Virtuosa amaliante ucraina
Maria Michailova:
Eine brillante Lirica der Acoustic Era.
„Ihre Stimme gehört zum Schönsten,
was aus der Frühzeit der Schallplatte erhalten ist.“
Kutsch/Riemens - Großes Sängerlexikon
Mit den ständig erweiterten Zugriffsmöglichkeiten auf die Archivbestände an vokalen Interpretationen auf Tonträgern – namentlich aus der Zeit der
akustischen Aufnahmetechnik (ca. 1898-1928) – wächst auch das Interesse an deren Quellen. Es wird belebt durch den inzwischen fast unüberschaubaren „ewigen Vorrat“ an Hörstücken aus dem Brunnen der
Vergangenheit. Damit werden auch die Kenntnisse und Maßstäbe von Archivaren und Sammlern über Standards glanzvoller sängerischer Virtuosität
im Golden Age of Singing verstärkt und professionalisiert.
Aus dem Umgang mit solchen Hörmaterialien wissen passionierte
Gesangshistoriker: So präsent und detailliert sich akustisch aufgenommene Gesänge und ihre Interpreten darstellen mochten – um exakte Klangwiedergabe durch Aufnahmetechnik zu gewinnen, benötigten die
Vokalist/inn/en Eigenschaften, die man mit dem Hilfsbegriff phonogen zu erfassen versucht. Gemeint ist eine spezielle Eignung für die Umsetzung individueller
Tonvorlagen in natürliche Schalladaption. Zum Beispiel: Kleinere, schlankere, beweglichere, vibratoreich geführte Naturstimmen ließen sich vom Aufnahmetrichter präsenter, detaillierter, farbgenauer
abbilden als großvolumige, schwerer gewichtige, farbärmere Organe.
Phonogene
Stimmen
Eine Vielzahl zentraler Vokalist/inn/en der
Gesangsgeschichte, gerade in der Ära akustischer Tonaufnahmen, verdankt ihre Attraktivität über Tonträger eben jener Phonogenität: Nach Kestings Kompendium DIE GROSSEN SÄNGER
war
diese „gerade damals“ – in der Acoustic Era – „ein entscheidender
Faktor“ für Resonanz und Popularität. Nicht selten begründete sie Welterfolg und historischen Rang aus
Tonkonserven bei weniger relevanten Bühnenpräsenzen.
Ein besonders plakatives Beispiel für eine solche
Sängerinnenpersönlichkeit mit bedeutender Medienkarriere im Golden Age war die ukrainische Lirica leggera Maria
Michailova. Ihr grenzüberschreitender Erfolg im Schallplattenhandel greift in Repertoirebreite und Fachvarianz über Weltrang-Sängerinnen hinaus, obwohl ihre
Bühnenlaufbahn eher die einer seconda donna war – mit Schwerpunkt am St. Petersburger Mariinski-Theater und auf zahlreichen russischen Regionalbühnen. Vor allem in der englisch-sprachigen
Gesangskritik wird sie bis heute hoch gehandelt. Das Fachorgan FABULOUS PHONOGRAPH bewertet ihre Tonaufnahmen
als „nach rein vokalen Kriterien denen von Weltstars wie Marcella Sembrich und Emma Eams deutlich
überlegen“.
Maria Aleksandrovna
Michailova (Marya Mikhailova)
Sopran - (* 22.5.1864 Charkov/Ukraine – † 18.1.1943 Perm/Ural)
Als Teilregion des russischen Zarenreichs war die Ukraine im 19. Jahrhundert ein vorrangig
europäisch geprägter Kulturraum. Zahlreiche Sängerinnen und Sänger, die archivarisch pauschal als „russisch“ geführt werden, stammen von dort und gehören zu den wichtigen Repräsentant/inn/en der
europäischen Musik- & Vokalgeschichte. Die stolze Reihe umfasst Jahrhundert-Vokalisten von Salomea Krusceniskij bis Mark Reizen. Charkov, nach Kiev die zweitgrößte Stadt der Ukraine, war schon
zur Zarenzeit eine Kulturmetropole mit Hochschulen, Museen, Konzertsälen, Musikbühnen. Die westeuropäisch orientierten, großenteils sogar aus Deutschland stammenden Teile seiner Bevölkerung gehörten
zu den wohlhabenden Bürgerschichten des russischen Reichs. Sie übten prägende Einflüsse auf dessen Kunst- und Kulturleben aus und waren ihrerseits Partner und Publikum des kontinentalen Kultur-, vor
allem Musikbetriebs.
In diesem Umfeld lebte und wirkte die russisch-holländische Familie Michailov. Der russische Vater Aleksandr war Professor für Germanistik an der Universität Charkov, die
niederländische Mutter eine geborene van Uteren. Ihre Tochter Marya wurde „von der Wiege an mit Musik eingehüllt“, liebte schon als Kind, lustvoll klassische Vokalmusik zu singen und begann bereits
als Jugendliche mit professioneller Stimmbildung bei der Altstin Mme. Groewing-Wilde in Charkov. Auf deren Empfehlung wechselte sie als eingeschriebene Studentin an das Konservatorium von
St.Petersburg. Mit einem Reifedokument von dort wechselte sie zu weiterer Perfektionierung nach Paris (als Elevin beim damals populären Liedkomponisten und Opernmanager Saint-Yves Bax), schließlich
nach Milano (als Meisterschülerin zu Daniele Ranzoni, einem der prominentesten Gesangspädagogen Italiens).
Umfassend vorbereitet
zum Debüt
Als langjährig rundum meisterlich ausgebildete Sängerin für das lyrische Fach kam die nun 28-jährige Marya nach St.Peterburg, erreichte ein Vorsingen am weltberühmten
Mariinskij-Theater, der zaristischen Hofoper, somit ersten Opernbühne des Zarenreichs. Sie wurde sofort engagiert und hatte 1892 dort ihr Bühnendebüt – in einer Primadonnenpartie für dramatischen
Koloratursopran: la Reine Marguerite in Meyerbeers Grand-Opéra Les Huguenots. Der Erfolg
war evident, denn noch in der folgenden Spielzeit – am 18.12.1892 – wurde Marya in einer Comprimaria-Rolle in der Uraufführung von Tschaikovskijs Oper
Jolanthe besetzt. Sie avancierte schnell zur Prima Donna und blieb weitere 10 Jahre lang mit jeweils 25 bis 30 Aufführungen pro
Spielzeit fest im Ensemble des Hauses, durchweg gefeiert und geliebt, zugleich als prominentes Mitglied der hofnahen Gesellschaft in der russischen
Metropole.
In ihrer Wirkungszeit am Mariinskij-Theater sang sie 1895 die Elektra in der Uraufführung von Sergej Tanejews Trilogie Oresteija. Ihre großen Bühnengestalten waren weiter die Titelpartie
in Ruslan und Ludmila von Michail Glinka, die Antonia in
Glinkas Ivan Susanin, die Tamara in
Rubinsteins Dämon, Mozarts Susanna und Zerlina,
Webers Ännchen, Beethovens
Marzelline, Nicolais Frau Fluth, Bellinis Amina, Offenbachs Olympia, Verdis Gilda und dessen Nannetta (in der
Russland-Premiere von Falstaff 1894), Meyerbeers Berthe, Gounods Juliette,
Bizets Micaela, Delibes‘ Lakmé, Rimskij-Korsakovs Oksana (in Die Zarenbraut). Seit 1893
gastierte sie im ganzen Zarenreich, so in Moskau, Odessa, Kiev, Charkov, Lodz, Wilna, Tiflis, Tashkent, Rostov, Kasan, Vladivostok, dann auch in Riga (1898) und Prag (1903). Es folgten Gastauftritte
in Sofia, Belgrad, Athen, Wien ...
Weltgeltung durch
Tonträger
Enorme Breitenwirkung erreichte die Michailova über das Medium Schallplatte: In 13 Jahren realisierte sie über 300 Tonaufnahmen, alle in akustischer (Trichter-)Aufnahmetechnik. Die
frühesten schon 1900-01 für Emil Berliner, dann 1900 für G&T, weitere für Columbia, Lyrophon, HMV und Pathé.
Ihr Platten-Repertoire reichte über ihr Bühnenfach als Lirica leggera hinaus hin zu Partien für Lyrischen Sopran wie Webers Agathe, Rossinis Rosina, Donizettis Lucia, Verdis
Violetta, Meyerbeers Dinorah, Gounods Marguerite, Tschaikovskijs Tatjana und Lisa, Dargomyschskis Rusalka ... Damit gewann sie am Tonträgermarkt eine Kolleginnen-Position mit den Primadonnen der
westeuropäischen und US-amerikanischen Opernzentren, erregte interkontinental Bekanntheit und Bewunderung. Aus London, Paris, sogar New York erreichten sie Anfragen für Gasttauftritte. Sie folgte
ihnen nicht, blieb ein Künstlerleben lang im russisch-osteuropäischen Kulturraum verankert.
1912 gab sie in St.Petersburg ihren Bühnenabschied in Ivan
Susanin, unternahm aber 1913/14 noch eine große Konzerttournee durch Russland. Sie behielt ihren Wohnsitz in St.Petersburg
(später Leningrad), soll dort auch unterrichtet haben. In den 1920er Jahren geriet sie in persönliche Not, war auf Spenden des nach der russischen Revolution in Kirov-Oper umbenannten
Mariinkij-Theaters angewiesen. Während der Belagerung Leningrads wurde sie nach Prem im Ural evakuiert, wo sie im Kriegswinter 1943 starb.
Sängerische
Meisterschaft. Vokale Expansion.
Jürgen Kesting würdigt ihre Bedeutung bei Wirkungszeiten: „Auf der Bühne mag sie überwiegend die seconda donna gewesen sein. Doch erfüllten ihre Platten ... die Postulate selbst der
anspruchsvollsten Kritiker. Die bis heute greifbaren Überspielungen bewahren eine betörende lyrische Stimme, die vor allem im Zusammenklang mit der Altistin Claudia Tugarinva (1877-1940 ff.) förmlich
aufblüht. Herrlich das lang gehaltene Pianissimo in Grodzkis Lied von der schneeweißen
Seemöwe. Besonders attraktiv die Arien und Ensembles aus Ivan
Susanin (mit Lev
Sibirjakov & Nicolai
Bolshakov) und die Briefszene aus Eugen
Onegin.“
In der Tat: Auf den Acoustic-Tonträgern begegnet uns eine etwa mittelgroße, hellfarbene, schlanke Leggera-Stimme von natürlicher Schönheit und bezauberndem Flair. Das eigentlich
soubretten-nahe Klangformat gewinnt mit rein sängerischen Mitteln souveräne Expansionskraft bis zur strahlenden Fülle einer Lirica classica, die sich den jeweils größeren Rollencharakteren
(Ännchen/Agathe, Zerlina/Anna, Susanna/Contessa, Nannetta/Alice, Olympia/Antonia) bravourös gewachsen erweist. Sie offeriert kein ausdrücklich markantes = merkfähig-erkennbares Eigentimbre, entfaltet
Individualität durch herausragende gesangstechnische Perfektion. Sie gehört zu den zentralen Belcantistinnen Ihrer Epoche.
KUS