Das pointierte Aperçu von Joseph Keilberth, dem mehrfachen Staatskapellmeister und zentralen Bayreuth-Dirigenten, wonach „früher jedes Stadttheater den Tristan aus eigenem Ensemble doppelt besetzen konnte, während heute ( = seit den 1950/60ern) der ganze Betrieb zusammenbricht, wenn Windgassen mal absagt“ - es gewinnt zunehmend an Realitätsbezug, je weiter und variabler die Archivschätze der Acoustics Area auf moderne Tonträger und damit in den Zugriff von Kennern, Sammlern, Rezensenten gelangen. Der bedeutende Operninterpret bezog sich auf die „Golden Ages of Wagner Singing“, mithin auf die Jahrzehnte von ca. 1890-1930. Er hätte noch früher ansetzen können - so in den 1870/80ern, als Wagners Gesamtschaffen bereits zum Repertoirebestand der deutschsprachigen und bald auch internationalen Musikbühnen gehörte.
Schon die Besetzungslisten der spektakulären Uraufführungen von Wagners Spätwerken geben Aufschluss über Ressourcen an Singdarsteller/innen in einer Vielfalt, die seit Keilberths Wirkungszeit bis heute kaum vorstellbar erscheint - nicht nur bei Tenören mit Tristan-Kapazität, sondern für die (hoch-)dramatischen Genres und Fächer schlechthin. Die noch vom Meister selbst ausgewählten und trainierten ersten Großpartiensänger kamen nicht nur aus allerersten Opernensembles wie Berlin, Hamburg, Dresden, München, Wien, sondern in großer Zahl für Zentral- und Hauptpartien auch aus Mannheim, Karlsruhe, Darmstadt, Coburg, Kassel, Weimar, Schwerin … Andere Häuser, die später zu wichtigen Stätten der Wagnerinterpretation wurden, brauchten längere Zeitphasen auf diesem Weg. Doch davon zeugt wiederum die Vielzahl und Fülle einst verfügbar gewesener Interpreten …
Innovationen in der Region
Zu den „nachgerückten“ Opernzentren gehörte die Königlich Württembergische Residenzstadt Stuttgart mit ihrem monarchisch wohlausgestatteten Hoftheater. Dieses heute als Württembergische Staatsoper europazentrale Mehrspartenhaus (gesangsdokumentarisch ein Zentralthema des Hamburger Archivs - s. 90001 / -02 / -03 / -04 / -05) hatte sich lange, faktisch bis nach dem 1876er Triumph der Festspieleröffnung in Bayreuth, Wagners Werken gänzlich abgeneigt gezeigt. Erst in den 1880ern öffnete es sich, auch gesteigerter Publikums-Nachfrage folgend, dem Musikdrama. Als Protagonisten und zugleich Fachberater dafür engagierte man einen noch vom Tonschöpfer selbst eingewiesenen und bereits international ausgewiesenen Startenor: Ferdinand Jäger, vielgefragt als einer der ersten ruhmbedeckten Tristan-Darsteller und neben Winkelmann & Gudehus Titelrollensänger der Bayreuther Parsifal-Uraufführungsserie 1882.
Ferdinand Jäger kreierte, mehr gastierend als ensembledienlich, Stuttgarts erste Tannhäuser, Tristan, Siegmund, Jung-Siegfried - kurioserweise flankiert und nachgefolgt von zwei weiteren Wagnertenören gleichen Hausnamens Jäger (Albert & Franz). Im Lauf der 1880er baute sich auch in Stuttgart ein nahezu vollständiges Wagner-Repertoire auf, tenoral lange dominiert von dem universell orientierten Pädagogen, Offizier, dann Hobby-Choristen Anton Balluff, der zwischen 1886 und 1904 vom Buffo bis zum Drammatico das ganze Gewicht der Tenorpartien trug: Stuttgarts erster Stolzing und Götterdämmerung-Siegfried, doch auch Leggiero und Lirico, zum Bühnenabschied als 58jähriger noch einmal Verdis Manrico.
Mit dem Sound der frühen Jahre
Schon Ballufs Nachfolger konnten früheste Tondokumente hinterlassen, Einzelfunde, die das Hamburger Archiv noch präsentieren wird: Nikolaus Rothmühl, Franz Costa, Alfred Goltz,
Josef Tijssen - sodann drei auch international ruhmreiche Tenorgestalten: Rudolf Ritter (1924/25 Siegfried in Bayreuth), die Tenorlegende Karl Erb (1917 Titelheld der
Uraufführung von Pfitzners Palestrina), Fritz Soot (Protagonist in Dresden, Berlin, London und bei den Wagner-Festspielen in Zoppot). Das sind noch nicht alle. Es
folgten Aagard Oestvig, Fritz Windgassen, Ludwig Suthaus. Eine stolze Reihe also - durchweg mit Wirkungen auf die Spitzenbühnen Deutschlands und der Welt.
Im Zentrum dieser Stuttgarter Heldentenor-Kontinuität war (nach Einhard Luthers Chronologie) seit 1905 „ein neues Kapitel des Wagnergesangs“ entstanden. Mit Gastspiel-Unterbrechungen amtierte darin
bis 1918 als feste Ensemblegröße der deutsche Lirico-Spinto Oscar Bolz. Der Mehrfächersänger machte eine über Stuttgart weit hinausgreifende Karriere an führenden
Opernhäusern des deutschen Sprachraums - mit Höhepunkten in europäischen Musikmetropolen, in einem Fachspektrum zwischen lyrisch, jugendlich, heroisch, charakterdramatisch - in einer Position, die
man als „universell“ zu bezeichnen
pflegt.
Oscar Bolz -
Tenor
(* 1. Mai 1879 in
Magdeburg,
†
26. Juni 1935 in
Zoppot)
In älteren Registern kann man ihn positioniert finden als
„Deutscher Zahnarzt und Kammersänger“. Er stammte aus gutsituierter Akademikerfamilie, absolvierte das staatliche Gymnasium seiner Elbestadt mit spielender Leichtigkeit und Schnelle, machte ein
vorzeitiges Abitur und gelangte schon als 17jähriger an die zahnmedizinische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Seinen akademischen Abschluss
muss er wieder in Rekordzeit erworben haben: In gerade erst volljährigem Alter erwarb er alle Abschlüsse, Diplome und die Approbation als praktizierender Zahnarzt. Er übte diesen Beruf auch aus,
entschloss sich aber nahezu gleichzeitig, als Studierender in das berühmte Berliner „Stern’sche Konservatorium“ einzutreten.
Nach mehrjähriger Stimmbildung und gründlicher Ausbildung in den musikalischen Bühnenfächern stellte er sich der Agentenszene vor - und erlangte umgehend ein Engagement an das Stadttheater von Olmütz
(Olomouc/Mähren), wo er im Herbst 1900 als Comprimario sein Bühnendebüt geben
konnte.
Eine Laufbahn
in Rekordschritten
Seine Karriere verlief zügig. 1901 stieß Bolz zum Ensemble des Opernhauses Barmen
(Wuppertal), kam schon 1902-03 an das bereits renommierte Theater Aachen.1904 folgte ein Wechsel als Erstfachsänger ans Staatstheater Mainz. Nur eine Spielzeit weiter erreichte er das Königliche
Hoftheater Stuttgart, wo er 1905 zugleich im seriösen Belcantofach und als dramatischer Wagnerheld Furore machte: als Raoul in Meyerbeers Hugenotten und in der Titelpartie von Wagners
Siegfried.
In fünf Jahren vom Bühnendebüt an ein führendes deutsches Hoftheater - das war für viele Vokalisten ein Lebenstraum. Bolz scheint ihn mit der gleichen, offenbar problemlosen Professionalität
umgesetzt zu haben wie zuvor seine Ausbildungszeiten. Den Medizinerberuf hatte er aufgegeben; nun suchte er weitere Perfektionierung als Künstler: Nachdem er in der zweiten Stuttgarter Spielzeit 1906
als Wassili in der deutschen Erstaufführung von Umberto Giordanos Siberia reüssiert hatte, ließ er seinen Stuttgarter Festvertrag aussetzen und begab sich zu erneuter, nunmehr klassischer
Gesangsausbildung nach Milano - als Schüler des Gesangsmeisters Sibella, dann umfassend beim berühmten Maestro Giovanni Battista Lamperti.
Die Studien dürften keine Neuauflage der Berliner Grundausbildung gewesen sein - vielmehr Lektionen in der Art, wie man sie heute als „Meisterkurse“ während Stargastspielen und Festspielsommern
kennt. Dem entspricht die schon Bolz-typisch wirkende Kurzzeit der Incontri. Die zogen aber Gastspiel-Engagements an führenden Häusern nach sich: am Teatro Carlo Felice in Genua, am Teatro Real
Madrid, an der Dutch National Opera Amsterdam, als Krönung sogar an der Grand-Opéra de Paris. Diese Phase internationaler Erfolge reichte bis 1910. Dann ging der Tenor erneut Teilverträge mit
führenden deutschen Häusern ein: bis 1913 am Hamburger, parallel dazu bis 1918 wieder am Stuttgarter Haus. Diesem blieb er bis zum Bühnenabschied als ständiger Gast verbunden, doch nahm er - nun
vorrangig als Wagner- und Charakter-Heldentenor - vermehrt Auftritte an großen deutschen Musikbühnen wahr, so in Dresden, München, Wiesbaden, Karlsruhe, Mannheim, Hannover, Leipzig, Köln, Nürnberg
…
Vom Gipfel in
die Breite
Der ehemalige Stuttgarter Operndirektor Max von Schillings (Komponist der damaligen
Erfolgsopern Mona Lisa, Ingwelde, Pfeifertag), nunmehr Staatsintendant der Berliner Lindenoper, holte den inzwischen zum gefragten Wagnersänger avancierten Bolz zur Spielzeit 1922/23 fest an
das erneut erste reichsdeutsche Opernhaus. Im Sommer davor hatte sich der Sänger wieder mal als Simultanwunder bewiesen: An der Berliner Universität promovierte er zum Dr. med. dent. Das Thema seiner
Dissertation lautete Über die anatomisch-physiologischen Bedingungen der Singstimme mit besonderer Berücksichtigung der Gaumenform. An der Berliner Staatsoper, gleich gegenüber,
erreichte er neben stärkster Protagonisten-Konkurrenz eine Dominanzposition im dramatischen und heroischen Tenor-Repertoire (so mit Rienzi, Tristan, Tannhäuser, Siegmund, Radames, Othello, Max,
Pedro), aber auch „veristische“ Aufgaben wie Canio, Henri, Don José, Eléazar, Jean. Er war eine Fixgröße des berühmten Hauses.
Spätestens seit Ausklang der 1910er Jahre zählte Oscar Bolz zur ersten Garnitur der dramatischen Tenöre deutscher Provenienz - nicht nur amtlich, sondern vor allem stilistisch-interpretativ. Er stand
auf den führenden Bühnen des deutschen Sprachraums und des europäischen Kontinents (wie Zürich, Paris, Brüssel, Riga, Wien, Budapest …) Er wurde zum württembergischen und zum sächsischen
Kammersänger ernannt.
Als Wagnertenor entsprach er aber nicht den zu seiner Zeit favorisierten Krafttenören in Bayreuth, erhielt auch keine Einladung nach dort. Die Wagner-Aufführungen der Waldoper Zoppot, im „Bayreuth
des Nordens“, kamen für ihn zu spät; bei den Proben zu seinem dortigen Spätdebüt als Rienzi verstarb er 60jährig an einem Hirnschlag. So ist er nicht als einer aus der Jahrhundertreihe großer
Wagner-Tenöre dokumentiert. Auch seine tönende Hinterlassenschaft - teilweise wohl repräsentativ, dennoch viel zu schmal für umfassend-gültige Bewertung - bestätigt zwar einen Teil seiner
Standardpartien, enthält uns aber zentrale Ruhmesquellen - Tristan, Siegfriede, Rienzi, Parsifal -
vor.
Gleichmaße zwischen Stilwelten
Von diesen allerdings
entscheidenden Lücken abgesehen, geben uns (mit ca. 40 % Gesamtanteil) die Ausschnitte aus Wagners Musikdramen wie auch die italofranzösischen Werkstücke, fach- und stilübergreifend zwischen 1908 und
1925 aufgezeichnet und in gleich guter informativer Klangqualität geboten, realistische Belege für Typus, Gewicht, Timbre der Bolz-Stimme wie auch einen Eindruck von seiner Darsteller-Persönlichkeit.
Wir hören das erstaunlich mediterran gefärbte, mittelgewichtige Stimmgepräge eines deutschen Lirico spinto, also Jugendlichen Heldentenors, mit konsequenter Orientierung auf vorrangig lyrische
Formung und Gewichtung. Aber keinen heroischen, metallisch gleißenden oder schmetternden Klang. Sprachduktus und Gestaltungsdetails evozieren deutsche Herkunft und Anleitung, zugleich aber auch
ausgewogene Dynamik und weithin mustergültige Phrasierung - diese offenbar als Wirkung der Milaneser Studien.
Bolz setzt selbst in hochdramatischen Szenen, also Anlässen für singdarstellerische Umsetzung durch Intensität und Emphase (von Exaltation nicht zu reden), eher -maßvolle Stil- und Ausdrucksmittel
ein. Rein vokale, auf ebenmäßig „schönen Ton“ zielende Wiedergabe dominiert, selbst bei Tannhäusers Rombericht, Lohengrins Ermahnung, Siegmunds Schwertjubel, auch Othellos Racheschwur. Wo vor allem
Legatofluss gefordert ist, tritt dramatisch-dynamische Gestaltung hinter liedhaften Fluss zurück, leider ohne Chiaroscuro - eher als besänge ein Tamino das bezaubernd schöne Bildnis. Darum wirken die
Gesänge aus Brautgemach, Venusberg, Hunding-Hütte, von den Schauplätzen der Opéra-lyrique sowieso, durchweg wie aus Szenarien der Wiener Klassik, deutschen Romantik oder Spieloper. Eben dieses, dem
Sängertypus Bolz erkennbar angemessene Repertoire ist von ihm aber durch kein einziges Beispiel überliefert.
Leider können dazu auch gesangstechnische Defizite nicht verschwiegen werden. Von einem Tenore drammatico oder eroico - gleich ob bei Wagner, Meyerbeer, Verdi, Strauss - wäre für einen Platz in der
Höchstklasse ein souveränes Passaggio (= Schalten der Stimme durch die Register ohne Klangveränderung) mit
dynamischer Entfaltung zur hohen Lage hin erforderlich. Exakt am Übergang zur Höhe (um das E‘/F‘ nach oben) schaltet Bolz in eine zwar schön klingende, auch gut gemischte, aber aufgesetzte =
nicht aus dem Legato entwickelte Klangfarbe um, die den Ton verschlankt, entkernt, lyrisiert - gerade dort, wo Stamina und Schallkraft den dramatischen Ton erzeugen sollen.
Eine andere (man muss sie so sehen:) Unart teilt dieser Sänger mit Hunderten seiner Zeitgenossen, keineswegs nur Tenören. Wenn kurze = einsilbige Worte oder Wortteile zwischen zwei Konsonanten einen
Vokal aufweisen, der als gesungener Ton erklingen muss, sparen zahllose vornehmlich deutsche Vokalisten der Acoustics Area eben diesen Vokal aus, so auch Oscar Bolz. Man hört dann etwa statt „der“
ein stimmloses „dr“ - selbst in sonst wundervoll entfalteten Phrasen. Insofern belegen die Tondokumente von Oscar Bolz eben doch auch die Basis Deutsche
Schule.
Zum Resümee:
Offene Fragen
In Kenntnis der teils atemverschlagenen Live-Karriere des Oscar Bolz und seiner nur
unvollkommenen Tondokumentation zeigen sich Distanzen und Widersprüche - nicht nur weil so wichtige zentraltypische Nachweise für eine Gesamtbewertung fehlen. Wie schmal und damit unzureichend sein
tönend dokumentiertes Erbe ist, macht sein in über 20 Jahren dargebotenes Rollenrepertoire deutlich: Mochten im Vordergrund die (ja bereits in sich selbst unheitlichen, stildifferenten)
Tenorgestalten Richard Wagners stehen, die Bolz von Rienzi bis Parsifal alle verkörpert hat - er sang außerdem auf deutschen und europäischen Bühnen: Beethovens Florestan. Webers Max und Hüon. Verdis
Riccardo, Alvaro, Radames, Othello. Halévys Eléazar, Meyerbeers Raoul, Jean, Vasco. Strauss‘ Herodes (diesen seit 1907 europaweit 200 mal), Bacchus, Kaiser. Pfitzners Palestrina und Heinrich.
D’Alberts Pedro. Mascagnis Turiddu. Leoncavallos Canio. Puccinis Cavaradossi …
Dass Oscar Bolz einer der führenden, meistgeschätzten und respektierten dramatischen Tenöre seine Epoche war, steht vokalgeschichtlich außer Zweifel. Dass er der Rezipienten-Nachwelt dafür so wenige
und überdies widersprüchliche Klangzeugnisse hinterließ, gehört zu den großen Leerstellen der dokumentierten Gesangshistorie. Er bleibt ein interessanter, darum erinnerns- und sammelnswerter Zeuge
und
Zeugnisgeber.
KUS