Reichsdeutscher Protagonist

Der Bayreuth-repräsentative Tenor Wilhelm Grüning

Richard Wagner hatte unter Sängern oft widersprüchliche Vorlieben. Aus seinen Schriften lässt sich durchaus schließen, was unter der Hügel-Herrschaft der Witwe Cosima und ihres Chormeisters Kniese für dramatischen Bühnengesang als verbindlich kodifiziert wurde: sprachbetonte, konsonantenlastige, ausdrucksintensive Textumsetzung, zulasten strömender Legatolinie und integrierten Klangstroms. Tondokumente dieser Ära vermitteln viel ausdrucksvolle Inhaltsvermittlung, näher beim dramatisch-pathetischen Sprechdrama als beim klassischen Schöngesang. Das aber steht konträr zu anderen Äußerungen Wagners – so wenn er sich für die Belcanto-Kunst der Adelina Patti begeisterte, den jungen Mattia Battistini zur Idealverkörperung des Wolfram im Tannhäuser erklärte, in Meistersinger,  Walküre, Götterdämmerung Fiorituren, sogar Triller vorsah. Seit den 1880ern galt in Bayreuth solches Singen als „welscher Tand“. Der Brunnen der Vergangenheit liefert dazu wichtiges, gelegentlich beeindruckendes Hörmaterial, zurück bis in frühe Festspielsommer inkl. der RING-Besetzungen seit 1896. Ungeachtet der bis zu seinen Acoustic Recordings verflossenen Zeit, steht Wilhem Grüning, der zweite Bayreuther Siegfried, beispielhaft dafür.
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Wilhelm Grüning - * 2.11.1858 Berlin. † 2.12.1942 Berlin.

Der Sohn eines Juweliers wurde in kulturbeflissenem Umfeld sozialisiert. Seinem Drang zur Musik stand kein familiärer Widerstand entgegen. Mit einer offenbar klangvollen lyrischen Tenorstimme begabt, konnte er das legendäre Stern’sche Konservatorium besuchen, erlangte dort umfassende musikalische Formung bis zur Bühnenreife. Als 23jähriger Sänger debütierte er am Opernhaus Danzig, blieb dort kaum eine Spielzeit, wechselte in rascher Folge nach Posen, Chemnitz, Magdeburg, Düsseldorf. 1885, kaum mehr als vier Jahre nach seinem Debüt, kam er ans Deutsche Theater Rotterdam. Bis dahin hatte er Partien des Di-grazia- und Lirico-Genres gesungen: Mozarts Belmonte, Ferrando, Tamino, Boildieus George Brown, Aubers Frau Diavolo, Nicolais Fenton, Lortzings Chateauneuf, Donizettis Nemorino. Inzwischen hatte seine Stimmausstattung an Gewicht und Stamina gewonnen. Er war auf dem Weg zum Tenore Drammatico, begann Verdis  Spinto-Partien und Wagners jugendliche Helden zu singen.  

1888 ging Grüning ans Hoftheater Hannover, von dort 1895 für drei Spielzeiten ans Hamburger Opernhaus. Er sang nun dramatische und heroische Partien für Heldentenor, war seit 1889 bereits ein führender Sänger des Cosima/Kniese-Bayreuth – als Parsifal (1889, 1891, 1892, 1897), Tannhäuser (1892 und 1894), Siegmund (1897), schließlich neben Alois Burgstaller Siegfried (1896-97).


Der arrivierte „Heldentenor“ war also bereits eine europäische Größe seines Fachs, als ihn 1898 die Königliche Hofoper Berlin fest verpflichtete. Er blieb bis 1911 an diesem berühmten Haus, trat danach noch in Konzerten und bei Einzelgastspielen auf. Während seiner Berliner Zeit war er häufiger Gast der Hofopern von Dresden, München, Wiesbaden, am Nationaltheater Mannheim, den Opernhäusern von Breslau, Köln, Bremen, häufig auch in Amsterdam, kam als Gast 1895/96 ans Royal Opera House Covent Garden London, dann bei Damroschs Opera Company zu Auftritten in den USA. Er ist jedoch historisiert als typisch deutscher Tenor in den Musikzentren des deutschen Sprachraums – und als Repräsentant der Kultur des deutschen Kaiserreichs zu dessen Blüte.


Die Bedeutung Grünings zeigt sich auch in den Opern-Annalen seiner Ära, allein in Berlin: Er war 1899 der Richard in der posthumen Uraufführung von Albert Lortzings Vormärz-Oper Regina, wirkte im selben Jahr in der Uraufführung der Oper Briseĭs von Chabrier mit, 1900 in der Weltpremiere von Eugen d’Alberts Kain, 1901 in der Deutschen Erstaufführung von Saint-Saëns’ Samson und Dalila, 1902 in der Reprise von Max von Schillings’ Der Pfeifertag, schließlich 1904 (neben Emmy Destinn, Geraldine Farrar, Baptist Hoffman, Paul Knüpfer) in der Uraufführung von Ruggiero Leoncavallos Der Roland von Berlin

Grünings Repertoire blieb ungeachtet seiner Erfolge als Heldentenor fachübergreifend variant. Es reichte von Flotows Lyonel über Mozart-Partien (zu den genannten noch Don Ottavio) und Verdis Drammatici wie Carlos und Radames bis zu Siegfried Wagners Hans Kraft im Bärenhäuter und von R.Strauss Herodes und Aegysth. Besondere Erfolge hatte er mit den Titelpartien in Wagners Rienzi und Meyerbeers Robert der Teufel. Insofern muss er in seiner Glanzeit mehr als eine Erstbesetzung in landläufigen deutschen Spielplänen gewesen sein, nämlich auch ein Träger exponierter Tenorprotagonisten in Ausnahmeproduktionen. Angesehen war der Sänger auch in Konzert und Oratorium – in Händel- und Haydn-Chorwerken, Beethovens 9. Sinfonie, vielseitigen Liedprogrammen. Zu Weltkriegsbeginn zog er sich aus dem Musikleben zurück und wirkte noch mehr als ein Vierteljahrhundert als Gesangspädagoge.

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Grünings tönende Hinterlassenschaft wird dieser glanzvollen Laufbahn von mehr als drei Jahrzehnten in breitestem Repertoire mit extremen Aufgaben und internationaler Resonanz, vor allem als Wagner-Interpret mit Bedeutung im frühen Bayreuth, leider nicht annähernd gerecht. Ein Großteil gerade seiner ruhmbekränzten Partien fehlen komplett, andere sind durch gerade einen Ausschnitt berücksichtigt – doch auch diese Hörbeispiele können kaum dem tatsächlichen Rang des Sängers belegen. Wie bei so vielen Sängerstars aller Zeitphasen wirkt das Angebot zufällig. Eine wenigstens repräsentative Auswahl kam nicht zustande. Neben Taminos Bildnisarie und einem Fragment aus dem großen Auftritt des Max im Freischütz stehen nur Wagner – und dazu eine Serie von Stücken aus dem Roland von Berlin, aufgenommen im Premierenjahr 1904 mit dem UA-Ensemble – für ein akustisches Nachleben zur Verfügung, dazu eine Handvoll eher beiläufig wirkender, stimmlich schon nicht mehr frischer Liedaufnahmen des 54jährigen aus 1912.

Den Mittelpunkt der schmalen Diskographie bilden Wagner-Aufnahmen. Im Vergleich des dokumentierten Konkurrenzangebots bis heute schneiden sie nicht als Beispiele für Spitzenrang ab – sind sehr heterogen ausgefallen. Am stärksten beeindrucken die Ausschnitte aus Lohengrin. In dieser Partie kann der Tenor auch heute noch überzeugen, sie scheint ganz auf seinen spezifischen Stimmklang zugeschnitten: Ein substanzvoll-gewichtiges, doch flexibel geführtes, im Spintobereich angesiedeltes Organ mit weniger sonorer Tiefe als effizienter Höhe, metallisch in Faktur und Färbung, in den Lohengrin-Soli schön fließend und mit dezentem Vibrato schwingend. Hier wird die Höhenlage durchwegs mit sauberem Passagio attackiert und – im Kontrast zum Bayreuther „Stil“ – auch mit mustergültiger Mischung von Kopf- und Brustresonanz gebildet. Man bekommt einen Eindruck davon, was ein Tenor zwischen Lirico und Drammatico mit dieser Partie anfangen kann, auch wenn er kein exotisch reizvolles Timbre – wie etwa die Franzosen oder Jadlowker oder Völker oder Kónya – einsetzen kann.

Auf ähnlichem Niveau bewegen sich die Rienzi-Ausschnitte. Die eher helle Spinto-Stimme hat Gewicht und Kraft, wird auch mit gebändigter Emphase geführt. Ein Belcantist ist Grüning nicht – doch sein gelegentlich flackernder, kaum methodisch, eher zufallsabhängig eingesetzter Atem ist hier, so im Ausklang des Rienzi-Gebets, von eindrucksvoller Stetigkeit, ja Melisma-Souveränität. Schwächer die Stücke von 1905 (mit schepperndem Klavier) - das wirkt allzu beiläufig, stellenweise gepresst, wie im Vorbeigehen hingehauen, teilweise sogar wacklig in Tongebung und Führung. Schade besonders um Siegfrieds Schmelzlied – so kann der Sänger 10 Jahre zuvor in Bayreuth nicht gesungen und geklungen haben. Schön dagegen die „Winterstürme“ drei Jahre später – da hören wir gutes Legato und strömende Tonbildung. Durch Tontechnik ein wenig beeinträchtigt sind die Ausschnitte aus Leoncavallos Roland, bei denen auch Geraldine Farrar, eine der größten Lirica-Soprane ihrer Epoche, klanglich reduziert wirkt. Grünings Material entfaltet sich da nicht völlig frei, die Höhe klingt mitunter gefesselt, die Aufnahmen insgesamt klanglich nicht optimal – und natürlich trumpft keiner der Beteiligten mit Italianità auf; wir hören eine kaum „veristische“, mehr kaiserdeutsche Oper (die in der italienischen Version später sehr anders gewirkt haben soll).

Über Grünings „späte“ Liedaufnahmen lässt sich – auch im Lichte der Interpretations-Wandlungen seither – sicher trefflich diskutieren. Vom etwaig zeittypischem Pathos-Schwulst hört man nichts, das spricht für ernste Künstlerschaft. Doch die Stimme hat, bei teilweise verbesserter Tonwiedergabe, doch schon Blessuren, in Wagners Der Engel zu wenig Tiefensubstanz (dafür wieder schöne, mischtonige Höhe), wirkt insgesamt schon abgenutzt, ist flacher, strähniger geworden. Eine Karriere mit solchem Rollenrepertoire und mancher Fachüberschreitung, wie Grüning es bewältigte, hinterläßt eben Spuren.  

                                                                                                          KUS

 

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© Klaus Ulrich Spiegel