Bayreuth-Besuchs, vollzog er den Wechsel zu den
Heldenpartien Wagners. Mit ihnen kehrte er dann triumphal in die USA zurück.
Nach Auftritten als Tannhäuser & Siegmund 1930 in San Francisco erhielt er einen zweiten Vertrag an die Met, an
der er nun wiederum sieben Jahre wirkte und neben der übermächtigen Gestalt Melchiors als Wagner-Tenor bestehen konnte. Er war zugleich ein in ganz Amerika, auch im Konzertsaal, vielgefragter
Gast-Tenor für universelle Aufgaben. Nach seinem Bühnenabschied 1941 etablierte er sich als einer der bedeutendsten Gesangspädagogen der USA. Zu seinen Schülern gehören Zele-britäten wie Eleanor
Steber, Irene Dalis, Richard Tucker und Léopold Simoneau.
Durch Archivierung
historisiert?
Der offenkundigen internationalen, ja epochalen Bedeutung des Sängers entspricht die
Zahl seiner Aufnahmen nicht. Zur Jahrhundertwende 2000/2001 waren gerade drei Acustic Takes und drei Mitschnitte (zwei Gesamtwerke & ein Fragment) wieder auf Tonträgern
greifbar.
Allerdings: Schon vom Beginn seiner Bühnenlaufbahn an machte Althouse in den USA akustische Aufnahmen (Cylinder und
Schellacks) für Edison und Victor. Mit Ausnahme dreier nur teilweise repräsentativer Ausnahmen wurde bisher nichts
davon auf LP/CD wiederveröffentlicht.
Eine der Ausnahmen aber ist ein Locus Classicus: Neben der portamentosatten Marina der Margarete Ober brilliert
Althouse als Dimitrij in der Gartenszene des Boris Godunov – aufgenommen 1917 in New York in italienischer (!) Sprache. Wir hören, ein wenig beeinträchtigt vom leicht topfigen
Klangcharakter der Trichter-aufnahme, eine perfekt fokussierte, durchschlagskräftige Spinto-Stimme ohne Registerprobleme, lyrisch fundiert, mit nicht gleißendem, aber metallischem Klanggepräge und,
wichtiger: einer Ausdrucksemphase, die nicht aus forciertem Stimmeinsatz, sondern aus konzentrierter Tonproduktion kommt. Dieser Dimitrij trumpft nicht auf; er überzeugt durch eine Rhetorik aus dem
Klang – und und ist damit etwa Zenatello ähnlich, Caruso nahe. Ein Don Alvaro in
Sandomir.
Die beiden anderen Taks sind nicht ganz auf diesem Niveau: Einmal "Celeste Aida", recht unbeteiligt begonnen, mit
schönen Legato-Bögen, hingegen etwas unfreien Tiefen und nicht ganz perfekten Registerverblendungen, wenngleich gut gemischtem und mezzaforte im Focus gehaltenem Schluß-"B". Zum anderen ein mit
sympathi-schem Verzicht auf Crooner-Effekte legato gesungenes Stück aus dem Bereich der gehobenen Unterhaltung: "Moon of my delight" aus Lehmanns Persian Garden.
Eine sicherlich nicht repräsentative Ausbeute, die aber immerhin demonstriert, wie "italienisch" fundiert Timbre und Stil des jüngeren Althouse waren.
Weiteres Tonmaterial entstammt Live-Mitschnitten zweier musikgeschichtlich wichtiger Aufführungen: Der legendären amerikanischen Erstaufführung von Arnold Schönbergs Gurre-Liedern am 9.
April 1932 in Philadelphia bei Leopold Stokowskis Leitung. Und der denkwürdigen Met-Walküre vom 2. Februar 1935 unter Artur Bodanzky mit dem folgenreichen New Yorker Debüt Kirsten Flagstads
als Sieglinde. Beide Mitschnitte bieten zeit- und technikbedingt nur akustische Annäherungen, sind zudem von höchst unterschiedlichem Klangcharakter. Dennoch ist ihre historische Bedeutung nicht hoch
genug einzuschätzen.
In den Gurre-Liedern tritt uns Althouse mit "gesetzterem", aber auch heller gefärbtem Timbre, zugleich
deutlich geringerer Spontaneität (positiv gesagt: zugunsten von Sorgsamkeit) der gesanglichen Linie vor Ohren. Der Vortrag wirkt tastender, vor-sichtiger. Zur Souveränität der frühen
Boris-Aufnahme besteht einiger Abstand.
Man mag das darauf zurückführen, dass die Boris-Szene gleich nach der Auffüh-rungs-Serie der Met produziert
wurde, den Tenor also ganz "in der Partie" stehend dokumentierte. Die Gurre-Lieder hingegen erscheinen für die Aufführung einstudiert; wir hören den Interpretationsversuch eines dem Sänger
offenkundig noch fremden Stücks. Doch beeindrucken der inzwischen metallischer gewordene Ton, die unver-ändert flexible Phrasierung, die ein- wandfreie Registerverblendung: Auch bei großen
Intervallen und Dynamik-abstufungen hat Althouse keine Intonations- oder Phona-tionsprobleme.
Dokumente der
Meisterschaft
Überwältigend sodann der Siegmund von 1935 – leider ist nur der 1. Aufzug
veröffentlicht. Bei ganz anderer, nunmehr extrem bassarmer, klirrend-präsenter Tonwiedergabe hören wir die gespannt-vitale, geradezu emphatische Interpretation einer Wagner-Partie, die erkennbar voll
"im Besitz" des Sängers ist und in einer Sternstunde mitgeschnitten wurde.
Neben der gestalterisch wie immer etwas indifferenten, aber vokal grandiosen Flagstad bezwingt Althouse mit einer
Wagnerstimme von schlankem, doch ehernem Klang, dramatischer Durchschlagskraft und breiter Ausdrucksskala, souverän in der Tonproduktion über alle Lagen, von vorbildlich deutlicher, dabei stets in
den Klang integrierter Artikulation. Das imponiert um so mehr, als Dirigent Artur Bodanzky
ein geradezu rasant-treibendes Tempo vorlegt – Althouse hat keine Probleme mit extrem verkürzten Noten, Bindungen, Sprüngen und akzentuiert dabei in jedem Takt klar, gestaltet mit Genauigkeit
und Emphase. Ein junger, ja stürmischer Held, ohne die bronzene Färbung, freilich auch ohne das schmerzlich-tragische Pathos Melchiors. Aber mit einer Fülle erfühlter Gestaltungsnuancen,
bewegendem Aus-druck und zwar kürzeren, aber nicht weniger ausdrucksstarken Wälse-Rufen und Top-Noten. Eigentlich eine Siegfried-Stimme.
Dieser Eindruck bestätigt in einem Rarissimum – dem von Störungsgeräuschen
leider sehr beeinträchtigten Fragment aus der Live-Aufzeichnung einer Götterdäm-merung-Aufführung 1936 am Londoner Covent Garden unter dem flamboyanten Dirigat von Fritz Reiner. Neben der
ungewohnt lyrisch-schlanken, makellos gesungenen Brünnhilde der Florence Easton begegnet uns hier ein Ideal-Siegfried. Mit jugendfrischer, dennoch heroischer Klangfarbe, völlig freier, geradezu
lustvoller Stimmproduktion über alle Tonhöhen, sicherem Instinkt für "Timing" auch in den kleinen Noten, dazu schwungvoll-federndem Temperament. Das klingt sehr anders als bei Melchior oder Lorenz,
ist näher bei Svanholm, jedoch flexibler in der Phrasie-rung als der bedeutende Schwede. Ein Siegfried der ersten Reihe – unverständlicher-weise leider nicht in der eigentlich verdienten
Zentralposition auf Tonträgern.
Paul Althouse war ein hochmusikalischer, vokal
erstrangiger, technisch versierter, gestalterisch intelligenter Sänger. Und einer der besten Wagner-Tenöre seiner Epoche.
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KUS