Hector Berlioz (1803 – 1869)

Die Trojaner

 

Les Troyens

Große tragische Oper nach Vergils Aeneis
Libretto vom Komponisten
Uraufführung der vollständigen Fassung:
5. und 6.12.1890 Hoftheater Karlsruhe

Radioproduktion einer stark gekürzten
deutschen Funkfassung des Süddeutschen Rundfunks
r. 1961 Stuttgart

Leitung: Hans Müller-Kray

 

Aeneas, Trojanischer Held Josef Traxel
Kassandra, Tochter des Priamos, Priesterin Hilde Rössl-Majdan
Dido, Königin von Karthago Hanni Mack-Kosack
Priamus, König von Troja August Messthaler
Hekuba, Königin von Troja Erika Winkler
Hektors Schatten Otto von Rohr
Askanios, Sohn des Aeneas Katharina Selbe
Narbal, Didos Minister Peter Schlender

 

Südfunk-Chor Stuttgart
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart

 


 

Das Geschehen in einer der Radiofassung
angemessenen Kompression:

 

Ort und Zeit: Troja und Karthago zur Zeit des Trojanischen Krieges

Nach zehnjähriger Belagerung Trojas verlegen sich die griechischen Heere auf die List des Trojanischen Pferdes. Gegen eindringlich-verzweifelte Warnungen Kassandras geben die Bürger Trojas ihr nach. Die Eroberer töten alle Einwohner Trojas. Nur Aeneas kann sich mit wenigen Gefährten retten. Der Schatten des toten Hektor begleitet ihn. In einem fernen Land, Italien, soll der Trojaner ein neues Geschlecht begründen. Als Aeneas nach Karthago kommt, trifft er auf die einsame Königin Dido. Beide werden ein Paar. Der Gott Merkur mahnt Aeneas, seinen Auftrag zu erfüllen. Aeneas zieht fort. Die verlassene Dido verbrennt auf einem Scheiterhaufen alle Andenken an ihn, zuletzt auch sich selbst. Sterbend sieht sie in einer Vision das vom zukünftigen Rom zerstörte Karthago voraus.

 

 


Zeugnis deutscher Nachkriegs-Funkhistorie:
Der Torso eines Epoche-Werks

 

Die originale Fassung von Hector Berlioz’ Les Troyens ist ein zweiteiliges Musikdrama von epischer Breite und dramatischer Wucht, mit großorchestraler Besetzung und anspruchsvollen Gesangspartien in einer Rahmenstruktur flächiger Handlungstableaus mit ausgedehnten Chören und Ballettszenen. Der Konzeptansatz zielte auf nicht weniger als eine Art französisches Pendant zu Wagners Ring. Deshalb kam es bei Lebzeiten des Dichterkomponisten auch nicht zu einer Gesamtaufführung. Die abendfüllenden Werkteile schienen überhaupt nur an zwei Terminen aufführbar. Die kompilierte vollständige Endfassung für einen Aufführungsabend dauert ohne Pausenzeit an die fünf Stunden, ist also in der heutigen Theaterpraxis nicht völlig ungekürzt aufführbar. Selbst in CD-Gesamtaufnahmen sind Reprise-Kürzungen oder dezente Komprimierungen nachweisbar.

 

Das bedeutende Werk ist kein Spielplan-Renner. Es bietet so gut wie keine medial vermarktbaren Ohrwürmer. Die Komposition nimmt Ausmaße von Bruckner- und Mahler-Sinfonien vorweg, in den Dimensionen wie in den instrumentarisch-dramatischen Mitteln. Auf den Spielplänen großer Opernhäuser sind Die Trojaner, heute durchwegs in der Originalsprache, seltene Gäste; auf kleinen und Mittelbühnen fehlen sie völlig. Auch die Verbreitung auf Tonträgern ist begrenzt: Außer der maßstabsetzenden Studio-Nachproduktion zu einer glanzvollen Aufführungsserie am Londoner Royal Opera House Covent Garden unter Sir Colin Davis mit Vickers, Lindholm, Veasey, die der Kenntnisnahme und Verbreitung des Werks enorm förderlich war, sind nur zwei weitere Studioaufnahmen (unter Dutoit und nochmals Davis) greifbar, dazu eine gekürzte BBC-Version unter Sir Thomas Beecham und torsohafte Live-Mitschnitte unter Lawrence, Prệtre und auf italienisch aus der Scala di Milano unter Kubelik.

 

Dass es so etwas gab wie die Befassung einer deutschen Radiostation mit dem Werk am Beginn der 1960er Jahre, muss als Faktum zunächst verblüffen. Die nähere Rezeption des Tondokuments ist dann allerdings ernüchternd. Es handelte sich um nicht mehr als einen Versuch, wenn nicht eine Zurichtung zum ersten Kennenlernen. Die beiden Werkteile sind so massiv gekürzt, dass sie kaum mehr als einen Eindruck vermitteln können — noch minimiert durch eine eher Gelegenheitsbesetzung mit kaum facherfahrenen deutschen Sängern aus Oratorium, Regional-Ensembles und Funkarbeit. Die übliche Werkdauer von zwischen 240 und 270 Minuten ist auf ca. 95 Minuten komprimiert — wenig mehr als ein Opernquerschnitt, in dem maßgebliche Partien, etwa Chorebus, ganz fehlen. Ein Handlungsverlauf analog zum Opernführer ist darum nur teilweise verfolgbar. Wir haben uns dennoch entschlossen, den Inhalt knapp, aber komplett darzubieten, damit dem Hörer die Strukturen des Dramas ersichtlich sind.

 

Als (neben anderen Rundfunkversionen von Opernwerken im HAfG-Katalog) markante, ob der Rarität des Objekts auch faszinierende Information zur Nachkriegs-Funkgeschichte in Deutschland und als Portrait-Ergänzung zu mindestens einem zentralen Sänger ist die Trojaner-Aufnahme des Südfunks 1961 trotz Einschränkungen von Bedeutung, zumindest von Interesse. Hans Müller-Kray, der rührige Südfunk-Orchesterchef der 1950er/60er, liefert zwar kein genuin französischer Romantik entströmendes Musikdrama, auch keine klangsinnlich-überwältigenden Farbvaleurs, doch einen klar strukturierten, weithin transparenten, so effektiven wie effektvollen Werk-Digest, ein wenig Wagner à la Gounod-Fauré-Lalo, dem leider nur die Delikatesse und Clarté der originalen Ton-Sprach-Legierung fehlt.

 

Im Zentrum der Aufnahme — und das ist ein Hauptgrund für die Wiederveröffentlichung der Produktion — steht der universell befähigte, sängerisch überzeugende, tonlich hochindividuelle Tenor Josef Traxel — nach Timbre-Ausstrahlung und Tonbildung kein Vertreter des hier eigentlich geforderten Tenore dramatico. Doch in Phrasierungskunst, Legatolinie, Klanginstinkt und Ausdrucksdynamik eine dominant-profilierte, gelegentlich aufregende Besetzung. Für Kenner und Sammler ist der Auftritt eine weitere Entdeckung im Umfeld der HAfG Traxel-Edition, für Fans unverzichtbar. Gegenüber diesem erstaunlichen Sänger erlangen nur einzelne Mitwirkende annäherndes Niveau, vor allem der solide Universal-Mezzo der Wiener Staatsoper Hilde Rössl-Majdan und die vielbewährte Bass-Autorität Otto von Rohr. Die vor allem in konzertanter und oratorischer Musik erfahrene Hanni Mack-Kosack ist eine solide Vokalistin und Musikerin, aber keine mit sinnlichen Altfarben prunkende Dido-Besetzung, wie sie hier gefordert wäre und mit Veasey, Resnik, Horne, Ludwig bewährt war.

 


 

Hans Müller-Kray (1908 – 1969) war das jüngste von 14 Kindern des Steinkohle-Platzmeisters Karl Müller, der nebenamtlich das Knappenmusikkorps der Zeche Bonifacius in Essen-Kray dirigierte. Müller-Kray lernte noch während seiner Schulzeit das Klavier- und Cellospiel. Er studierte an der Folkwangschule Komposition und Theorie. Sein erstes Engagement erhielt er 1932 am Stadttheater Essen als Korrepetitor, u. a. mit einem Auftritt als Pianist des Balletts Der Grüne Tisch 1933/34. Von 1934 bis 1941 war er Erster Kapellmeister am Theater in Münster (Westfalen), ab Mai 1942 Chefkapellmeister am Reichssender Frankfurt/M. Vom Kriegsende bis 1948 wirkte er als Erster Kapellmeister am Staatstheater Wiesbaden. 1948 wurde er als Leiter der Hauptabteilung Musik und Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart an den Süddeutschen Rundfunk verpflichtet. In dieser Doppelfunktion war er bis zu seinem plötzlichen Tod aktiv.

Der Dirigent widmete sich vor allem Werken der neueren Musik, die während der Zeit der NS-Kulturpolitik in Deutschland verpönt und also bis dahin noch nicht zu hören gewesen waren. Außerdem beschäftigte er sich umfassend mit der Oper. Es entstanden über 30 Radio-Gesamteinspielungen.

Hans Müller-Kray, der 1955 den Namen seines Geburtsortes Essen-Kray annahm, wurde 1961 durch das Land Baden-Württemberg der Professorentitel und der Titel des Generalmusikdirektors verliehen. Im Frühjahr 1969 verstarb er an seinem Arbeitsplatz im Stuttgarter Funkhaus an plötzlichem Herzversagen. Inzwischen sind viele seiner Rundfunkaufnahmen auf CD erhältlich. Einige Einspielungen mit Neuer Musik (u. a. Harald Genzmer) gehören zum Standard-Repertoire. Zu seinem 100. Geburtstag 2008 erschienen weitere Opern-Aufnahmen, z. T. auch private Mitschnitte und echte Raritäten.

 

Josef Traxel (1916 – 1975) war neben Wolfgang Windgassen der prominente Tenor-Protagonist der Württembergischen Staatsoper Stuttgart und neben Anders, Schock, später Wunderlich einer der führenden deutschen Tenöre der 1950er/60er Jahre. Er wurde international bekannt als Merkur in der Uraufführung von Richard Strauss’ Die Liebe der Danae 1952 in Salzburg, dann als Steuermann, Erik, Walter, Seemann, Stolzing, Froh in Bayreuth. EMI-Schallplatten machten ihn als vielseitigen Tenorlyriker und als eine Art Alles-Sänger im deutschen, italienischen, französischen und slawischen Fach, als Oratoriensolist und Liedsänger, sogar als Spinto- und Charaktertenor, berühmt und populär. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn stand er in der ersten Reihe der Tenöre internationaler Geltung — besonders profiliert als Vertreter der klassischen Schule des Legato- und Fiorito-Singens. Sein mattgold-schimmerndes, in allen Lagen perfekt ausgeglichenes, nur unter Druck manchmal etwas mehlig klingendes Organ ist schon im Tongepräge unverwechselbar, zwischen warmem Karamell und hellem Oratorienton variabel. Traxels Repertoire reichte von Bach-Evangelisten über DiGrazia-Kavaliere und Mozartpartien bis zu Spinto-Helden. Seine Tondokumente, unter ihnen Zeugnisse perfekter Gesangskunst, erleben ihre Renaissance in der Josef-Traxel-Edition des HAfG.

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© Klaus Ulrich Spiegel