The Met’s German Voice

Der fachüberschreitende Bassbariton Otto Goritz

Wenn es den Fall eines Sängers gegeben hat, dem das Attribut „Universalist“ zustand, dann war es Otto Goritz – Repräsentant „deutscher Schule“ ohne enge Orientierung am Cosima/Kniese-Irrweg des „Bell-Canto“, in reichsdeutschem wie überseeischem Einsatz in der ersten Reihe. Universell war er nicht so sehr als Beherrscher diverser Stile, Techniken, Manieren – vielmehr als einer, der praktisch keine Stimmumfang-Begrenzung kannte, somit nicht auf eine fachgenaue Stimmlage zu fixieren war. Salopp gesagt: Goritz sang alles unterhalb der Tenor-Tessitura. Zu seiner Zeit war er ein Maßstab für „Deutsche Oper“ schlechthin, mit Weltmarkt-Recordings und transatlantischem Ruhm. Doch anders als viele Zeitgenossen kam er nach der Schellack-Ära, von raren Einzeltiteln in Samplers abgesehen, nie mehr repräsentativ auf LP/CD. Ein Name, Kennern ein Begriff – doch ohne akustisches Nachleben.

 

Otto Goritz - *  8.6.1873 Berlin.   11.4.1929 Hamburg

Im „Annus mirabilis“, dem Geburtsjahr von Caruso, Schaljapin, Adams, Butt, Jörn, Kruszelnika, Kirkby-Lunn, Sammarco, Olitzka, Rappold, Nezhdanova, Slezak, Verlet, Witherspoon, Zador und weiteren 20 Sängerstars, kam er zur Welt – geprägt durch ein musikgetränktes Elternhaus. Seine Mutter, die Sängerin Olga Nielitz, bildete schon den Jugendlichen aus. Er begann blutjung als Schauspieler in Bremen und Aachen, erreichte 1895 ein Vorsingen und damit sein Operndebüt am Hoftheater Neustrelitz, in der Basso-Partie des Matteo in Aubers Fra Diavolo. Nach vier Spielzeiten mit Dutzenden Rollendebüts wechselte er 1899 ans Opernhaus Breslau, eine „erste Reichsbühne“, um dann ab 1901 am Opernhaus Hamburg zum Erstrangsänger zu avancieren.  

Bereits arriviert, kam Goritz 1903 als „Bassbariton“, zu Gastspielen an Gustav Mahlers Wiener Hofoper. Im selben Jahr erreichte ihn ein Ruf an die Metropolitan Opera New York. Dort trat er bald spektakulär in Erscheinung: als Klingsor in der von Cosima Wagner bekämpften ersten Aufführung des Parsifal außerhalb Bayreuths – und wurde damit nicht nur weltbekannt, sondern auch, wie seine Starkollegen Ternina, Burgstaller, van Rooy und Blass, für Bayreuth lebenslang zur Unperson.

Goritz blieb für 14 Seasons an der Met – als Paradevertreter und zugleich Universal-Rollenträger im deutschen Fach, mit 619 Auftritten und 29 Partien in 26 Opernwerken, weit mehr als etwa Bohnen, van Rooy oder Schorr in ähnlicher Position.  Sein Rollenspektrum reichte vom Papageno in der Zauberflöte und Malvolio in Alessandro Stradella über Ottokar im Freischütz und Morruccio im Tiefland bis Wolfram im Tannhäuser, Dr. Falke in der Fledermaus und Petruchio in Goetz’ Der Widerspenstigen Zähmung (also als Lirico- und Kavalierbariton), erweiterte sich aufs Charakter- und Heldenfach mit Pizarro, Holländer, Telramund, Kurwenal, Amfortas, Tonio bis Alberich und sogar Wotan, dann auch auf Bassi seriosi und comici wie van Bett, Baculus, Beckmesser, Kezal, Ochs, Zsupán – Aufgaben mit einer Spanne vom tiefen C’ bis zum hohen Gis’’, eine kaum glaubliche Range und Leistung. In die Gesangshistorie ist er aber vorrangig eingetragen als Spielmann in der Uraufführung von Humperdincks Königskinder am 28.10.1910 an der Met neben den Weltstars Geraldine Farrar und Hermann Jadlowker.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte Goritz nahezu sein gesamtes Wirken auf die USA orientiert. 175 Auftritte absolvierte er bei Met Tourneen, Konzerten und Galas. Nach Kriegseintritt der USA 1916 musste er als „feindlicher Ausländer“ in ein Internierungslager, sodann das Land verlassen. Spätere Versuche für ein US-Comeback scheiterten an Kampagnen gegen einen angeblichen Kriegsfeind. Betroffen kehrte er den USA den Rücken und kam nie mehr zurück. Er setzte seine Karriere an deutschen Opernhäusern, vor allem in Hamburg und Berlin, fort – so als Varlaam in der Berliner Erstaufführug des Boris Godunov, dann 1920 als Pizarro im Fidelio beim Festival in der Waldoper Zoppot, dem „Bayreuth des Nordens“, wo er schon 1912 als Kezal und 1914 als Kaspar gefeiert worden war.

Goritz ließ seine Laufbahn nach nahezu 25 Spielzeiten Mitte der 1920er Jahre ausklingen, hatte sich in Hamburg angesiedelt, praktizierte noch als Lehrer ausgewählter Gesangseleven, starb vor dem Ende der ersten deutschen Demokratie. Ein weltoffener Kosmopolit, doch nationalbewusster, vom Kaiserreich geprägter Deutscher, der die amerikanische Demütigung als tief verletzend empfand und wohl gerade deshalb selbst vaterländische Lieder schrieb und in sein Konzertrepertoire aufnahm. Er zählt zu den repräsentativen „typisch deutschen“ – ja was denn: Baritonen und Bässen, Zwischenfachsängern, Lyrikern und Hochdramatischen nahezu aller „tiefer“ Gesangsbereiche, war insofern gerade wegen seiner Unbegrenztheit auf eigene Weise Solitär.
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Seine ersten Tondokumente datieren aus 1906 für Odeon in Berlin, weitere Einzelaufnahmen von 1911 bei Columbia/Grammophone in London. Der Großteil seiner Recordings aber entstand 1911-13 in Camden, New Jersey, für Victor, das weltweite US-Label, auf dem die Größen der Met mit Caruso an der Spitze zu hören waren. Er ist vor allem mit seinem deutschen Repertoire dokumentiert – von Figaro und Papageno über Holländer und Alberich bis Nicolais Falstaff, dazu einer Anzahl beliebter, heute kaum mehr bekannter Bieder-Stücke aus dem damaligen Stadttheater-Repertoire und mit Liedern aus deutscher Gesinnungs- und Geselligkeitskultur.


Im Bewusstsein der Breite von Spektrum und Grenzüberschreitungen öffnet man sich den Tondokumenten des Otto Goritz in gespannter Erwartung. Man vernimmt ein leicht körniges, ausdrucksvolles, mehr Charakter- als Heldenorgan, etwa dem Typus des voluminös, doch klar und nicht zu „klotzig“ tönenden dramatischen Baritons, von Art und Gewicht (nicht unbedingt Timbre-Ähnlichkeit) wie etwa Herrmann, Reinmar, Kronenberg, Rothmüller bis zu Nimsgern. Also kein unverwechselbares Timbre wie von Schorr, Bockelmann, Hotter, Schöffler, London, Uhde. Die ein wenig schiefergraue Färbung bleibt nahezu unverändert, gleich ob der Sänger Papageno, Wolfram, Holländer oder Alberich intoniert. Selbst der bassgewaltig bestimmte Nicolai-Falstaff bleibt charakterbaritonal geprägt. Man glaubt zunächst, einen Sänger des immergleichen Fachspektrums zu erleben.

Doch die sängerischen, zugleich immer auch rhetorischen Darstellungen bewältigen bei gleichem Stimmcharakter dennoch eine Vielfalt an Profilen, Charakteren, Identitäten. Die Ausdrucksmittel verweisen zwar einerseits auf die sog. deutsche Schule, bringen also keine strahlend-vibranten Spitzentöne und keine ausladend-schwingenden Tiefen – sind aber weitgehend frei von dumpfer Deckelung und wabernden Wacklern oder Tremoli. Der Sänger ist der klassischen Singekunst verpflichtet. Das unterscheidet ihn von Dutzenden deutscher Zeitgenossen. Goritz intoniert sauber, verfügt über strömendes Legato, bettet den Ton durchwegs in den Klangstrom, verwendet eine Fülle von Farb- und Dynamik-Nuancen, die den Klang beleben, variieren und immer „interessant“ halten. In einigen Stücken offeriert er eine fabelhaft platzierte Höhenlage, so in den Spielmann-Gesängen oder dem Weserlied, und eine schlank geführte, doch sonore Tiefe, so im Jägerlied aus dem Nachtlager. In nur wenigen Stücken dämpft spürbar die unvollkommene Aufnahmetechnik eine volle Entfaltung von Dämonie und Schallkraft (so bei den sonst mustergültig phrasierten Holländer-Ausschnitten). Von markanter Rhetorik mit Höhenstrahl Peters Erzählung aus Hänsel und Gretel. Phantastisch in der dramatischen Ausformung die Alberich+Mime-Episode aus Siegfried.

Otto Goritz ist in manchem Bezug ein „interessanter Kasus“. Ohne Belastung durch zeittypische Missachtung des Singens als Kunst steht er für eine Epoche. Es wurde Zeit für seine Wiederentdeckung.

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Zur Egänzung ein Goritz-Zeitgenosse – der Bariton

Alfred Kase

 * 28. Oktober 1877 in Stettin / † 13. Januar 1945 in Stadtroda (Thüringen)

Dieser Sänger gehörte zur gleichen Zeit wie Goritz zu den respektierten Baritonen des Kaiserreichs. Seine Laufbahn begann 1902 und endete etwa 1928. Er war ein Lirico und sog. „Kavalierbariton“. Seine zentralen Partien waren Figaro, Don Giovanni, Agamemnon, Don Fernando, Wolfram, Heiling, Tell, Belcore, Rigoletto, Marcello, Sharpless, Spielmann, die Lortzing-Baritone. Doch er baute sei Repertoire kontinuierlich zum Heldenbariton aus, sang Amfortas und Hans Sachs, R. Strauss’ Orest und Jochanaan, Pfitzners Dietrich, zuletzt auch Basspartien wie Wagners Veit Pogner.

Kase kam nach Studien in München über die Hoftheater Kassel und Hannover ans Opernhaus Leipzig, wo er viele Jahre Ensemblemitglied war, gastierte an führenden Opernbühnen, so 1910 in Berlin neben Caruso und Hempel in L’Elisir d’amore, auch an den großen Häusern in Wien, Dresden, Basel und in Italien. Seine tönende Hinterlassenschaft umfasst kaum zwei Dutzend Titel, darunter Doubletten, die ein unvollkommenes Hörbild ergeben.

Kases Bariton hatte Substanz, Fülle und Farbe. Die Tondokumente zeigen Ausdruckskraft mit einem Hauch von Pathos, sind insofern um eine Nuance wärmer akzentuiert als „bassigere“ Bariton-Stars seiner Epoche wie Bachmann, Hoffmann, Goritz. Die Höhenlage ist wie bei vielen Fach- und Zeit-Kollegen wieder typisch "deutsche Schule", also eher gedeckt, manchmal ein wenig „nölig“ und damit um mögliche strahlende Vibranz gebracht. Doch Legato und füllige bis kernige Tongebung vermitteln charaktervollen Klang.

Kase war auch ein angesehener lyrischer Dichter. Seine Gedichte erschienen in Einzeleditionen und  Sammlungen seit 1914, neuerlich in Anthologien.


                                                                                                          KUS
 

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© Klaus Ulrich Spiegel