Faszination aus der zweiten Reihe
Ein entdeckenswürdiger Tenore lirico spinto: Juan Spivak

Exkursionen durch die Archivbestände der dokumentierten Gesanghistorie gleichen Tauchfahrten in einem kulturgeschichtlichen Ozean. Man macht die stetige Erfahrung, dass in den Jugendjahrzehnten der noch unvollkommenen, klanglich defizitären akustischen Tonerfassung unendlich viel mehr Sänger-stimmen aufgezeichnet wurden als heute bei weltweiter Verbreitung und Vermarktung. Dass Glück des Sammlers kann sich neben den legendären Ewigkeitsgrößen an einer Fülle von für die Nachwelt unerheblich gewordenen, vergessenen, verkannten, verdrängten Stimmen und Gesangsleistungen jeder Kategorie entzünden. Selbst für ausgewiesene Kenner des „ewigen Vorrats“ faszinierender, profilierter, typischer wie außergewöhnlicher Klänge der Vergangenheit, öffnet sich ein Paradiesgarten mit immer neuen Erlebnis- und Erfahrungsdimensionen. Vielfach drängt sich dann die Frage auf, wieso gerade diese Stimme, dieses Beispiel für Talent und Können, Material und Virtuosität, nicht mehr genannt, geschweige denn angemessen präsentiert wird.

In der Reihe HAfG Acoustics macht das Hamburger Archiv solche Entdeckungen kontinuierlich zugänglich: für Kenner, Liebhaber, Sammler, zur Erweiterung
des archivierbaren Kenntnisstands über Formen, Typen, Varianten an Stimmen und Gesangsleistungen, auch zur Orientierung und Urteilsbildung. Maßstäbe kommen aus dem Vergleich. Mitunter können überraschende Entdeckungen
sie bestätigen oder auch verrücken.


Die Reihe exemplarischer Wieder- oder Neu-Entdeckungen aus dem Golden Age of Singing belegt diese Motivation nachdrücklich, so wenn sie Namenslegenden aus bedeutenden Entwicklungsphasen, großen Ensembles, ruhmvollen Häusern evozieren, beleben oder vervollständigen. Es gibt auch Einzelfälle mit über-raschenden, gelegentlich überwältigenden Impressionen, die nicht an solche Vorgaben gebunden sind, sondern sich ganz aus sich selbst als Begeisterungs-anlass und Fundsache begründen.

Ein solches Beispiel liefert der - den heutigen Sachkennern kaum oder gar nicht bekannte - Tenor von Profil, Gewicht und Wert, dem heutzutage eine Starkar-riere sicher wäre: der Slowene mit jüdischen Wurzeln und Wienerischer Sozialisation: Juan Spivak. Seine Tondokumente weisen ihn als mindestens Konkurrenten, wenn nicht gar Vorranggestalt all der Lirico-Spinto-Tenöre des jugendlichen und Heldenfachs seiner Generation aus, die als „Stars der zweiten Reihe“ bis heute Nachschlagewerke und Tonträgerkataloge dominieren, wie etwa: Sembach, Vogelstrom, Erb, Hutt, Pistor, Gläser, Hirzel …

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JUAN SPIVAK
 Tenor (26. 4. 1883 Slowenien -  15.3.1946 New York)

Über seine Herkunft und Basisschulung ist nichts bekannt. Er kam 1907 nach Wien, wo er sich an der K+K. Musikakademie zum professionellen Sänger ausbilden ließ. Nach einem Vorsingen beim allgewaltigen Hofoperndirektor Gustav Mahler wurde er an das berühmte Haus verpflichtet, zunächst noch in der Opernschule weiter auf Bühnenrollen vorbereitet, dann im Chor mit erster Bühnenpraxis vertraut gemacht. Am 6. Januar 1909 hatte er, schon nicht mehr unter Mahlers Direktion, sein Solodebüt als Don José in Bizets Carmen, dem am 4. November 1909 der Nureddin in Cornelius‘ Barbier von Bagdad folg te. Es blieb bei diesen beiden Einzelabenden.
Am 4. Oktober übernahm Spivak im Barbier noch die Comprimario-Partie des
3. Muezzin, die er bis zum April 1910 insgesamt 10mal geben konnte. Dann endete die vielversprechend begonnene Wiener Präsenz; man darf wohl von raschem Scheitern sprechen.


Doch der noch junge Sänger ließ sich nicht entmutigen, sprach und sang an mehreren deutschen Staats- & Stadttheatern vor. Für die Opernsaison 1910-11 nahm ihn das Opernhaus Düsseldorf unter Vertrag. Im Folgejahr absolvierte er eine Saison am Mährischen Theater Olomouc (Olmütz). Erst 1912 bahnte sich eine beständige Bühnenlaufbahn in Deutschland an: Spivak wurde an das Opernhaus Bremen, eine führende Großstadtbühne des Kaiserreichs, verpflich-tet und blieb dort bis 1915. Dann wechselte er an das Königlich Bayerische Operntheater Nürnberg. Hier wurde er begeistert aufgenommen und blieb als Erstfachsänger für sieben Spielzeiten in der fränkischen Metropole. Dort bekam er bald auch Gelegenheit, als Regisseur tätig zu sein und damit zu einer Leitungsperson in der Direktion zu werden. Die Aussicht auf weitere Aufgaben in diesem Feld veranlassten ihn, 1923-25 ans Stadttheater Danzig, schließlich 1927-28 an die Komische Oper Berlin zu wechseln. Dort verabschiedete er sich von der Sängerkarriere. Er hatte sich über den Appeal des Tenors hinaus Ansehen als Musiktheatermann erworben, auch Tonaufnahmen machen können. Er sah fundiert weiteren Aufgaben entgegen - als Dramaturg, Spielleiter, dann auch als Gesangspädagoge.

Schon während seiner kurzen Debütphase in Wien wusste er Wirkung und Wertschätzung in der reichsdeutschen Kulturlandschaft aufzubauen. 1909-10 hatte er eine erste Auftrittsserie am Hoftheater Stuttgart, wirkte dann für mehrere Spielzeiten auch als geschätzter Gastsänger am Hofopernhaus Wiesbaden. 1919 war er der Tenorprotagonist in der Nürnberger Uraufführung von Robert Hegers Oper Ein Fest zu Haderslev unter des Komponisten und alsbald berühmten Dirigenten Leitung, den er später in mehrfacher Partnerschaft in Berlin wieder traf.

Um 1930 hatte Spivak seinen Wohnsitz in Berlin, wo er nicht nur als Gesangs-lehrer erfolgreich war, sondern auch in der Israelitischen Kultusgemeinde als Kantor wirkte. Nach der Machtübertragung an die Nazi-Partei ging er schon bei den ersten Angriffen auf die jüdische Bevölkerung illusionslos nach New York City, wo er Freunde hatte. Auch hier wurde er zu Konzertauftritten und Canto-rials eingeladen. Als einem der ersten Emigranten gelang es ihm, an der ameri-kanischen Ostküste sesshaft zu werden, einen Ruf als Gesangspädagoge zu begründen und die US-Staatsbürgerschaft zu erwerben. Er überlebte den Welt-krieg und starb mit nur 53 Jahren, geachtet und bis heute bei dem gesangsbe-geisterten New Yorker Publikum erinnert. In der deutschsprachigen, wohl auch der gesamteuropäischen Kultur-Nachwelt kennt man ihn und sein tönendes Erbe nicht mehr.

 

Glanz und Vielfalt im Breitspektrum
Eben dieses Erbe, nach heutigem Maß mit rd. 30 Titeln bescheiden, doch nicht schmaler als das der genannten Kollegen, vermittelt Informationen über einen Spinto-Tenor mittleren Gewichts, deutscher Schulung, doch beachtlicher sänge-rischer Vieleignung - mit Stamina, ausgeglichenen Registern, stabilem Atemfun-dament, sauberer Intonation, flexibler Dynamik, sogar den Fähigkeiten zum belebenden Chiaoscuro, nicht zuletzt - und das erstaunt besonders - in seinen Wagner-Interpretationen. Also über ein Arsenal an Qualitäten, die auch unter den als prädestiniert gehandelten Wagner-Tenören seiner Zeit eher karg verteilt sind.

Spivaks Naturmaterial ist das eines jugendlich-dramatischen Tenors mit durchschlagender, nicht strahlender, aber metallisch-glänzender, vor allem topsicherer, dabei  auch farbvarianter Höhe, gut fundierter, schwingender Mittellage und resonanter Tiefe - Eigenschaften, wie sie im italienischen Repertoire (um in der Zeit zu bleiben) etwa bei Merli, Lo Giudice, Ventura, Voltolini, Crimi, Piccaluga, Marini und einem Halbdutzend mehr obligatorisch waren. In einigen Stücken mit hoher Tessitura, vornehmlich mit lyrischem Duktus, hat er gelegentlich Phrasierungsprobleme, muss auffällig oft Atem fassen - was möglicherweise einer allzu exuberanten Tongebung zuzurechnen ist. Schönste Beispiele für idiomatisches, klangreiches, variables Singen noch in der Fremdsprache sind seine Aufnahmen aus französischen Opern: Don José, Eleazar, Vasco. Da die dokumentierten Stücke durchwegs deutsch gesungen werden, sind international gewichtende Vergleiche nur begrenzt statthaft.

Weltrang-Qualitäten
Ersten Rang, nicht nur im Vergleich zu Zeitgenossen, belegen Spivaks leider wenige Wagner-Aufnahmen. Zeitübliche außermusikalische Allüren, von ihm in Verismo-Stücken (Canio, Turiddu, DesGrieux) hörbar, kommen hier nicht vor. Vielmehr fasst der Tenor die Wagnersche Melodik mit konzentriertem Ton, disziplinierter Phrasierung und ausgeglichener Dynamik an, bietet eher zurück-haltenden Ausdruck, stützt den aber mit exzellent ausbalancierter, bestverständ-licher Textartikulation. Der Eindruck ernsthaften Musizierens wird reizvoll belebt durch einen Hauch exotischer Timbrefärbung, wie er nicht wenigen jüdischen Sängern (Tauber, Schwarz, Kipnis) eigen war - bei Spivak überdies erkennbar der slowenischen Muttersprache  entstammend (ähnlich dem Timbre-reiz des gebürtigen Kroaten Tino Pattiera).

Spivaks Lohengrin, Stolzing, Siegmund sind, selbst in klangreduzierten Acoustic Recordings, Orientierungsstücke für Nachgeborene. Sie überbieten deutlich so manche Unterbesetzung der letzten Jahrzehnte.

Juan Spivak gehört in den - zumindest deutsch-europäischen - Tenor-Parnass. Das ist viel behauptet. Unsere Sammlung weist es nach. Wie gesagt: Maßstäbe kommen aus dem Vergleich. Sänge Spivak heute, wäre er Weltstar.
                                                                                                          
                                                                                                                  
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© Klaus Ulrich Spiegel