Königlich-bayerische Hofdramatische

Idol der Münchner Großbürgeroper: Berta Morena

Vorab ein Wort zur technischen Reproduktion von Sängerstimmen in der frühen = „akustischen“ Aufnahme-Ära. Wie der Widerhall eines Instruments, so ist auch der Klang einer Gesangsstimme von den Obertönen*) abhängig. Der Obertonbereich zwischen 2.500 und 3.000 Hertz ist besonders energiereich. Große raumfüllende Sängerstimmen waren deshalb schon seit Beginn der noch primitiven Tonaufzeich-nungstechnik realitätsnah zu erfassen, am besten jene mit ausgeprägtem Tiefen-register (bis hinunter etwa aufs tiefe D des Basso profondo) Der Frequenzbereich
der höheren, besonders der leichteren, schlankeren Frauenstimmen kam in der Reproduktion durch akustische = Trichter-Aufzeichnungen weniger glanzvoll vors Ohr. Erst in den 1920er Jahren war die technische Entwicklung soweit, dass ein Tonumfang vom E (= 164 Hz) bis zum C (= 2088 Hz) vom großen Horn erfasst werden konnte. Zuvor waren mit der Kappung der Obertöne die Timbres und Färbungen hoher Stimmen nivelliert, ja verändert, damit auch ihres harmonischen Reichtums und ihrer Brillanz beraubt. In ihren Tondokumenten klingen sie meist schwingungs- und vibratoarm, entfärbt, steif. Zum Beispiel: Eine „unvergleichlich leuchtende, durchdringend brillante“ Sopranstimme wie die der legendären Nellie Melba wird zwar in all ihrer sängerischen Virtuosität beurteilbar, doch ihr reales Klanggepräge kommt akustisch kaum zur Geltung. Ähnlich der Höreindruck der Aufnahmen ihrer Zeitgenossinnen wie Adams, Sembrich, Beach Yaw, Mason, Eames, Huguet, Galvany, Pacini, Barrientos, Kurz, Hempel …


Größervolumige, jugendlich-dramatische und hochdramatische, natürlich auch
tiefe Frauenstimmen gewinnen demgegenüber, selbst in sehr frühen Aufnahmen. Ihre Rezeption ist ein weit stärkerer, weil mehr Klangfarben und Schwingungen einbeziehender Hörgenuss, auch heute noch. Das trifft auf die Sängerin zu, deren akustisch aufgenommene, leider sehr schmale tönende Hinterlassenschaft diese
CD dokumentiert: BERTA MORENA, Zentralgestalt und Publikumsliebling in der großbürgerlich geprägten Münchner Kulturepoche zur Herrschaftszeit des Prinz-regenten Luitpold und seiner Nachfolger, dann weiter über den Ersten Weltkrieg hinaus.


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Berta Morena (eigentlich Berta Meyer)
* 27.1.1877 Mannheim -- † 7.10.1952 Rottach-Egern.

Ihre künstlerische Bewusstwerdung fällt ins letzte Jahrzehnt des 19. Jahr-
hunderts. Sie wurde als Zeugin der Darbietungen und Wirkungen eines von klassischen Traditionen und aufstiegsbürgerlichen Bedürfnissen geprägten Kulturbetriebs geformt, wie er in ihrer Heimatstadt Mannheim vor allem in den musikalischen Sparten hochentwickelt und milieubestimmend war. Am späteren Nationaltheater = damaligen Hoftheater Mannheim standen die Werke Richard Wagners schon seit den Lebzeiten ihres Schöpfers in hohen Ehren, bildeten einen Groß-Anteil des Repertoires und lieferten den Aufführungen in Bayreuth und weltweit namhaftes Sängerpersonal. Die junge Berta Meyer, aus kunst- und kulturbegeisterter Familie stammend, wurde schon als Heranwachsende Chor- mitglied beim Mannheimer Verein für klassische Kirchenmusik. Dort trat sie erstmals mit regionaler Resonanz auch solistisch auf. Der Mannheimer Hof- kapellmeister Hugo Röhr wurde auf sie aufmerksam. Nach einem Vorsingen
der Choristin auf der Bühne des Hoftheaters übernahm dessen Ehefrau, die Gesangspädagogin Sophie Röhr-Braijnin**), ihrerseits Schülerin von Jahrhun-dertlegenden wie Marchesi und Viardot, deren Ausbildung. Besser hätte es
die junge Berta nicht treffen können.


1896 wurde Kapellmeister Röhr ans Münchener Hoftheater berufen. Um weiter- hin bei ihrer Lehrerin studieren zu können, folgte die angehende Sängerin Meyer dem Ehepaar nach München. Dieser Schritt war entscheidend für ihre Zukunft: Schon ein Jahr später konnte sie dem Münchner Generalintendanten Ernst von Possart vorsingen. Der engagierte sie sogleich fest an sein berühmtes Haus, in dem Wagners Tristan, Meistersinger, Rheingold und Die Walküre uraufgeführt worden waren. Unter dem Künstlernamen Morena, der mit seinem exotischen Flair genau in die kulturelle Szenerie der jugendstil-atmenden Residenzstadt passte, hatte die 22jährige Berta am 15.10.1898 ihr Opernbühnendebüt als Agathe in Webers Freischütz. Sie blieb dem Institut als ständiges Ensemblemitglied bis 1923 treu. Durch regelmäßige Mitwirkung bei den 1901 eingerichteten Münchner Opernfestspielen im Prinzregententheater (die zuerst Wagner-Festspiele in Konkurrenz zu Bayreuth waren) wurde sie rasch international bekannt und als Interpretin jugendlich-dramatischer Partien zu Gastspielen an namhafte Opern-häuser eingeladen – zuerst nach Zürich, Brno, Riga, Hannover, Frankfurt/M., Karlsruhe, Nürnberg, schließlich an die Königliche Hofoper Berlin.

Solitaria dall‘inizio
Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts erreichte die nunmehr berühmte Sängerin die führenden Musikbühnen Europas: das Royal Opera House London, das Gran Leceu Barcelona, die Kongelige Operaen Kopenhagen, die National- oper Budapest, die Koninglijke Opera Amsterdam. Ihr Ruf als Wagner-Heroine der ersten Reihe drang auch nach Übersee. Die Metropolitan Opera New York stand seit 1903 unter der Direktion des Österreichers Heinrich Conried, der Gustav Mahler und Enrico Caruso in den USA herausgebracht und am Heilig- abend 1903 den Sakrileg der ersten Aufführung des Parsifal außerhalb Bayreuths gewagt hatte. Er verpflichtete die Morena für gleich vier Spielzeiten – 1908-1912
– als Protagonistin fürs deutsche Fach. Sie debütierte, nach Berichten triumphal, mit der Leonore in Beethovens Fidelio unter Gustav Mahlers Dirigat. Es folgten Wagners Elisabeth im Tannhäuser und Sieglinde in der Walküre. Dann gab es als Ausflug in die Verismo Opera eine Serie mit der Santuzza in Mascagnis Cavalleria Rusticana. Ihre erste Met-Präsenz krönte die Morena schließlich mit der Brünn- hilde in Wagners Siegfried. Sie hatte sich weltweit auch als Hochdramatische etabliert.


An ihrem Münchner Stammhaus, vor allem bei dessen Wagner-Festivals, galt
sie nun als Star – unter der Leitung großer Dirigenten, von Felix Mottl über Richard Strauss bis Bruno Walter und mit bedeutenden Kollegen wie Alfred von Bary, Georg Sieglitz, Katharina Bettaque, Raoul Walter, Maude Fay, Margarete Matzenauer Heinrich Knote, Hermine Bosetti, Zdenka Fassbaender, Fritz Feinhals, Karl Erb, Maria Ivogün, Paul Bender, Friedrich Brodersen, Desider Zador …


Morenas Münchner Engagement endete auf ihren persönlichen Entschluss
1923 – zur Hauptsache wegen zunehmender Beeinflussung des kulturellen Lebens in München durch nationalreaktionäre, dann auch NS-Kreise und sich steigernde antisemitische Affekte, die sich wegen ihrer gesellschaftlichen und freundschaftlichen Kontakte zu namhaften jüdischen Persönlichkeiten Münchens immer öfter auch gegen die Sängerin direkt richteten.


Der Abschied vom nunmehrigen Münchner Nationaltheater wurde kein Abgang von der Bühnenlaufbahn, im Gegenteil: Sie wurde für die New Yorker Season 1924/25 erneut an die Met verpflichtet, wo sie nun in ungebrochener Stimm- und Gesangsqualität neben ihren Stammpartien auch die Brünnhilde in der Götter-dämmerung gab. Sie war in fünf Spielzeiten in sieben Werken an 56 Abenden, dazu in einigen Konzerten, an dem weltberühmten Opernhaus aufgetreten, hatte sich damit unter die namhaften dramatischen Sängerinnen des Jahrhunderts eingereiht.

Eine lyrische Hochdramatische
In den nur kurz im Weltkrieg unterbrochenen, insgesamt 24 Jahren ihrer Münchner Karriere hatte Berta Morena  in den Uraufführungen der Oper Das Vaterunser von Hugo Röhr (1904) und Paul Graeners Theophano (1918) mitge-wirkt. Ihr Repertoire umfasste Richard Wagners „jugendliche“ Sopranpartien (Senta, Elisabeth, Elsa, Eva) und die hochdramatischen Heroinen (Sieglinde, Isolde, Kundry, die drei Brünnhilden). Sie gab auch die Rezia in Webers Oberon, Verdis Amelia, Aida und Forza-Leonora, die Titelpartie in Lachners Catharina Cornaro, Rachel in Halévys Die Jüdin, Selika in Meyerbeers Afrikanerin, Giulietta in Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, Louise in der Oper von Charpentier. Ein für heutige Begriffe geradezu apart-originelles Spektrum.

In den 1920er Jahren reduzierte Morena planvoll ihre Auftritte, war weiterhin
an großen europäischen Häusern, vor allem mit Wagner-Partien zu Gast. Ihr letztes Konzert, einen reinen Wagner-Abend, sang sie am 14.1.1933 im Münchner Odeon. Nach ihrem Abschied vom Konzertleben wirkte sie als Gesangspäda-
go gin in München, bis sie im August 1943 als Bombenflüchtling die Stadt verließ und nach Rottach-Egern am Tegernsee übersiedelte. Dort lebte sie bis zu ihrem Tod in völliger Zurückgezogenheit.


Nach ihrem erfolgreichen Münchener Debüt als Agathe hatte Berta Morena zunächst überwiegend Rollen des jugendlichen Fachs gesungen; sie dürfte eine schallkräftige Lirica-Stimme besessen haben Zu dramatischeren Aufgaben  wechselte sie nicht eigentlich – sie erweiterte ihr Spektrum, behielt weiterhin lyrisch geprägte Partien im Repertoire. Die Steigerung zu hochdramatischen Heroinen verlief also ganz organisch. Sie brachte die Voraussetzungen dafür
mit: Ihr Material, soweit nach den wenigen Tondokumenten einschätzbar, war von mittlerem Klanggewicht, also keine „Niagara-Voice“ wie Flagstad, Traubel, Farrell, Nilsson. Aber ihre Kernsubstanz ist eine Ressource von Belang. Sie zeigt das Fundament eines lyrischen Mezzo, ist von dunkler Pracht des Timbres und warmer, runder, körperhafter Klangfarbe. Besonders ihre Mittellage, Prüf-Aspekt der Befähigung zu dramatischem Singen, erklingt mit in sich ruhender, ausgewogener Kraft.


Morena beweist am klassischen Maß orientierte Qualitäten: Sie bildet den Ton auf ruhigem, perfekt gestütztem Atem, färbt dabei den Klang stets hell, lyrisch, obertonreich ein. Wie bei jedem vorbildlichen dramatischen Gesang werden die Akzentuierungen ganz aus dem (bei Morena breit schwingenden) Legato ent- wickelt bis zu einer schlanken, strahlenden Vollhöhe, exemplarisch erklingend in Rachels „Er kommt zurück“ – überzeugend in der Konkurrenz etwa mit späteren großen „lyrischen Hochdramatischen“ wie Florence Easton oder Marjorie Lawrence.

Muse der Münchner Kulturszene 
Berta Morena war im München des ersten Jahrhundertdrittels nicht nur eine gefeierte erste Heroine der Bühnen und Podien. Sie war auch ein Mittelpunkt
des kulturgesellschaftlichen Lebens. Photographien geben einen Eindruck davon, welche Wirkung auch ihre Persönlichkeit, ihr Auftritt und ihre Ausstrahlung vermittelt haben. Sie war eine auffällig schöne Frau des mediterranen Typs, dabei hochgewachsen, auch zivil so etwas wie eine Heroine. Sie war willkom-
mener, umschwärmter Gast in Salons und Ateliers. Prominente  Kulturträger suchten ihre Nähe – so die Künstler Lenbach, Kaulbach, Stuck, die Literaten Paul Heyse und Thomas Mann, die Musiker Franz von Hoeßlin und Bruno Walter, die Wissenschaftler Ranke, Kroyer, Steiner, Pringsheim und viele mehr.


Wie manch andere bedeutende Vokalisten hat Berta Morena viel zu wenige Schallplatten realisieren können. Unsere Eindrücke sind auf zwei kleine Serien beschränkt, beide für das Label Grammophon, 1908 und 1911. Die prominenten Partner Ernst Kraus, Heinrich Knote und Fritz Feinhals sind als Zeitzeugen wichtig, doch selbst mit jeweils breiterer Diskographie dokumentiert. Insofern
ist unser Urteil nicht zu generalisieren. Es bleibt der Widerhall einer niveau-vollen Musikerin und Repräsentantin besten   dramatischen Singens mit besonders attraktivem Timbre und klassischem sängerischem Niveau – wichtig als Vergleichsmaterial, sowohl zu den Heroinen ihrer Ära als auch zu dem Breitenangebot an Hochdramatischen in der Nach-Nilsson-Phase heute.


                                                                                                                  KUS

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*) Obertöne sind mitklingende Bestandteile nahezu jedes instrumental
     oder vokal erzeugten musikalischen Tons. Dieser ist fast immer gar kein
     Ton im akustischen Sinne – sondern ein
 Klang oder Tongemisch, also ein
     Schallereignis, das sich vorrangig aus mehreren sinusförmigen Teiltönen
     
(auch Partialtöne genannt), zusammensetzt. Der tiefste Teilton wird
    
 Grundton genannt. Er bestimmt in den meisten Fällen die wahrzunehmende
    
 Tonhöhe, während die übrigen Teiltöne, die Obertöne, die Klangfarbe
     beeinflussen. Dies durchwegs zugunsten befreiter, leuchtender bis
     strahlender, schwingungsreicher Klangwirkung.


**) Sofie Röhr-Brajnin
      *
 1861 Bielostok / Königreich Polen - † 1937 München / Sopran
      Ausbildung bei F. Koziorowski in Warschau und Matilde Marchesi in
      Wien. Bühnendebüt an der Warschauer Oper als Aida. 1883-85 in Messina,
      Livorno, Rom, Mailand. 1885 mit sensationellem Erfolg als Bellinis Norma
      in Warschau. Weitere Ausbildung bei Pauline Viardot-Garcia in Paris. Seit
      1887 an den Opernhäusern Berlins. 1891 Gast in Breslau, dort Heirat mit
      dem Operndirektor Hugo Röhr. Gastspiele in ganz Deutschland. Ab 1896
      Wohnsitz in München, danach nur mehr Konzertauftritte.

 

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© Klaus Ulrich Spiegel