"Bin ich ein Gott?"
Strauss-Hofmannsthal: ARIADNE AUF NAXOS, Finale
Fritz Vogelstrom
Tenorstar in Dresdens
Glanzzeit
Zwei Jahrzehnte - eine Epoche: Die letzte Dekade des 19. und die erste des 20. Jahrhunderts umfassen eine Zeit voller langfristig wirksamer gesangshistorischer Umbrüche. Der großen Ära des
Belcanto, also der klassischen, vor allem verzierungsreichen Gesangskunst, folgte die anhaltende Dominanz des Musiktheaters, das professionellen Bühnengesang als Mittel der Darstellung dramatischer
Handlungen, Befindlichkeiten, Konstellationen entfaltete. Sein Anfang datiert schon in den vorausgehenden Jahrzehnten, wesentlich geprägt durch Richard Wagners Musikdramen und deren Wirkungsmacht auf
Cornelius, Humperdinck, Wolf, Busoni, d’Albert, Schreker, Schönberg, Berg, Krenek, Weill bis zu Hindemith, Orff, Egk, Zimmermann …
Im europäischen, vor allem deutschen Kulturraum wandelten sich mit der Erfolgsgeschichte des Musiktheaters auch die Repertoires der über 80 Hof-, Staats- und Stadttheater. Deren Singdarsteller
gewannen neue, erweiterte, oft bereits spezialisierte Einsatzfelder. So im beispielhaften Fach des Tenors: Tenore spinto, drammatico und eroico, also den Typus des sog. Heldentenors. Ebenfalls zur
Jahrhundertwende datiert glückhaft die Erfindung er technischen Reproduktion von Musik auf Walzen, Cylindern, Platten. Sie ermöglichte ab ca. 1902-04 einen expansiven Markt für Tonträger. Seither
sind unzählige Tondokumente aus früher Fertigung verfügbar - unter ihnen, um beim Exempel Tenor zu bleiben, zentrale Protagonisten mit Jahrhundertrang, meist noch aus klassischer Schulung und
Stilbildung, wie etwa Slezak, Jadlowker, Urlus, Burrian, Knote, Kirchner, Piccaver …
Diese von der akustischen Aufnahmetechnik getragene Golden Era währte bis Ende der 1920er Jahre, zum Beginn der elektrischen Tontechnik und ihrer massenmedialen Verwendung für Radio, Film,
Schellackplatte, Liveaufzeichnung. In den Jahren davor verfügte die europäische Opernszene über ein riesiges Stimmen- und SängerInnen-Reservoir. Im deutschen Sprachraum bildete es sich in festen
Ensembles von beachtlichen künstlerischen Standards ab: an praktisch jedem Opernhaus, von den Metropolen bis zur sog. Provinz, mit namhaften Vertreter/innen in allen Gesangsfächern. Eine kaum mehr
glaubhafte Anzahl daraus gelangte vor den Acoustic Aufnahmetrichter, hinterließ tönende Dokumente für den Plattenmarkt, die uns heute aus öffentlichen Archiven und privaten Collectionen zugänglich
sind - aus den führenden Ensembles beispielhaft die Tenöre Grüning, van Dyck, Hensel, Hutt, Kirchhoff, Sembach, Bolz, Ritter, Soot, Schubert, Krauss …
In diese Reihe gehört mit führender Bedeutung der Sänger, dem diese Edition gewidmet ist: Der aus dem östlichen Westfalen stammende, nach kurzer Ausbildung gleich an einem führenden deutschen
Hoftheater debütierende, bald als Festspielheld reüssierende, schließlich ein ganzes Künstlerleben in zentraler Position zu den Großen seiner Ära zählende Fritz Vogelstrom. Einer, der auch nach
seinem Aufstieg ins „schwere“, hochdramatische Fach immer sängerisch orientiert blieb und vielleicht auch deshalb ein breites Repertoire an Solo- und Ensemble-Tonaufnahmen hinterlassen konnte.
Fritz Vogelstrom - Tenor
(* 4. November 1881 in Herford; - † 25. Dezember 1961 in Dresden)
Sein Eintritt in die Musikwelt vollzog sich unspektakulär. Er entstammte einem kleinstädtischen, aber musikbegeisterten Milieu. Schon als Kind wirkte er als Chorist oder Komparse in kirchlichen und
schulischen Bühnenaufführungen mit. Sein Berufswunsch war, Schiffskapitän zu werden. So begann er eine Seefahrer-Berufsschulung an der Marine-Akademie in Hamburg. Ein Besuch der Verdi-Oper Der
Troubadour (Il Trovatore) am Hamburger Opernhaus änderte jedoch alles und bestimmte hinfort seinen Weg in die Musikwelt. Der Gesangseleve träumte nun von einer Karriere als Opernsänger. Er schloss
sich einem Männer-Gesangsquartett an und reiste als „fahrender Sänger“ durch ganz Deutschland.
Glückhafter Einstieg
Am 23. November 1903 sang Vogelstrom auf Probe beim damaligen Mannheimer Hofkapellmeister Köhler vor. Er machte Eindruck und wurde sogleich für sechs Jahre vom Mannheimer Hof- und Nationaltheater
unter Vertrag genommen. In seinem Vertrag wurde er - heute unvorstellbar - zu einer systematischen Gesangs- und Bühnendarstellungs-Ausbildung an der Mannheimer Hochschule für Musik verpflichtet. Am
international angesehenen Mannheimer Opernhaus hatte der erst 22jährige Sänger 1904 dann sein Bühnendebüt als Tamino in Mozarts Zauberflöte. Unter sorgsamer Anleitung konnte er in der Folge ein
Basisrepertoire im zunächst lyrischen Tenorfach aufbauen. So rückte er rasch in den Spielbetrieb des Hauses auf und nahm an zahlreichen Premieren neuer Produktionen, keineswegs nur aus dem deutschen
Repertoire, teil. Schon nach wenigen Rollenportraits hatte er die Position eines Primo Uomo des Mannheimer Ensembles erreicht.
Früh erhielt er auch Einladungen zu Gastspielen in deutschen Musikmetropolen, die von der Intendanz großzügig gewährt wurden. Bald war er als einer der führenden jungen Tenöre im Reichsgebiet bekannt
und angesehen. Nach kaum mehr als vier Spielzeiten wurde er für den Sommer 1909 zu den Bayreuther Festspielen verpflichtet. Dort debütierte er als Froh im Rheingold, sang in der Folge die
Titelpartien in Lohengrin und Parsifal, demonstrativ belobigt von der Hügelhüterin Cosima Wagner. Damit war er als kaum 27jähriger in die erste Rangreihe des damals stark besetzten
Wagnersänger-Olymps aufgestiegen.
Sprung an die Spitze
Noch drei weitere Spielzeiten trat Vogelstrom am Nationaltheater Mannheim auf, bei wachsender Anzahl von Gastauftritten, nun vorrangig in Wagner-Partien. 1912 kam der entscheidende Anlass für den
Sprung zur europäischen Spitze. Der heute legendäre Generalmusikdirektor Ernst Edler von Schuch (Dirigent der Richard-Strauss-Premieren von Feuersnot, Salome, Elektra, Rosenkavalier) verpflichtete
Vogelstrom als Ersten Jugendlichen Heldentenor an die Dresdner Hofoper. Vom Beginn seines Engagements an sah er sich dort von Publikum und Fachwelt als Star geliebt und verehrt. 1913 gab er, jubelnd
gefeiert, die Siegfried-Partien in Wagners Ring des Nibelungen. Er war auch der Tenor-Protagonist in den Dresdner Produktionen von Ariadne auf Naxos (Bacchus) und Die Frau ohne Schatten
(Kaiser)
Vogelstroms stimmliche Mittel hatten sich inzwischen „gesetzt“, also verbreitert, gerundet, gedunkelt. Aus dem Lirico war ein veritabler Drammatico geworden. Seine Wagner-Partien waren Erik,
Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Stolzing, Loge, Siegmund, Siegfried, Parsifal. Er übernahm jedoch erfolgreich auch Hauptpartien in Werken des lyrischen und jugendlichen Rollenrepertoires, unter
anderen: Beethovens Florestan; Webers Max; Verdis Manrico, Carlo, Radames; Gounods Faust; Bizets Don José; Mascagnis Turiddu; Leoncavallos Canio; Puccinis Rodolfo, Cavaradossi, Linkerton; Goldmarks
Assad; d’Alberts Pedro.
Gastspiele führten ihn nun an Spitzenbühnen im In- und Ausland: an Covent Garden London, an die Hofopern in Wien München, Stuttgart, an die Opernhäuser von Leipzig, Frankfurt/M., Bremen, ans
Staatstheater Zürich, an De Nationale Opera Amsterdam und ans Deutsche Theater Prag. Einen weiteren Höhepunkterreichte seine Karriere n ihrer Finalphase: Fritz Vogelstrom führte seine vielleicht
glänzendste Bühnengestalt noch einmal mit internationaler Resonanz vo: als Wagners Siegfried im Sommer 1922 bei den Waldfestspielen in Zoppot, dem legendären „Bayreuth des Nordens“. Bis zum Ende
dieses Jahres dauerte seine Zeit als führender Held an Dresdens Weltranghaus. Er führte den Titel Sächsischer Kammersänger und wurde an beiden Häusern - in Mannheim und in Dresden - zum Ehrenmitglied
ernannt.
Gegen Ende seiner Sängerlaufbahn hatte Vogelstrom zunehmend Ärger mit der Intendanz der Dresdner Oper. Die Gründe lagen in seinem Widerstand als gewählter „Sprecher der Sänger“ gegen den Plan, das
Solistenensemble zu verjüngen. Die Missstimmungen mit Intendant und GMD eskalierten, bis der Sänger 1928 um Aufhebung seiner Vertragsbindung ansuchte. Es zog sich mit noch nicht 50 Lebensjahren von
der Bühne zurück, lebte bis zu seinem Tod 1963 in seinem Haus in der Bach-Stadt Köthen (Sachsen-Anhalt ), wirkte weiterhin in Dresden als Gesangslehrer.
Das tönende Vermächtnis
Der rekordartig schnelle Aufstieg Vogelstroms ist auch an seiner Hinterlassenschaft an Tondokumenten ablesbar. Schon während seines dritten Bühnenjahrs - 1907 - entstanden die ersten Acoustic Soli,
denen Aufnahmesitzungen bis zu seinem Bühnenabschied folgten: bei G&T (Berlin 1907), Odeon (Berlin 1909-13), Parlophon (Berlin 1911-12), Pathé (Berlin 1911-12), Homokord (Berlin 1922) und Vox
(Berlin 1922), dazu ein unveröffentlichter Titel bei Edison (London 1910). Von herausragender archivarischer Bedeutung ist die akustische Einspielung des vollständigen 2. Aufzugs von Wagners
Tannhäuser, 1909 in Berlin unter dem Dirigat von Eduard Künneke in einer damaligen Starbesetzung mit Vogelstrom (Titelrolle), Annie Krull (die Elektra der Dresdner Uraufführung / Elisabeth), Hermann
Weil (Wolfram), Leon Rains (Landgraf), Walter Kirchhof (Walther), Karl Armster (Biterolf), mit Chor & Orchester der Königlichen Hofoper Berlin.
Der reiche Archivbestand an Tondokumenten aus allen Phasen seiner Karriere gibt dennoch leider kein vollständiges Hörbild für ein definitives Urteil über Vogelstroms stimmliches und sängerisches
Vermächtnis. Mit Ausnahme seiner ganz frühen Aufnahmen, die ein souverän bis in die Vollhöhe strömendes, schlankes, nahezu edles Lirico-Organ ausweisen, vernehmen wir mehrheitlich, vor allen bei den
klangtechnisch guten Hörstücken der späten 1910er und ersten 1920er Jahre ein solide fundiertes, ausgeglichenes Singen auf methodisch gutem Fundament.
Aber: Das recht deutsch-stämmige Timbre ist nicht spezifisch ausgeprägt, kaum individuell-reizvoll gefärbt - von eher neutraler Tönung. Der Stimmcharakter ist bis zum B‘‘ jugendlich-männlich, danach
zwar körperhaft, aber schwingungsarm und eher neutral. Die Register sind gut verblendet, der Klangstrom auch bei forciertem Toneinsatz immer beherrscht und ausgeglichen. Im Gegensatz zu den frühen
Aufnahmen wirkt die bruchlos avisierte, sauber geformte Top-Höhenlage ein wenig eng geführt, wenn auch nicht gepresst - es fehlt nur ein sieghafter, metallisch-gleißender Strahl, somit die klangliche
Attitüde einer Erscheinung „aus Glanz und Wonne“.
Vogelstrom strahlt also nicht die Suggestion vokaler Verführung oder gar Überwältigung (à la Slezak, Jadlowker, Urlus) aus. Er war kein Bravado, eher ein Musico profondo. Seine darstellerische
Überzeugungskraft und sängerische Souveränität müssen live und von der Bühne herab viel mehr Effekt und Appeal vermittelt haben als im trivialen Umfeld des Aufnahmetrichters. Sein unbestreitbarer
Rang basiert vorrangig auf seiner (von Experten wie Jürgen Kesting und Einhard Luther bestätigten) Betonung der dramatischen Bühnenpartien als primär sängerische Aufgaben.
KUS
Richard Strauss, wichtigster deutscher Musikdramatiker nach Richard Wagner, hinterließ dem oftmaligen Interpreten seiner
Bühnenheroen eine liebenswürdige Zueignung:
Seinem lieben Kammersänger
Fritz Vogelstrom
Bacchus - Herodes - Kaiser
Ein Gott im Gesang - ein Kaiser im Glück - ein König im Skat.
In dankbarer Verehrung:
Doktor Richard Strauss