Über Herkunft, Jugend und Sozialisation des Sängers ist kaum etwas bekannt – Einträge in Lexika und Kompendien fehlen ebenso wie informatives Bild-material. Geboren wurde er unter dem
Familiennamen Lenghi. Ungeachtet
einer Reihe informativer Tonaufnahmen blieb er postum von Vermutungen und Hypothesen umgeben. Englische Anmerkungen verwenden mitunter den Begriff „mysterious“. Da seine Tonaufnahmen durchwegs in
Großbritannien entstanden, hielt sich die Nachrede, er sei ein Engländer unter italienischem Pseudonym. Auch sein Geburtsdatum ist nicht verlässlich belegt. Es fußt auf eigenen, als „offiziell“
veröffentlichten Angaben, lässt aber wegen der nachgeweeislichen Ausbildungen Zweifel zu.
Man darf ein wohlhabendes, bildungs- und kulturnahes Elternhaus annehmen. Darauf verweist Lenghis Studium der Rechtswissenschaft in Bologna, gekrönt mit dem Titel „dottore in giurisprudenza“. Er war
offenbar sogar als Rechts-anwalt tätig. Überschneidend oder danach erst dürfte der fertige Jurist eine künstlerische Ausbildung absolviert und die Entscheidung für den Sängerberuf getroffen haben.
Die Tonbeispiele lassen auf eine so sorgfältige wie effiziente Schulung vor allem der technischen Prinzipien und Methoden professionellen Singens schließen.
Giuseppe
Lenghi-Cellini
(* Modena / Emilia-Romagna 13. Juni 1881 - † unbekannt)
Furioser
Auftritt
Sein Bühnendebüt gab der Mitzwanziger 19007 als Duca di Mantova in Verdis Rigoletto am Nuovo Teatro Verdi in Pistoia, der toscanischen Kreisstadt am Südhang des Appenino – bemerkenswert, wie viele
leistungsfähige Provinz-bühnen im Italien des Jahrhundertbeginns existierten und anspruchsvoll bespielt wurden. Der Duca blieb Lenghis Lieblings- und Paradepartie während seiner gesamten
Sängerlaufbahn. Diese setzte sich mit einer Reihe von Engagements
an kleinen und mittleren Häusern zunächst in Italien fort.
Nach zwei Spielzeiten mit Stagione-Einzelverpflichtunngen übersiedelte der Tenor im Herbst 1909 nach London. Über die auslösenden Ursachen dafür ist wiederum wenig bekannt. Am Beginn stand ein
Auftritt am 9. Oktober 1909 bei einem Chappell Ballad Konzert in der City of London, von dem ein stürmischer Debüt-Erfolg verbürgt ist. Dieser zog eine Reihe von Engagements in Musik-zentren Englands
nach sich, und diese begründeten nun eine gefestigte landes-weite Karriere. Binnen weniger Seasons avancierte der Sänger zum gefeierten Bühnen- und Music-Hall-Tenor. 1912 wurde er für das
Lirico-spinto-Fach ans Royal Opera House Covent Garden verpflichtet. Er debütierte dort unter dem Pseudonym Giuseppe Cellini: als Canio in Leoncavallos
I Pagliacci und als Don José in Bizets Carmen. Von da an verwendete er dauerhaft den Namen Lenghi-Cellini. Sein Erfolg hatte Bestand im United Kingdom. Er brillierte in allen Lirico- und sogar
Spinto-Genres und gastierte in allen britischen Musikzentren, 1924 auch in einer Konzerttournee durch Australien und Neuseeland.
Gesicherter
Nachruhm
Praktisch datumgleich mit seinem London-Konzertdebüt begann auch die beachtliche mediale Karriere des Sängers. Schon im August 1911 entstanden seine ersten Tonaufnahmen – sämtlich
Acoustic Records bei Beka, einem britischen Sub-Label
von Parlophon. Ihnen folgten in Regelabständen fast zwei Jahrzehnte lang lang weitere
Aufnahme-Sitzungen, meist weiter für Parlophon/Beka, dann auch für die englischen
Produzenten Vocalion und
Piccadilly. Sie präsentieren den Sänger mit dem typischen, bis heute die Mehrzahl der Portrait-Recitals bestimmenden Arienbestand,
aber auch mit erstaunlich weit gespannten Lied-Auswahlen verschiedener europäischer Herkunft. Leider sind gerade solche Titel bisher – noch? - nicht auffindbar.
Die vorhandenen Tracks sind, ungeachtet ihrer ausdauernden Allseitigkeit (insofern wiederum ideal für Stimm- und Stilvergleiche aus 125 Jahren) von beachtlichem Informationswert. Lenghi-Cellinis
„Face in the voice“ rangiert nicht in der Spitzengruppe der zentralen Jahrhundert-Tenöre. Dennoch hat sie gediegenes Niveau. Wir hören eine nicht strahlende, doch mit dezent aufgerauter Lyrik
schimmernde, substanzreiche voce italiana mittlerer Größe und Facon. Das Timbre hat mattgoldene Färbung, die ihren Charakter auf allen Tonstufen bewahrt, sich in der Vollhöhe verschlankt, ohne zu
verengen und an Locker-schwingung einzubüßen. Es fehlt allenfalls an ausgeprägter Individualität des Tonprofils, somit an persönlicher Erkennbarkeit.
Rühmenswert ist das akustiktechnisch unbeeinträchtigte sängerische Können
des Tenors - Nachweis solider Schulung in den Grundlagen klassischer Gesangskunst. Die Stimme wird auf geformtem Atemstrom geführt, gut verblendet und bis in extreme Höhen schön klanggemischt. Sie
gewinnt im Diskant noch an Brillanz hinzu. Glanzvoll ist das vor allem bei Tönen überm
B‘‘/C‘‘ zu hören – so exemplarisch in Rossinis „Cujus animam“ und Verdis „Ingemisco“.
Über die letzten Laufbahn- und Lebensjahre dieses Golden Age Singers ist wiederum so gut wie nichts bekannt – nicht einmal sein Sterbedatum ist aus gängigen Quellen erfahrbar. Der durchwegs positive
Höreindruck der meisten verfügbaren Tondokumente begründet seine späte Wiederentdeckung: Wir haben es wenn nicht mit einer Ausnahmestimme, so doch mit einen Erstrang-Sänger zu tun, der auch heute in
der ersten Reihe seines Fachs stände.
KUS