Il dolce suono mi colpì di sua voce!
Donizetti-Cammarano: LUCIA DI LAMMERMOOR / atto 3, scena 2
 

Hausgott der Wiener
Alfred Piccaver: Primat für Wohllaut

Mit Enrico Caruso begann die weltweite Etablierung des Mediums Schellack-Schallplatte. Umgekehrt wird dieser Tonträger weithin als Basis für interkontinentale Vermarktung des Kultobjekts Startenor gewertet: Schuf die Schallplatte Carusos Weltruhm - oder Caruso
den Welterfolg der Schallplatte? Beides dürfte zutreffen, mit auch nach 100 Jahren ungebrochener Wirkung.


Mit Carusos Einordnung als früher „moderner Sänger“ begann auch die Loslösung der Urteilskriterien für klassische Gesangskunst im Verismo vom zuvor gültigen Wertungsmaß-stab Canto fiorito im Belcanto. Der Appeal einer „phonogenen“ Tenorstimme mit Höhen-glanz und Sinnenreiz wurde zum bestimmenden akustischen Genussmittel, das sich als eigenes Phänomen vor die Funktion des Singens als Interpretationsmittel schob. In dem Jahrzehnt nach Carusos Tod († 1921) wurden mit dem Wechsel des akustischen zum elektrischen Tonaufnahme-Verfahren bei etwa gleichzeitiger Geburt des Tonfilms attraktive Tenorstimmen zum Medium der Massensuggestion - dies unabhängig vom musikalischen Genre: Konzert & Kunstlied, Oper, Operette, Oratorium, dann Filmschlager und Radio-Hits. Am Absatzmarkt zählten die „schönen Stimmen“ - vor allem jene mit der Attraktivität gleißender oder strahlender Höhenvibranz.

Viele „neue Carusos“
Caruso, der Name wurde zum Synonym für eine Kategorie, ähnlich wie „Maestro“ für Dirigenten oder „Picasso“ für informelle Kunstmalerei. In der Absatzwerbung für Tonauf-nahmen prominenter oder als sensationell ausgelobter neuer Tenöre wurde immer wieder, bald notorisch „ein neuer“ oder „der neue“ Caruso annonciert. Das geschah unabhängig
von Charakteristik, Timbre oder Singstil des jeweiligen Stimmbesitzers. Das Spektrum der Tenöre, deren Bekanntheit auch oder sogar vorrangig auf der Verbreitung ihrer Tondoku-mente beruht, belegt es dauerhaft, umfasst Lirici wie Gigli & Schipa, Spinti von Lauri-Volpi
& Martinelli über Lazaro & Fleta bis Bjoerling, Tucker, Corelli. Domingo und Pavarotti sowieso. Sogar der heute kaum mehr erinnerte Tenor der 1950er Luigi Infantino wurde als „ein neuer Caruso“ angesagt. Kaum einer der so Geförderten, oft eher Belasteten hatte wirklich Nähe zu dem großen Neapolitaner.


Aufgrund von zumindest Details seiner vokalen Ausstattung wurde eine Zuordnung als Caruso-Nachfolger auch dem Angloamerikaner Alfred Piccaver zuteil, der zwar unter die wichtigen Tenöre des 20. Jahrhunderts gereiht, doch eher als eine Art Exot, Individuato, Isolato angesehen wird. Sein natürliches Stimm-Material stand dem Carusos qualitativ nicht direkt fern, bestätigt aber in Faktur und Timbre kaum Ähnlichkeiten. Sein früh dokumen-tiertes Singen zeigt in Atemführung, Intonation, Phrasierung freilich eine bewusste Orien-tierung an Carusos ersten Recordings von Milano 1904 ff. Doch als Gesamt-Typus war er ein recht anderer Sänger - vor allem stilistisch, in vokaler Entfaltung und Tonbildung. Sein Platz
in der dokumentierten Gesangsgeschichte ist vielleicht gerade deshalb von Relevanz und Dauer, weil er eben keine unmittelbare Vergleichsnähe zu den großen Italienern und Spaniern bietet, sondern - im Glanz wie in Begrenzungen - ein eigenständiges Ereignis war. Dies allerdings mit Resonanzen, die denen eines Caruso nahekommen.

Alfred Piccaver, eigentlich Peckover - Tenor
 *
24. Februar 1884 Long Sutton (Lincolnshire) - 23. September 1958 Wien

Seine Eltern - Briten, die ihrerseits von spanischen Vorfahren abstammten - wanderten 1885 mit dem Sohn in die USA aus. Der Vater, Frederic Hermann Peckover, erlangte als Chemiker fachliches Ansehen. Die Familie ließ sich in Albany/New York, nieder.

Alfred studierte zunächst in New York Elektrotechnik, arbeitete dann zeitweise in den Laboratorien von Thomas Alva Edison. Seine Freizeit widmete er ganz der Rezeption und Ausübung von Musik. Sein Vater förderte ihn dabei, eröffnete ihm Verbindungen. 1905 erhielt Alfred ein Stipendium der Metropolitan Opera, die unter dem Stage Director Heinrich Conried in starkem Aufschwung stand. Dieser erkannte das außer-ordentliche Stimmpotential des Eleven. Er vermittelte ihn 1907 zurück nach Europa -
zu dem bedeutenden Impresario Angelo Neumann, bekannt als Wagner-Protektor /-Investor, der in Prag das Neue Deutsche Theater leitete.


Unter Neumanns Ägide wurde die Ausbildung des Tenors zum Bühnenprofi systema-tisiert und komplettiert. Sein Coach war Ludmilla Prohaska, erste Sopranistin, zugleich Studienleiterin in Prag, die später auch Hilde Konetzni ausbildete. Sie betreute Alfreds erste Bühnenauftritte, organisierte für ihn auch weitere Studien am Conservatorio Reale in Milano.

Betreutes Debüt. Fundierte Formung.
Schon am 9. September 1907 hatte der noch lyrische Tenor am Prager Haus sein Bühnendebüt - als Fenton in Otto Nicolais Spieloper Die lustigen Weiber von Windsor.
Von Neumann geführt, bleib er drei Spielzeiten in Prag und reihte nun rasch Partie an Partie, in Werken von Mozart, Flotow, Gounod, Verdi, Wagner, Puccini. Als Abend-partner in Rigoletto und La Traviata begegnete er dem berühmten Belcantisten Mattia Battistini, als „La Gloria d’Italia“ der wohl höchstverehrte Italo-Bariton dieser Zeit.


Der große Sänger zeigte sich beeindruckt vom Talent des jungen Tenors, der seinen Namen inzwischen auf Piccaver (Betonung auf der ersten Silbe) mediterranisiert hatte. Battistini empfahl ihn nach Wien. Die Wiener Hofoper, in ihrem Spielniveau und Ensemblerang noch von Gustav Mahlers Wirkungen geprägt, lud ihn zu Gastauftritten ein, die sich ab 1910 realisierten. Nach Ablauf seines Vertrags in Prag wechselte Piccaver ganz in das Opernmekka der K.u.K.-Monarchie, ließ sich in der Donaumetropole nieder. Er blieb dort 1912-1931, dann nochmals 1933-1937 als Erstfachsänger unter Vertrag.

Bald wurde er zum großen Star des Hauses und zum Favoriten des Wiener Publikums. Er sah sich von einem besonders opernverrückten Besucherstamm förmlich heißgeliebt. Und das, obwohl er der Wiener Spitzensänger mit den meisten Abend-Absagen war, was als Indiz für besondere Sensibilität gewertet wurde (vielleicht aber auch einer speziellen Hypochondrie entsprang?), jedenfalls bis heute den Erinnerungsschatz unter Wiener Opernfans belebt. Diese geradezu emphatische Verehrung band ihn auch mental so sehr an das Wiener Haus, dass er mehrere Vertragsangebote der Metropolitan Opera New York ausschlug.

Publikumsliebling und Weltstar
Mit hochbezahlten Abendgastspielen trat Piccaver hingegen gern an Weltbühnen auf.
So zwischen 1923 und 1925 an der
Chicago Lyric Opera und 1925 am Royal Opera House Covent Garden in London. 1931 kam es wegen anhaltender Streitigkeiten über die Höhe seiner Gagen zunächst zu einem Ende seines Wiener Vertrags. Während einer zweijährigen Vertragspause gastierte der inzwischen zum Lirico Spinto gereifte Star-tenor an europäischen Spitzenbühnen - in Berlin, Dresden, München, Stockholm, Budapest, Paris. Bei den Salzburger Festspielen erschien er als Don Ottavio in Mozarts Don Giovanni, dann als Florestan in Beethovens Fidelio. Ab Jahresbeginn 1933 war er wieder Mitglied der nunmehrigen Wiener Staatsoper; er blieb es bis 1. September 1937.

In den 25 Jahren seiner Mitgliedschaft im Wiener Opernensemble war Alfred Piccaver
in einem Rollenrepertoire von - für einen Spitzenstar - beachtlichem Ausmaß zu erleben. Es reichte von Lirico- und sogar Tenore di grazia-Partien über das breite und variante Feld des Lirico Spinto (= Jugendlicher Heldentenor) bis zu Drama-Gestalten: Mozarts Belmonte, Tamino, Don Ottavio. Beethovens Florestan. Donizettis Nemorino & Edgardo. Flotows Lyonel. Meyerbeers Vasco da Gama. Verdis Duca, Alfredo, Riccardo, Alvaro, Radames. Wagners Lohengrin & Walther. Gounods Faust & Roméo. Massenets Des Grieux & Werther. Ponchiellis Enzo. Bizets Don José. Offenbachs Hoffmann. Mascagnis Turiddu. Leoncavallos Canio. Puccinis Des Grieux, Rodolfo, Cavaradossi, Pinkerton, Luigi, Dick Johnson. Giordanos Andrea Chénier. Richard Strauss‘ Bacchus. Weinbergers Babinsky und Johann Strauß‘ Barinkay.


Julius Korngold, der damalige Wiener Kritikerpapst (Vater des Komponisten Erich Wolfgang K.) brachte als erster den Vergleich Piccavers mit Enrico Caruso auf. Er bezog ihn aber darauf, dass der Wiener Benamato mit klassischer italienischer Schulung singe und dies von dem Tenore assoluto gelernt habe. Das Prager Tagblatt konstatierte eine „… ungewöhnliche Schönheit der Stimme, mühelose Leichtigkeit der Tonproduktion, Farben-gleichheit in allen Lagen - aber auch ein begrenztes Tonvolumen bei heroischen Ausbrüchen und eine nicht wirklich klare Diktion“. Probleme machten „Grenzen der Höhe bei B und H.
Er muss nicht nur sein Repertoire beträchtlich erweitern, sondern auch seine dramatische Darstellung über das Maß des Konventionellen steigern. Doch wer tut das noch, wenn er schon berühmt ist?“


Primo Uomo solitario
Allen Zeitberichten zufolge begeisterte vor allem die pure Schönheit der Piccaver-Stimme, die sich noch in seinen Tondokumenten erfahren lässt - den frühen Acoustics vor allem, überwältigend in den Odeons von 1912-1914, mit Phrasen, die aus reinem Samt gemacht scheinen, schwingende Fülle und farbenreiche Klangpracht verströmen. Gleich, was Piccaver sang, der Klang ist stets primär lyrisch bestimmt, auch bei dynami-schen Steigerungen gebändigt, weich und rund, die Führung auf souverän dosiertem Atemstrom nobel, ausgeglichen, beherrscht, ohne jede Hektik.

Wie von Wiener Operngängern oft bezeugt, erschien die Piccaver-Stimme im offenen Raum „von purem Gold“. In den Tonaufzeichnungen wird tatsächlich eine rubinrot-goldschimmernde Färbung hörbar - allerdings nicht metallisch-vibrant (wie in Carusos Organ), sondern von üppigem Samt, zugleich ein wenig nasal, mit einem leicht kehlig-körnigen Kern. Die Register sind gut verblendet, die Gesangslinie stets integriert, das Tongepräge in allen Lagen vorbildhaft gemischt, die Artikulation hingegen oft nach-lässig verwischt. Die Spitzentöne werden nicht schallend geöffnet, sind eher schlank gefasst und aus der Linie entwickelt, also weniger „entladen“ als vokaltechnisch erzeugt.

Diese Tenorstimme war ein hochindividuelles Instrument, das mit Musikalität und Stilbewusstsein geführt wurde. Was ihr fehlt, ist flirrende, vibrierende, ausdrucksinten-sive Brillanz. Der Sänger war kein Meister flexibler Figuration oder überrumpelnder Effekte. Er war ein Produzent betörender Klänge, geboren aus fabelhaftem Klanginstinkt und meisterlichem Legato.

Das Live-Erlebnis, das die Wiener Hörer so entzückte, lässt sich vor allem in frühen Aufnahmen vor dem Trichter wiederfinden - so in Roméos Appellation „Ach, gehe auf!“, in des Herzogs Cavatina „Parmi veder le lagrime“, in Don Sebastianos Romanze „Deserto in terra“, in Hoffmanns Arioso „Ha, wie in meiner Seele“ oder Wilhelms Ariette „Wie ihre Unschuld“. Hier kann man lehrbuchgerechte Legatokunst in erfüllter, ja flammender Evokation erfahren - und zugleich evidente Kopien von Meister-momenten berühmter Caruso-Stücke ausmachen.

Solche Zeugnisse bedeutender Vokalkunst füllen nicht die komplette Diskographie
des Alfred Piccaver. Ab etwa 1924 verlieren feine Faktur und delikater Ton an Selbst-verständlichkeit. Dafür gewinnt der Sänger an Ausdruckfülle dazu, erweist sich vor allem als beinahe idealer Vermittler der „Sinnenkitzler“ des lyrischen Verismo von Puccini, Mascagni, Leoncavallo, Giordano. Puccini hatte ihn als
„meinen idealen Rodolfo“ bezeichnet. In den späteren elektrisch aufgenommenen Stücken hat die Stimme weiter an Glanz und Wohllaut verloren, ihre Abnutzung erweist sich an der Tendenz, den Klang breiter und dunkler = „auf Fülle hin“ zu formen, was aber die ohnehin kurze Höhe schwingungsarm und mitunter mühevoll klingen lässt. Spätere Aufnahmen dramatischer Stücke, so von Florestan, Lohengrin, Chénier machen wieder Eindruck durch Tonkonzentration, Empfindung, Stil und ungeminderte Phrasierungskunst.

Memento: Eine bleibende Legende
Die politische Situation in Österreich und Deutschland veranlasste Piccaver 1937 zur Emigration nach Großbritannien. Neben Auftritten im Konzertsaal & Rundfunkstudio wurde er dort auch als Pädagoge tätig. Sein Ruhm blieb während des Weltkriegs unbeeinträchtigt. Seine Schallplatten galten weltweit als Hörstücke einer „Golden Voice“. 1955 kehrte er (wie seine große Kollegin Lotte Lehmann) als Ehrengast der Republik Österreich zur Eröffnungs-Festwoche des wieder aufgebauten Opernhauses am Ring zurück, erfuhr sogleich die Zuwendung der Wiener Gesellschaft. Er ließ sich erneut in Wien nieder, verbrachte dort seine letzten Jahre. Sein Tod war ein kultureller Trauerfall. Tout Vienne schritt hinter seinem Sarg. Er erhielt ein Ehren-Urnengrab in
den Arkaden des Friedhofs von Simmering.


Alfred Piccavers Tondokumente waren durch alle Jahrzehnte seit der Kaiserzeit Teil
des ewigen Vorrats großer Vokalkunst. Sie reichen von den ersten Acoustics ab 1912 für Odeon, dann für Vox, Grammophon, Vocalion, Decca  bis in die Electric Era. Sein Platz in der Reihe der Tenöre mit Jahrhundertrang ist gesichert - als eine Erscheinung ohne Vorbild und Nachfolge.


                                                                                                               KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel