Ernest Reyer (1823-1919)
SIGURD

Guy Chauvet
Andréa Guiot
Andrée Esposito
Robert Massard
Jules Bastin
Denise Scharley
Ernest Blanc
Nicolas Christou

Choeurs & Orchestre Radio Lyrique de la RTF
Manuel Rosenthal

Ernest Reyer (1823-1909)
SIGURD
Grand-Opéra in vier Akten und neun Bildern auf ein Libretto
von Camille du Locle & Alfred Blau nach dem Nibelungenlied
Uraufführung 7. Januar 1884 im Théâtre Royal LaMonnaie in Brüssel.

Rundfunkproduktion von Radio Télévision Françe - r. Paris 1974



Direction:  Manuel Rosenthal

Sigurd                                          Guy Chauvet
Brunehild                                    Andréa Guiot
Hilda                                            Andrée Espositio
Uta                                                Denise Scharley
Gunther                                        Robert Massard
Hagen                                           Jules Bastin
Le Grand-Prêtre                          Ernest Blanc

Rudiger                                          Bernard Demigny
Irnfried                                           Jean Dupuy
Hawart                                           Claude Meloni
Ramunc                                          Jean-Louis Soumagnas
Le Barde                                         Nicolas Christou


Choeurs & Orchestre Radio Lyrique de la RTF Paris

L’Action - Die Handlung

Zeit und Ort:

Worms und Island zu Zeiten Attilas im 5. Jahrhundert.

Erster Aufzug - Worms
Große Halle in Gunthers Burg
Adel, Krieger und Frauen Burgunds preisen König Gunther, der sich auf einen Feldzug vorbereitet. Gunthers Schwester Hilda grübelt über einen Traum, in dem ein edler Milan von einem wilden Adler gerissen wurde. Die Amme Uta deutet ihr den Traum: Der Milan stehe für einen Bräutigam, dem große Gefahr drohe. Hilda erklärt, sie wolle für immer auf Liebe verzichten. Sie habe die Werbung des Hunnenkönig Attilas zurückgewiesen, da sie hoffnungslos den Helden Sigurd liebe.
Uta verspricht Hilda einen Liebestrank, mit dem sie Sigurd sicher für sich gewinnen werde.
Gunther erscheint mit seinem Hofstaat, darunter Hagen, Rudiger, ein Barde und Gesandte Attilas. Der Hof bereitet ein Fest vor. Gunther bekräftigt sein Bündnis mit Attila. Er will die Walküre Brunehild als Gattin gewinnen. Hagen trägt ein Lied auf diese von Odin verbannte Maid vor, die auf Island schlafend in einem Palast aus feurigen Mauern ruht. Nur der stärkste aller Krieger könne die Flammen durchdringen, sie wecken und zur Frau nehmen.

Rudiger und sein Gefolge drängen Hilda, Attilas Werben nachzugeben. Sie schweigt und wirft sich Schutz suchend in die Arme ihres Bruders. Dieser erklärt, man solle Hildas Entscheidung akzeptieren, ruft zu neuer Trinkrunde auf. Da erschallen Trompeten. Hagen meldet die Ankunft eines stolzen Ritters in glänzender Rüstung.
In strahlendem Habit erscheint Sigurd. Er hat von Gunthers Wunsch erfahren, Brunehild zu gewinnen, und bekennt, dasselbe Ziel zu haben. Die Ritter sind zunächst empört über seinen Hochmut. Doch als der Ankömmling sich als Sigurd, Sohn König Sigemons vorstellt, verzichtet Gunther auf einen Kampf - denn Sigurd hatte einst seine Schwester Hilda aus Feindeshand gerettet. Beide Männer schwören einander ewige Freundschaft.
Hilda reicht Sigurd einen Pokal, um den Bund zu besiegeln – es ist Utas Liebestrank. Rudiger reicht Hilda im Namen Attilas ein Armband als dessen Abschiedsgeschenk. Sigurd trinkt - und entbrennt in jäher Liebe zu Hilda. Er verspricht Gunther, bei der Eroberung der Walküre zu helfen. Den Lohn dafür werde er nach erfolgreicher Rückkehr nennen.


Zweiter Aufzug - Island

Erstes Bild.
Heiliger Wald am Meeresufer. Opferaltar unter einer Linde
Unter Gesängen von Priestern und Volk bringt Odins Hoherpriester der Göttin Fréia als Opfer eine Krone dar.
Gunther erscheint mit Hagen, seinen Kriegern und dem bewaffneten Sigurd. Trompeten erschallen. Dem Hohepriester erklären die Ankömmlinge ihre Absicht, die schlafende Walküre zu wecken. Die Isländer warnen vor dem sicheren Tod, der ihnen durch die Magie des Orts drohe – doch die Burgunder lassen sich nicht abschrecken. Der Priester verkündet Odins Wort: Nur ein einziger Held könne Brunehilds Zauber lösen. Dieser müsse im dunklen Tal das heilige Horn erklingen lassen. Er müsse reiner als der Tagesanbruch sein und dürfe weder unter dem Joch einer Frau gestanden noch jemals Liebesworte gesprochen haben. Sigurd verlangt das heilige Horn Odins. Priester und Volk entschwinden in den Wäldern.
Sigurd erklärt sich für sicher, der von Odin Gemeinte zu sein. Er werde die Aufgabe bewältigen. Damit Brunehild ihn nicht erkenne, werde er mit Gunther die Rüstung tauschen und das Visier verschlossen halten. Dann werde er Gunther die Frau unberührt übergeben.
Der Hohepriester übergibt das Horn. Sigurd müsse es dreimal ertönen lassen. Dann werde der Palast einstürzen. Um der Rache der Geister zu entrinnen, müssten die Burgunder dann sofort die Rückfahrt antreten. Während der Vorhang niedergeht, entfernt sich der Chor. Sigurd bleibt allein zurück.


Zweites Bild. Das Totenfeld „Folkranger“
Eine düstere Ebene mit Grabmalen und und Druidensteinen.
Im Hintergrund ein mit Trauerbäumen umgebener See.


Sigurd gedenkt seiner Liebe zu Hilda, ruft Elfen, Kobolde und Geister herbei und bläst zum ersten Mal in das Horn.
Der Himmel verdunkelt sich. Es donnert und stürmt. Am Seeufer zeigen sich drei Nornen, die unter Tränen weißes Leinen ausbreiten. Sie bedeuten Sigurd, es handle sich um sein Leichentuch. Sigurd setzt erneut das Horn an - doch nun erscheinen unter Blitzen bewaffnete Walküren und suchen es ihm zu entreißen. Er bekämpft sie beherzt. Auch gegen weiter angreifende Geisterscharen gelingt es ihm, sich auf einen Felsen zu stellen und in das Horn zu blasen.
Der See ist in sanftes Licht getaucht. Walküren und Geister sind verjagt. Nixen erheben sich aus dem See. Elfen treten aus dem Wald. Tanzend versuchen sie, Sigurd in den See zu drängen. Eine Elfe stiehlt das Horn und entflieht. Unter Donner und Blitzen erscheinen Walküren und Geister aufs Neue. Dennoch gelingt es Sigurd, die Schwerter der Walküren niederzuschlagen und den Elfen das Horn zu entreißen. Er bläst zum dritten Mal hinein. Nach einem Donnerschlag führen die Nornen Sigurd zu dem flammenden Palast, der sich nun aus dem See erhebt. Seine Mauern stürzen ein und geben den Blick auf einen prachtvollen Saal frei.


Drittes Bild. Ein Saal im verzauberten Palast
Die drei Nornen bringen Sigurd zur schlafenden Brunehild. Er senkt sein Visier und erweckt sie. Brunehild erhebt sich, begrüßt beglückt ihren Befreier, schenkt ihm ihren Gürtel als Liebesbeweis, ermutigt ihn, sie mit sich in sein Heim zu führen. Dann sinkt sie mit ihm auf das Bett zurück. Sigurd gedenkt seines Schwurs für Gunther und legt sein Schwert zwischen sich und Brunehild. Dann beschwört er die besiegten Geister, sie zur Burg Gunthers zu tragen.

Viertes Bild
Der magische Palast wird wieder vom See verschlungen. Das Lager mit Sigurd
und Brunehild verwandelt sich in eine Kristallgondel und wird von den nun in Schwäne verwandelten Nornen fortgezogen. Die Landschaft hat ihren düsteren Charakter verloren; sie wird von magischem Licht erleuchtet. Der Vorhang senkt sich.

Dritter Aufzug - Worms

Erstes Bild. Ein Garten in Gunthers Burg
Ein unsichtbarer Chor ruft den noch schlafenden Gunther, um ihm die Rückkehr Sigurds zu melden. Uta und Hilda schleichen heran, um das Geschehen heimlich zu beobachten.
Gunther erwacht. Während die Sonne aufgeht, erscheint Sigurd mit der noch immer schlafenden Brunehild auf der Szene. Er berichtet von der erfolgreichen Befreiung der Walküre - und dass er seinen Schwur gehalten habe. Brunehild werde bald als Gunthers Braut erwachen. Er selbst erwarte nun seine Belohnung: Hildas Hand.

Brunehild erwacht in der Erwartung, ihren Befreier zu erblicken. Zunächst bezweifelt sie, dass Gunther es sein soll. Doch als er sich als König der Burgunder vorstellt, akzeptiert sie ihn als künftigen Ehemann und Herrn. Gunther triumphiert.
Hilda und Uta treten auf. Während Hilda in Freuden über Sigurds Liebe schwebt, hat Uta böse Vorahnungen. Sie mahnt dringlich, niemand dürfe jemals von ihrem Geheimnis - dem Liebestrank und seiner Wirkung - erfahren.


Zweites Bild. Eine große Terrasse in Gunthers Burg
Rechts das Schloss mit Tor und Eingängen. Im Hintergrund der Rhein.
Holzfäller, Schiffsleute, Jäger mit Frauen und Kindern beginnen ihr Tagewerk. Hagen verlässt das Schloß mit seinen Kriegern in Waffen. Er lässt einen Hornruf erschallen. Er kündigt die Hochzeit des Königs mit Brunehild an und fordert alle auf, der Braut einen triumphalen Empfang zu bereiten.
Der gesamte Hofstaat heißt Brunehild jubelnd willkommen. Gunther und Brunehild nehmen auf einem Thron vor der Burg Platz. Brunehild erhält Brautgeschenke nach germanischen Brauch: Von den Kriegern Rosse und Waffen, von den Frauen Wolle und Spindeln, von den Bauern Getreide und Früchte. Sie bedankt sich freundlich. Hagen kündigt zur Feier ein Turnier an.
(Ballett-Divertissement)
Auf dem Rhein erscheint ein mit Blumen geschmücktes Boot. Gunther fordert Brunehild auf, mit ihm zur priesterlichen Vermählungs-Zeremonie auf die andere Rheinseite überzusetzen.
Sigurd nähert sich zu Pferd mit Gefolge, um Hildas Hand zu gewinnen. Nach deren freudiger Zustimmung akzeptiert Gunther beider Heiratswunsch. Er bittet seine Braut, Hildas und Sigurds Hände symbolisch zu vereinen. Als sie jedoch Sigurds Hand berührt, erklingt Donnergrollen. Sigurd erschreckt - Brunehilds Hand scheint die seine zu verbrennen. Gunther deutet dies als gutes Vorzeichen für eine Doppelhochzeit - doch Uta erkennt darin eine Warnung des Himmels. Sie bricht zusammen. Die beiden Paare besteigen in das Boot und fahren auf dem Rhein davon.

Vierter Aufzug - Worms

Erstes Bild. Eine Terrasse in Gunthers Burg
Abends im Palast. Eine Treppe führt von den Gemächern der Königin
herab. Über den Stufen ein Portikus. Wälder am Horizont.

Die Frauen schöpfen Wasser aus einer Quelle. Dienerinnen berichten, im Palast sei die frühere Fröhlichkeit tiefer Traurigkeit gewichen, da Brunehild von einer mysteriösen Krankheit befallen sei.
Gestützt von ihren Kammerfrauen, tritt Brunehild wankend aus dem Palast und sinkt an der Quelle nieder. Sie gedenkt ihrer Verbindung mit Sigurd, den sie einstmals in der Schlacht gerettet hatte – der Grund für ihre Verbannung. Sie beschuldigt Odin, sie Gunther zur Frau gegeben zu haben, obwohl dieser Odins Bedingungen nicht selbst erfüllt habe. Ihre Liebe gehöre Sigurd. Sie sehnt sich nach ewiger Dunkelheit.
Von Eifersucht überwältigt, zeigt Hilda Brunehild einen Gürtel, den sie von Sigurd erhielt. Brunehild erkennt ihn als ihren Jungfrauengürtel, den sie Sigurd im Flammenpalast überreichte. Höhnisch verrät Hilda ihr, nicht Gunther habe sie erobert, sondern Sigurd. Sie prahlt, Sigurd habe nie eine andere geliebt als sie, Hilda. Brunehild ist überzeugt, dass nur ein Zauber der Grund für Sigurds Sinneswandel sein konnte: Sigurd und sie seien einst von den Göttern vereint worden.
Die Nacht ist angebrochen. Gunther und Hagen kommen mit Fackelträgern, um eine nächtliche Jagd auszurichten. Brunehild klagt Gunther des Betrugs an: Sigurd, der sie befreit habe, sei ihr von den Göttern bestimmt gewesen. Noch vor Tagesanbruch müsse entweder Sigurd oder Gunther sterben. Die Jäger rufen zur Jagd. Brunehild lässt Hilda, Hagen und Gunther zurück.
Hilda wirft sich Gunther zu Füßen und gesteht, sie es gewesen, die das Geheimnis an Brunehild verriet. Hagen gibt Sigurd die Schuld am Geschehen, da er sein und Gunthers Geheimnis vor Hilda enthüllt habe. Auch wegen seiner Liebe zu Brunehild, also der Untreue für Hilda, müsse er sterben.

Belauscht von Hagen und Gunther erinnert Sigurd sich wieder seiner Bestimmung für Brunehild.
Brunehild betritt die Terrasse. Sie hat ihr Königinnenkleid durch einen mit Blumen und Kräutern geschmückten Schleier verhüllt, der die Kraft hat, Zauber zu brechen. Sie überreicht Sigurd einige Blüten, bittet ihn, diese in die Quelle zu werfen und dabei einen Spruch nachzusagen. Sigurd gehorcht. Der Zauber schwindet - und Sigurd entbrennt wieder in Liebe zu Brunehild. Er verspricht, Gunther in einem ehrenvollen Zweikampf zu besiegen.

Gunther ruft Hagen zu, Sigurd müsse sterben. Er folgt Sigurd. Brunehild bleibt erschüttert zurück. Ihr verzweifelter Ausruf „Sigurd wird sterben!“ lässt Hilda herbeieilen. Brunehild fleht sie an, mit ihr Sigurd zu retten. Doch Hilda will Sigurd lieber tot als in den Armen einer Rivalin sehen. Erst als Brunehild verspricht, sich loszusagen, ist sie bereit zu helfen.
Plötzlich bricht hinter der Szene Tumult aus. Brunehild spürt, dass Sigurd bereits tödlich getroffen ist.
Der sterbende Sigurd wird von Jägern herbeigetragen. Uta und die Frauen treten aus dem Palast. Alle beklagen den Tod des Helden. Sigurd verlangt ein letztes Mal nach Brunehild. Sie erklärt, mit ihm sterben zu wollen.
Als Gunther schwört, den Mörder zu strafen, entgegnet Hilda, er selbst sei der Mörder; die Strafe der Götter sei ihm sicher. Wenn Attilas Heere sein Reich zerstören, werde sie über sein Schicksal lachen. Hagen zieht sein Schwert, um sie zu töten. Gunther hält ihn zurück. Hilda übergibt Uta das von Attila geschenkte Armband. Er solle es zurücknehmen und für sie furchtbare Rache üben.


Zweites Bild. Apotheose
Sigurd und Brunehild entschweben auf einem Regenbogen in Odins Reich. Sie sind endlich vereint. Ein himmlischer Chor verkündet das Ende ihrer Leiden. König Attila schwingt über den Leichen burgundischer Krieger sein Schwert.

Die französische Götterdämmerung
und ihr Schöpfer:

Louis-Etienne-Ernest Reyer

Im ausufernden Wirkungsstrom der zeitenwendigen Musik Richard Wagners und

seiner Musikdramen auf die abendländische musiktheatralische Praxis und Präsentation erreichte dessen Werk in Frankreich emphatische Zustimmung bis zu rauschhafter Begeisterung. Die Pariser Erstaufführungen seiner Bühnenwerke zum Finale des 19. Jahrhunderts (gesangshistorisch: im ersten Age-d’Or) ließen sein frühes Scheitern im Pariser Tannhäuser-Skandal von 1861 hinter sich, waren mit den größten Gesangsstars der Grand-Opéra besetzt und hatten jahrzehntelange Folgen für Repertoire und Spielpläne bis tief in das Opernwesen der sogenannten Provinz, kaum weniger als

im deutschen Sprachraum. Dies allerdings durchweg ohne ideologische, nationalreaktionäre Beladung und Belastung, vielmehr geprägt von genussvoller Rezeption der als sensationell, innovativ, sinnenreizend erlebten Wagnerschen Form- und Klangsprache, in rahmensprengender Fülle, Farbenpracht, tonaler wie dramatischer Überwältigung. Wie in der gesamten folgenden Musikhistorie spornte dies ganze Generationen von Tondichtern zu neuen Werken zwischen Neu- und Nachschöpfung, einschließlich Alternativ- und Kontrastwirkung an. Dafür stehen Großsymphoniker wie Berlioz, Franck, Saint-Saëns und Musikdramatiker wie Bizet, Massenet, Lalo, Chabrier, Debussy, Chausson …  

Mitten in dieser Entwicklung steht der Komponist, der in deutschen Kulturwelten auch nach über 100 Jahren entweder gar nicht beachtet oder als absonderlicher Exot oder als eine spezialisierte Randerscheinung angesehen, in Frankreich hingegen in seiner Ära als bedeutender, langezeit auch populärer Vertreter der großen Spätromantik und als französischer Nachfahre des Gesamtkunstwerkers Wagner galt: als Meister musikdramatischer Werkschöpfung, großorchestraler Farb-Exotik und als Bühnen(-Gesangs)-Komponist mit den Fähigkeiten zur Belebung und Vollendung der Tradition der Grand-Opéra, insofern auch als ein Thronerbe Halévys und Meyerbeers:

Louis-Etienne-Ernest Reyer - geboren mit dem Familiennamen Rey, am 1. Dezember 1823 in Marseille, verstorben am 15. Januar 1909 in Le Lavandou (Department Var / Côte d’Azur). Er war zu gleichen Teilen Komponist und Musik-Fachautor/Musikkritiker.

Seine an den Meistern der Symphonik orientierte Werkrichtung nannte man „Neoromantik“. Er schrieb also in einem neoromantischen Stil, schuf Orchester-, Klavier- Vokal- und Chorwerke. Doch er arbeitete hauptsächlich und in allen Genres im Geiste der Bühnendramatik. Auch in seinen rein konzertanten Werken treten dramatische Züge hervor. Seine kompositorischen Mittel stehen in der Tradition von
Hector Berlioz und Richard Wagner. Das macht sich in der Orchesterbehandlung, Akzent- und Farbensetzung, auch in der Anwendung von Leitmotiven erkennbar. Sein musikalischer Stil unterscheidet sich jedoch deutlich von dem Wagners. Er selbst formulierte: „Wagner ist der einzige Komponist, der Wagnerianische Musik schreiben konnte“. Durch seine Vorliebe für fernkulturelle, namentlich tropisch-bizarre Themen wie in der Tondichtung Le Sélam oder dem Ballett Sacountalâ gilt Reyer als dominanter Vertreter eines musikalischen Exotismus. Dieses und die im Théâtre Royal de LaMonnaie in Brüssel uraufgeführten großen Opern Sigurd und Salammbô hielten sich für längere Zeit auf den Spielplänen.

Nach ersten eher laiengemäßen Studien bei dem Philosophe-Compositeur Bernard Barsotti an der Musikschule von Marseille wandte sich Reyer zunächst einer administrativen Tätigkeit in Algerien zu. Er arbeitete von 1839 bis 1848 als Angestellter seines Onkels Louis Farrenc im Finanzwesen von Constantine. 1847 begann er kleinere Stücke zu komponieren, schuf dann zur Begrüßung des Duc d’Aumale in Algier eine Messe, die auch respektabel aufgeführt wurde. Über Nacht galt er als Tonschöpfer-Talent.

Gegen den Rat seiner Eltern kehrte Reyer 1848 nach Frankreich zurück und nahm unter Anleitung seiner Tante, der Klavier-Professorin Louise Farrenc, ernsthafte musikalische Studien auf. Am 5. April 1850 wurde im Théâtre-Italien de Paris mit großem Nachhall seine Ode Le Sélam uraufgeführt. In deren Folge suchte Hector Berlioz Reyers Freundschaft. 1866 bis 1909 arbeitete der neu etablierte Musiker als Bibliothekar der Pariser Oper. Zugleich engagierte ihn die Zeitschrift Journal des Débats als Autor und Rezensenten. Sein Ruf breitete sich aus: Reyer schrieb hinfort Berichte und Kritiken für diverse Printmedien, so für La Revue française, Le Courrier de Paris, La Presse und Le Moniteur universel. 1875 erschien eine Sammlung solcher Artikel als Buch unter dem Titel Notes de Musique.

Ernest Reyer war ein sanguinischer, lebenszugewandter Kulturmensch - Kollegen und Interpreten freundschaftlich verbunden, bei Fachwelt und Publikum geachtet, nach seinen großen Bühnenerfolgen geradezu populär. Man sah in ihm nicht nur einen Suivant contraire Richard Wagners, sondern auch einen Vollender der Grand-Opéra und der Opéra-lyrique. International berühmte, bis heute legendäre  Spitzensänger/innen der École française du chant rissen sich um Führungspartien seiner Werke, vor allem der beiden letzten und auch musikhistorisch wichtigsten: also in Sigurd (UA: Léon Gresse, Rose Caron, Blanche Deschamps, Maurice Renaud) und in Salammbô (UA: Rose Caron, Edmond Vergner, Maurice Renaud, Henri Sellier). Die Titelpartie des Sigurd war - und ist wieder - eine Referenz für große Ténors dramatiques - im Golden Age beispielhaft: Léonce Antoine Escalais, Agustarello Affre, Émile Scaramberg, Paul Franz, Charles Rousselière, César Vezzani, dann Georges Thill, später Gaston Micheletti, René Verdière, José Luccioni, René Maison …

Sigurd und Salammbô gehörten jahrzehntelang zum festen Repertoire der französischen, zeitweise auch englischsprachiger Opernhäuser. Seit den 1930ern ging ihre Präsenz langsam zurück. Heute sind sie vor allem Publikumsrenner bei Opernfestivals (wie Montpellier, Aix, Orange), in Konzertauführungen und Rundfunkproduktionen. Unsere Einspielung von RTF Paris 1974 steht beispielhaft für das kulturelle Nachkriegsschaffen in der Fünften Republik mit ihrer Neublüte strahlkräftiger Institutionen und Repräsentanzen. Wie praktisch alle wenigen verfügbaren Tonmitschnitte ist sie (um ca. 20 Minuten gegenüber der Gesamtpartitur) gekürzt, vermittelt jedoch interpretatorisch einen authentischen Eindruck des heute skandalös selten aufgeführten, alleinständigen, in jedem Bezug unvergleichlichen Werks.

Ernest Reyers Bühnenwerke
·  Maître Wolfram (Meister Wolfram), opéra comique in einem Akt;
    Libretto:
Joseph Méry und Théophile Gautier; UA: 20.5.1854, Paris, Théâtre-Lyrique
·  Sacountalâ, ballet-pantomime in zwei Akten
    Libretto: Théophile Gautier; UA: 14.7.1858, Paris,
Opéra
·  La Statue, opéra comique in drei Akten
    Libretto:
Michel Carré & Jules Barbier; UA: 11.4.1861, Paris, Théâtre-Lyrique
·  Erostrate, Oper in zwei Akten; Libretto: Joseph Méry & Emilio Pacini
    UA: 21.8.1862, Baden-Baden; deutsche Fassung von Draxler & Pasqué
·  Au port; opéra comique in einem Akt;
    Libretto:
Jules Ruelle& Gaston Escudier; vermutlich nicht aufgeführt
·  Sigurd, Oper in vier Akten
    Libretto:
Camille du Locle & Alfred Blau nach dem Nibelungenlied
    UA: 7.1.1884, Brüssel, Théâtre de LaMonnaie
·  Salammbô, Oper in fünf Akten; Libretto: Camille du Locle nach Gustave Flaubert
    UA: 10.2.1890, Brüssel, Théâtre de LaMonnaie

Denkmal Ernest Reyers in Marseille

Acteurs & Interprètes
Unsere Einspielung von RTF Paris 1974 versammelt führende
dramatische Sängerstimmen der damaligen französischen Opernszene
unter der Leitung eines der bedeutenden Universalisten der
französischen Dirigentenschule:

 

Manuel Rosenthal (1904-2003 / Dirigent & Komponist)
studierte Violine und Kontrapunkt am Conservatoire de Paris. War seit 1925 Schüler Maurice Ravels. Ab 1934 als Dirigent tätig, erst als Assistent von Désiré-Émile Inghelbrecht, dann als Chef des Orchestre National de la Radiodiffusion Française. 1944 Chefdirigent des Orchestre de Paris, 1948 Leiter des Seattle Symphony Orchestra, 1964-67 auch des Orchestre Symphonique de Liège. Seit 1962 Professor für Orchesterleitung am Pariser Conservatoire. Komponist von Opern, Balletten, Tondichtungen. Bearbeiter von Ravel-Werken. Uraufführungs- und Tournée-Dirigent zeitgenössischer Werke von Debussy, Schönberg, Hindemith, Strawinski, Bartók, Satie. Autor musikhistorischer Literatur, u.a. einer Ravel-Monographie. Viele Tonaufnahmen französischer Opern & Operetten.


Guy Chauvet (1933-2007 / Tenor)
Geboren in Montlucon/Auvergne. 17jährig entdeckt bei einem Stadtfest, dann am regionalen Konservatorium ausgebildet. 1954 jüngster Sieger beim Concours de Chant in Cannes neben Gustave Bottiaux, Tony Poncet, Alain Vanzo. Pariser Debüt 1959 an der Grand-Opéra als Geharnischter in Mozarts Zauberflöte. Nach Nebenrollen in Verdis Aida und Saint-Saëns‘ Samson et Dalila rasch im ersten Fach, so als Titelträger in Berlioz‘ Damnation de Faust. Mit 32 Jahren in der Führungposition als Ténor dramatique am Pariser großen Haus - mit Partnerinnen wie Tebaldi, Crespin, Sutherland, Gorr, Cossotto, Horne, alternierend mit Jon Vickers, Mario del Monaco, Carlo Bergonzi, später auch Placido Domingo. Gast der großen Musikbühnen Mittel- Südeuropas. Einziger französischer Radames in der Arena di Verona. 1977 erstmals an der Metropolitan Opera NYC. Vorrangpartien: Don José, Raoul, Robert, Jean, Samson, Énée, Radames, Otello, Canio, Florestan, Lohengrin, Siegmund - aber auch Gounods Faust & Roméo, Donizettis Edgardo, sogar Bellinis Arturo. Chauvet galt als letzter Repräsentant des ehemals reich besetzten, nach den 1930/40ern kaum mehr vertretenen Fach des französischen Heldentenors.

Andréa Giuot (*1928 / Sopran)
studierte seit 1952 am Conservatoire de Paris und gewann fünf erste Preise in Gesangswettbewerben, darunter den Prix Osiris 1955. Sie erhielt Verbund-Engagements als Gast der Vereinigung nationaler Opernbühnen. Von 1956 bis 1973 war sie Ensemblemitglied der Grand Opéra de Paris, dann als Gast auch an der Opéra Comique.. Sie verkörperte zunächst Lirica-Partien wie Marguerite und Micaéla, seit 1959 vor allem Rollen des dramatischen Fachs: Darin gastierte sie an allen französischen und vielen internationalen Bühnen, von Staatsoper Wien bis Teatro Colón B-Aires - vor allem mit Verdi- und Verismo-Heroinen, aber auch in Opern aus Vorklassik, Barock, Belcanto und Moderne. Ihren Bühnenabschied nahm sie als Elisabetta in Verdis Don Carlos 1975 in Strasbourg. Dann wurde sie als Professorin für Gesang und Bühnendarstellung ans Pariser Conservatoire berufen. Sie ist Chevalier des Ordre National du Mérite de la République und Trägerin des Ordre des Arts et des Lettres.


Andrée Esposito (* 1934 / Sopran)
wurde ausgebildet bei Mme. Fouillhé in Algier, in Paris bei Charles Panzéra und Jean Giraudeu. Debüt in Nancy, schnelle Karriere an allen französischen Opernhäusern. 1959 erstmals an der Pariser Opéra als Verdis Violetta. Mitglied beider Pariser Opernhäuser. Gastspiele in ganz Europa. Sie war Frankreichs Belcanto- & Koloratursopranstar ihrer Epoche. Gefeiert auch als Operettendiva und Film-Actrice. Zahlreiche Tonaufnahmen.

Robert Massard (* 1925 / Bariton)
Der berühmteste französische Bariton in den 1950-70er Jahren. Erst in Amateurschulung, dann nach Sieg im Concours de Chant in Bayonne: Profi-Ausbildung bei Madeleine Mathieu. Debüt gleich an der Grand Opéra Paris. An dem berühmten Haus mit triumphaler Laufbahn als Protagonist aller Fächer von Barock, Klassik, Belcanto bis Verismo und Moderne. Gefeierter Verdi-Interpret. Partner der Sänger-Weltelite, auch auf Tonträgern, so mit Callas, de los Angeles, Crespin, Horne, Verrett, Gedda, Simoneau, Christoff ... Gastspiele auf drei Kontinenten, an allen wichtigen Opern-Weltbühnen. Zahlreiche Tonaufnahmen in einem breiten italo-französischen Rollenspektrum. Bis 1986 Professor am Conservatoire von Bordeaux.

Denise Scharley (1917- ? / Mezzosopran)
Studium am Conservatoire National de Paris; Abschluss mit drei Gesangspreisen. Debüt1942 an der Pariser Opéra-Comique als Geneviève in Debussys Pelléas, dann in allen Mezzo-Partien des Repertoires. 1947-48 fest am LaMonnaie in Brüssel, dann freie Gastsängerin in Frankreich und Italien, so in Mailand, Turin und Rom. Ab 1951 im Ensemble der Pariser Grand Opéra, dazu mit Gastauftritten an den führenden Häusern von West- und Südeuropa. Letzte Auftritte 1982 in Paris.


Jules Bastin (1933-1996 / Bass)
Belgiens führender Basse-profonde zwischen 1960-1980. Erst Schulpädagoge. Ausbildung bei Frédéric Aspach in Brüssel. Debüt gleich am LaMonnaie. Rasche Karriere als universeller Bassist in ganz Europa - von London bis Moskau, Glyndebourne bis Neapel, in USA und Canada mit allen Partien aller Epochen für Basso serioso. Tonaufnahmen mit Werken von Monteverdi bis Mozart, Bellini bis Janácek und R.Strauss. In Belgien bisher ohne Nachfolger.


Ernest Blanc (1923-2010 / Bariton)
Neben Massard Frankreichs Charakterbariton No.1 in den 1950-70er Jahren. Ausgebildet am Conservatoire Toulon, Debüt 1950 als Tonio in Marseille. 1954-1980 Mitglied der Grand Opéra Paris. 1958 Debüt als Telramund bei den Bayreuther Festspielen. Weltkarriere mit Verdi, Wagner & Verismo: London, Wien, Brüssel, NYC, Chicago, San Francisco, Mailand, Neapel, Rom, Florenz, Barcelona, Lissabon und internationale Opernfestivals. Viele repräsentative TT-Produktionen.


Claude Meloni (* 1940 / Bariton)
Schüler von Janine Micheau am Pariser Conservatoire. Debüt 1966 in Contes d’Hoffmann in Lyon. Seit 1969 in Aufgaben für Bariton-lyrique an beiden Pariser Opernhäusern. Auftritte in ganz Frankreich und Belgien. Geschätzt in Charakter-, Buffo- und Operetten-/Musical-Partien. Glänzender Darsteller. Auch als Pianist aktiv.



Jean Dupuis (* 1925 / Tenor)
In Nachschlagewerken und Archiven erstaunlich unberücksichtigter, doch exzellenter, universell einsetzbarer Ténor lyrique. An der Grand Opéra Paris mit langer Laufbahn in einem Rollenrepertoire nahezu ohne Grenzen. Besonders markant in Aufgaben für Charaktertenor - von Rossini bis Strawinsky.


Nicolas Christou (1943 / Bassbariton)
Geboren aus griechischer Familie in Ägypten, aufgewachsen in Belgisch-Kongo. Studium seit 1962 in Brüssel. Debüt 1965 am LaMonnaie. Langsam sich steigernde Kariere von Klein- zu Zentralpartien, vor allem als Charaktersänger von Don Pizarro und Golaud bis Wotan und Philippe II. Engagements in Bern, Genf, Bremen, Düsseldorf, Lyon, Liège, schließlich Opéra-Comique Paris. International als Gastsänger geschätzt - in Partien von Mozart bis Mussorgskij und Wagner, Verdi, R. Strauss bis Alban Berg.

 

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© Klaus Ulrich Spiegel