Zeuge einer
(noch) GoldenenÄra
Der respektable Universaltenor John Gläser
Es gab im deutschen Sprachraum einmal eine Zeitphase kultureller Blüte, die sich in weiten Teilen als solide Basis
alltäglichen künstlerischen Schaffens, Vermittelns, Präsentierens darstellte. Das war die Epoche der deutschen Hof-, Staats- und Stadttheater, vom Sprech- übers Musik- bis zum Mehrspartenhaus, deren
eines zu unterhalten der Stolz, aber auch eine Selbstverständlichkeit deutschen urbanen Lebens war. Diese Ära hielt oder revitalisierte sich en suite – ungeachtet allfälliger Destruktionen und
Schrecklichkeiten von Weltkriegen und Gewaltherrschaften. Man kann ihre Dauer grob von Jahrhundertmitte zu Jahrhundertmitte ansetzen: vom Zenit reichsweiten deutschen Stadtbewusstseins im 19. bis zum
kulturellen Wiederaufbau total zerstörter Infrastrukturen nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Eine Basis deutscher Kulturblüte
Eine weltweit einzigartige Konstante dieser flächendeckenden Reichskulturlandschaft waren die etablierten Compagnien mit
ihren festen Solisten-(Sänger-/Schauspieler-/Tänzer-)Ensembles und Klangkörpern. Die Bedeutung solcher Verbände für die gesamtstaatliche Kulturentwicklung ist etwa daran abzulesen, dass sich die
Groß- und Spitzen-Institute wie auch die ersten großen Festivals aus ihnen bedienten, ohne damit Basisstrukturen zu beeinträchtigen. Ein Beispiel: Die Bayreuther Festspiele, seit Eröffnung 1876
zunächst wichtigstes Musiktheaterfestival des Kontinents, bezogen einen Großteil ihrer Mitwirkenden nicht nur aus Berlin, Wien, Dresden, München, New York, sondern auch aus Leipzig, Köln, Mannheim,
Hannover, Karlsruhe. Damit wurden auch Sängerpersönlichkeiten, deren Arbeitsalltag sich in mittelstädtischen Opernensembles vollzog, zu bedeutenden und berühmten Interpreten mit überregionaler bis
internationaler Ausstrahlung, seit der Jahrhundertwende auch auf Tonträgern, mit Breitenwirkung, sogar über kontinentale Grenzen hinaus.
Solche Solisten, bewährte Ensemble-Sänger mit kontinuierlicher Gastspiel-Praxis, finden sich in den Record Indexes der
frühen Schallplattenindustrie zuhauf. Allein in den Chroniken der Hofopernhäuser von Mannheim und Karlsruhe stehen Solisten von Wagner-Uraufführungen und Bayreuth-Produktionen. Auch in späteren
Jahrzehnten, sogar noch in der spannenden, von unschätzbarer Rundfunkarbeit mitgeprägten Nachkriegsära 1945-1970 ff., gab es, wenn auch vereinzelt, solche Erscheinungen: Weltrangsänger, die ihrem
Heimathaus verbunden blieben, weil sie dort ein Erprobungs- oder Ausgleichs-Repertoire singen konnten (so „auch als Wagnersänger mal einen Tamino“) - wie etwa Walburga Wegner in Köln,
Wolfgang Windgassen in Stuttgart, Jean Cox in Mannheim.
Das Phänomen: Ensemblesänger mit Star-Ruhm
Einige Jahrzehnte zuvor waren solche Beispiele Legion – und die gleichsam umgekehrten Fälle nicht minder. In den
Recording-Archiven und -Katalogen des frühen 20. Jahrhunderts finden sich in Fülle auch Aufnahmen mit Sängerinnen und Sängern von eher regionaler, großstädtischer Bedeutung, die selbst Kennern heute
nur dem Namen nach oder gar nicht präsent sind. „ … selbst solche, die in den Annalen der großen Operninstitute als Hausbesetzung galten oder nur gelegentlich als Gäste erscheinen, … oft ihr ganzes
Sängerleben lang an Hof- oder Hauptstadt-Theatern eine solide Laufbahn absolvierten. Dass sie dennoch Aufnahmen für öffentlichen Handelsvertrieb machen konnten, erscheint uns angesichts heutiger
Produktions- und Vermarktungsbedingungen weithin wie ein Mirakel. … Vorrangig an Stammhäusern waren zum Beispiel tätig die Tenöre
Robert Hutt in Berlin. Max Hirzel in Dresden. Carl Günther in Hamburg. Willy Zilken in Leipzig. Josef Schöffel in Prag. Carl Hauss in Hannover. Wilhelm Ulmer in Düsseldorf. Fritz Rémond in Köln … und
viele mehr“ (s. Textbeitrag zur CD Alfred Färbach / HAfG
10566)
Diesen hier beispielhaft genannten Tenören entsprachen ebenso wichtige Soprane, Altistinnen, Baritone, Bässe. Ein beinahe
nationalszene-typisches Großensemble, wie man es sich heute kaum mehr vorstellen kann, das uns aber beweiskräftig als Tonerbe erhalten ist – eben durch die erstaunlich vielen, offenbar für Regional-
und sogar Lokalmärkte realisierten Solo-Arien- und Lied-Aufnahmen der Schellackzeit.
Einer der namhaften Sänger dieser Kategorie war der Tenor, den diese CD vorstellt: der dominant mit dem Opernhaus
Frankfurt/M. verbundene John Gläser. Seine tönende Hinterlassenschaft entstand mehrheitlich noch in der entwickelten Acoustics-Ära, enthält aber auch frühe elektrische Aufnahmen aus
1930-32. Sie liefern ein profiliertes Abbild der deutschen sängerischen Standards in der ersten Jahrhunderthälfte. Dazu aber auch einigen Vergleichsstoff zu heutigen
Urteilsmaßstäben.
JOHN GLÄSER (Tenor) (eigentlich Hans Gläser)
* 12. Juni 1888 Berlin - † 27. Mai 1968 Frankfurt am Main
Der Tenor war während der Hauptphase seiner Sängerlaufbahn als Ensemblemitglied an das Opernhaus Frankfurt am Main gebunden. Ihm gehörte er von 1917 bis 1942 an. Er
trat auch als Gast an großen Musikbühnen auf – so in Berlin, München, Hamburg, Wien, in Großstädten und an Landesbühnen des ganzen deutschen Sprachraums, schließlich in frühen Radiosendungen. Aber er
strebte keine internationale Karriere an. Einen Hinweis dazu gab er selbst: „Ich genieße die Resonanz meines Frankfurter Publikums. Von ihm fühle ich mich getragen.“ Er wird als bescheidener,
humorvoller Privatmann ohne Allüren geschildert.
Gläser verbrachte seine Kindheit und Jugend in Berlin, absolvierte dort auch ein Gesangsstudium. Leider geben die
Fachlexika dazu keine Auskünfte. Noch als Studierender war er Mitglied des Berliner Dom- und Hofchores. Seit 1909 sang er auch im Chor der Komischen Oper Berlin, erwarb sich also früh Bühnenpraxis
und Auftrittssicherheit. Sein Solistendebüt hatte er 1911 am Opernhaus Ulm, trat bald darauf auch am thüringischen Hoftheater Altenburg auf. 1912 erhielt er ein festes Engagement ans Opernhaus
Breslau, blieb dort fünf Spielzeiten. Dann folgte seine Verpflichtung nach Frankfurt – und dort fand er seine nicht nur künstlerische, sondern auch Lebensheimat. Von Anfang an hatte er großen Erfolg
bei Publikum und Medien, vor allem als Lirico spinto im italienischen und französischen Fach. Er sang die Standardpartien von Verdi bis Puccini, Thomas bis Bizet, dazu das deutsche
Lirico-Tenor-Repertoire, von Mozart über die Spieloper bis zu jugendlichen Helden der Romantik.
Schon 1913 hatte Gläser in der deutschen Erstaufführung von Mussorgskijs Boris Godunov in Breslau den Grigorij
(Dimitrij) gegeben, 1924 folgte in Frankfurt der Vassilij Golyzin in Chovantshtshina. 1920 war er in der Uraufführung von Franz Schrekers Der Schatzgräber in der Titelrolle des Elis
spektakulär erfolgreich. Das hob seinen Ruf auf Hof- und Staatsopern-Höhe: 1926 war er der Bacchus in der Salzburger Festspielproduktion der Ariadne auf Naxos von Richard Strauss. Danach
wurde er zur ersten Reihe deutscher Tenöre gezählt, verglichen mit Völker, Rosvaenge, Patiera, Taucher, Wittrisch. Von Mitte der 1920er bis etwa Weltkriegsbeginn war er geschätzter oftmaliger Gast an
den Staatsopern Dresden und Stuttgart, auch im westeuropäischen Ausland, besonders in Frankreich und der Schweiz.
An seinem Stammhaus Frankfurt wuchs Gläser kontinuierlich auch ins Fach des Tenore drammatico, mit Partien wie Florestan,
Max, Canio, sogar Othello, dann den Wagner-Rollen Erik, Lohengrin, Stolzing, Loge, Parsifal. Seine Domäne aber blieben die Lirico- und Spinto-Partien: Mozarts Tamino und Don Ottavio.
Verdis Herzog, Manrico, Alfredo, Adorno, Riccardo, Radames. Puccinis Rodolfo, Cavaradossi, Dick Johnson, Kalaf. Mascagnis
Turiddu. Offenbachs Hoffmann. Bizets Don José. Meyerbeers Vasco. Tshajkovskijs Hermann. Von Max von
Schillings der Salviati in der damals vielgespielten Mona Lisa. Von Richard Strauss neben Bacchus auch der Kaiser in der Frau ohne Schatten. Von Wolf-Ferrari die
veristisch-dramatische Titelpartie im Sly. Als mögliche künstlerische Krönung schließlich der Palestrina in Hans Pfitzners gleichnamiger Musikalischer Legende. Gläser hatte auch als
Operetten-Bonvivant große Erfolge, so mit Johann Strauß, Carl Millöcker, Franz Lehár.
Paradetyp des deutschen Lirico Spinto
John Gläser verkörperte also, manchem zeitgenössischem Fachkollegen ähnlich, eine Stellung und tendenziell auch
gesangliche Statur im Vorgriff auf die 1950/60er Jahre, also die Vor-LP-Zeit mit ihrer Flut von Single-Schellacks mit deutsch gesungenen Solo-Arien oder Duetten aus den Standard-Repertoires, mit den
immer wieder aufgenommenen Favorites für ein breites Käuferpublikum, der Zuspitzung des Angebots auf Tenöre – so wie es (inkl. Radio und Tonfilm) etwa mit Anders und Schock, auch Ludwig, Dermota,
Friedrich, Hopf, Terkal vermarktet wurde. Gläser wirkt, auch in der tenoralen Attitüde bei einigen Stücken wie ein Aviso auf diese Zeit, in der aber gerade seine Platten schon vom Markt verschwunden
waren.
Die Anzahl seiner Aufnahmen – zwischen 1919 und 1932, erst bei Grammophon, dann bei Parlophon – bleibt hinter der
einiger Zeitgenossen, nicht zu reden von Tauber, aber auch Rosvaenge, Ludwig, Wittrisch, sogar von Völker, zurück. Er hat immerhin ca. 50-60 Titel eingesungen. Ein Großteil davon ist vorerst
Archivbestand. Unsere Auswahl präsentiert 23 Tracks in breitgefächerter Auswahl, berücksichtigt auch sechs Stücke aus dem dramatischen Fach und zwei (leider zeittypisch mit Orchester begleitete)
Lieder. Den Schwerpunkt bilden italienische und französische Lirico-Dauerbrenner, den Rest drei deutsche Soli von Mozart, Flotow, Kienzl. Die Gläser-Diskographie enthält aber auch mehr als ein
Dutzend Trink-, Wander- und Stimmungs-Lieder, dazu zwei Konzertlieder von Richard Strauss, zwei Operetten-Couplets, eine Canzone italiana, und eine Handvoll Opernsoli, deren Fehlen hier besonders
schmerzlich erscheint, so aus Verdis Maskenball und Smetanas Verkaufter Braut. Die Wertschätzung des Tenors erhellt auch aus der Wahl seiner Partnerinnen, in unseren Beispielen
solche Jahrhundertgrößen wie Seinemeyer und Bettendorf.
Der ganzen Sängergestalt John Gläser ist damit noch nicht Genüge getan. Man kann vermuten, dass seine spezielle
Tonbildung, sein eher metallisches als samtenes Timbre und vor allem seine klare, präzise Artikulation, wie überhaupt seine gestalterische Intelligenz exzellente Darstellungen problematischer,
intriganter oder tragisch-verschatteter Gestalten für dramatischen Charaktertenor begünstigt haben dürften, den Sänger also bei heutiger Repertoire-Aufnahmebreite persönlichkeitsschärfer dokumentiert
haben könnten – etwa als Grigorij, Hermann, Elis, Sly, Palestrina.
Damit ist auch ein Hinweis auf Gläsers spezifische Eigenschaften und Qualitäten präsentiert. Er hatte ein von Natur für
den Zwischenfachbereich geeignetes, für jugendlich-dramatische Bühnencharaktere wie geschaffenes Organ mittleren Volumens, von eher gelb- als silber-metallischer Färbung. Sein Ton wird mit hörbarer
Atemspannung auf fester Stützung gebildet und mit geringem, dennoch belebendem Vibrato in Klang umgesetzt. Das gibt der Stimme auch in rein lyrischen Phrasen ein verhalten-viriles Schallgepräge. Die
Register werden mit gleichsam disziplinarischer Konsequenz verblendet. Der Klangstrom vermittelt, bildhaft formuliert, den Eindruck einer naturbelassenen Tonsäule.
Trotz durchwegs spannungsvoller Tonbildung ist Gläsers vornehmlich schwingungsbetontes Singen vom Legato geprägt. Der Ton
ist weit vorn platziert und durchwegs hell, ab mittlerer Höhe vibrant und strahlend. Intonation und Artikulation sind von hoher Präzision, haben die Qualitäten eines exzellenten Drammatico und
Charaktersängers. Beachtlich sein Stimmumfang, der ohne Druck in baritonale Regionen herabzusteigen vermag (zu hören in Hildachs „Der Lenz“). Die
hohe Tessitura ist zwar aus der Hochstellung des Gaumensegels gebildet (das C‘‘ in Fausts Cavatine wird mit einer Beimischung von Falsett erzeugt), kommt dennoch klar und klangvoll, wenn auch an
schwierigen, besonders hochliegenden Übergängen ein wenig angestrengt, gut zu hören in Eriks höhenvertrackter Cavatine „Willst jenes Tags …“, vom Sänger als eine Tour d’effort
absolviert.
Gestern Standard – und heute?
Diese Eigenschaften im Verbund befähigen den Sänger, sich in seinen wenigen Wagner-Aufnahmen in der ersten Reihe zu
positionieren; vor allem als Stolzing gibt er Paradevorstellungen. Im gängigen italofranzösischen Repertoire und in primär lyrischen Stücken hält er das (notorische?) Allgemein-Niveau seiner Zeit,
wie man es von den berühmten deutschsprachigen Kollegen kennt – Abweichungen hin zu dramatischeren Varianten sind allenfalls bei Mozart zu hören. Das schließt allerdings auch ein paar kleine Defekte
bzw. Defizite ein, die nach dem Verlust der Grammatik klassischer Gesangskunst im veristisch geprägten Musikdrama fast obligatorisch geworden scheinen und auch in Vergleichsaufnahmen von
Wittrisch, Anders, Friedrich, Fehenberger, Schock & Co. (und erst ab Wunderlich nicht mehr) latent sind: Anschleifen von Tönen, leichte Gefühlsdrücker, verlängerte Fermaten …. Bei einem
Präzisions-Intonator wie Gläser fallen sie vielleicht kaum ins Gewicht, dafür aber umso eher auf.
Im Kriegsjahr 1942 jährte sich der Beginn von John Gläsers Frankfurter Engagement zum 25. Mal. Stadt, Publikum und Medien
feierten ihn noch einmal mit großem Aufwand. In einer Jubiläums und Abschiedsvorstellung von Leoncavallos Bajazzo (I Pagliacci) gab er ein letztes Mal den Canio, eine seiner
Glanzpartien. Er blieb dem Metier verbunden: als angesehener Gesangspädagoge und als engagierter Interessenvertreter seines Berufsstands. 1961 wurde er zum ehrenamtlichen Präsidenten der
Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger gewählt. Gläser war mit der Sopranistin Agnes Werninghaus (1893-1960) verheiratet, einer Lirica und Soubrette, die ebenfalls in Frankfurt wirkte
und vielfach mit ihm auf der Bühne stand.
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Wie ist dieser Tenor in der Gesangshistorie einzuordnen? Maßstäbe kommen immer aus dem Vergleich. Man mache sich also zum
Exempel bewusst, mit welchem Ausmaß von Ruhm und Preis, etwa als Wagner-Interpreten, als „Sänger des Jahres“ und Recital-Stars für alles und jedes, die beiden derzeit (= Mitte des 2010er-Jahrzehnts)
weltweit erfolgreichsten deutschen Tenöre überschüttet, gefeiert und vermarktet werden. Und in welcher Dimension Ähnliches den beiden vorausgehenden, vorgeblich (= medial) führenden deutschen Tenören
der 1980-90er Jahrzehnte zuteil wurde. Man setze dann einen Tenor „mittleren“ Rufs wie Gläser daneben. Kein Zweifel: Der wäre heute wohl ein Weltstar.
So ändern sich Zeiten und Werte? Mag so sein – ist aber gar kein Grund, Maßstäbe dranzugeben. Für Kenner, Kritiker,
Sammler: John Gläser verdient Beachtung, auch oder gerade im Heute.
KUS