Il Tabarro
Oper in einem Akt
Libretto von Guiseppe Adami / Deutsche Fassung von Ludwig Hartmann
Uraufführung: 14. Dezember 1918 New York City, Metropolitan Opera
TV-Produktion des Westdeutschen Rundfunks
r. 1961 Köln
Leitung: Alberto Erede
Marcel, Herr des Schleppkahns | Marcel Cordes |
Georgette, seine Frau | Helga Pilarczyk |
Henri, Löscher | Ernst Kozub |
Stockfisch, Löscher | Herold Kraus |
Maulwurf, Löscher | Heiner Horn |
Frettchen, Maulwurfs Frau | Hildegund Walther |
Ein Liedverkäufer | Erwin Wohlfahrt |
Ein Liebespaar | Leonore Leitner |
Alfons van Goethem |
Kölner Rundfunkchor
Rundfunk-Sinfonieorchester Köln
Ort und Zeit: Paris. Auf einem Seine-Schleppkahn. Gegenwart.
Giacomo Puccini gehört nicht im engeren Sinne in die Reihe von Repräsentanten der Verismo-Epoche. Doch ist die Eigengesetzlichkeit seines vornehmlich lyrischen Personalstils ohne die Ausbreitung der naturalistischen Kompositionsrichtung und ihrer verbindenden Ausdrucksformen undenkbar. Nach einer Reihe von Welterfolgen, die ihre bleibende Popularität einer spezifischen, sinnreizenden Farbsetzungs- und Melodiebildungskunst, auch der ergreifenden Zeichnung zentraler Frauenfiguren verdanken, führt Puccinis Entwicklung in seiner späteren Schöpferphase stärker auf Stoffe und Kompositionsmerkmale des Verismo zu — gut erkennbar an inhaltlichen wie formalen Gegensätzen etwa zwischen Manon Lescaut und La Bohème einerseits und La Fanciulla del West und Il Trittico andererseits. Alle Puccini-Werke bieten Belege einer ganz individuellen, bezwingenden, sentimal-dramatischen Melodik, aber auch bis zur Entäußerung gesteigerten, konzis-kompakt dargebotenen Hochdramatik.
Den Verismo individualisierend und zugleich überschreitend, entwickelt Puccini in immer neuen Varianten seine eigene Manier einer seismografischen Nachzeichnung menschlicher Regungen. Im Herbst seines Lebens schuf er sein Triptychon aus drei Einaktern. Im ersten Segment Il Tabarro (Der Mantel), einem erschütternden Bild der Conditio humana, führt er das Heraufziehen des Unheils mit musikalischer Unerbittlichkeit vor.
Der alternde Schiffer Michele/Marcel und seine junge Frau Giorgetta/Georgette stehen vor den Trümmern ihrer Ehe. Gefühle können sich ändern; doch der Schatten eines verstorbenen Kindes verdunkelt auch die Erinnerung an vergangenes Glück. Georgette sucht Liebe bei dem Löscher Luigi/Henri; die beiden verabreden ein Treffen auf Marcels Schleppkahn. Marcel spürt, dass er betrogen wird. In ergreifenden Worten erinnert er sein Weib an die Zeit, da er sein nun verstorbenes Kind schützend in seinen Mantel hüllte. Er grübelt darüber, wer ihm sein Glück nahm, vergräbt sich selbst in den Mantel, entzündet seine Pfeife, starrt in die Fluten der Seine. Eine Gestalt huscht an Bord. Marcel packt sie, identifiziert den Löscher Henri als Liebhaber seiner Frau, erkennt deren Lügen und seine eigene Isolation. Doch ehe er sich mit diesem Schicksal abfinden kann, soll der Tod ein anderes Glück zerstören. Er erwürgt den Nebenbuhler und wickelt ihn in den Mantel. Als Georgette sich nähert, zieht er sie unter den Mantel, aus dem ihr Henris Leiche entgegen rollt. Marcel packt die Frau und drückt sie hart auf das Antlitz des Toten.
Im Tabarro werden detailgenau und differenziert Milieu und Seelenzustände miteinander verknüpft. Die Musik führt suggestiv die szenische Atmosphäre vor —
die gesamte Komposition ist eine Abfolge von Stimmungsbildern. Die Handlung ist statisch, ereignislos bis zur aufbrechenden Katastrophe des Ehedramas am Schluss. Die kreative Erfindung weist nicht
mehr die Ursprünglichkeit früherer Werke Puccinis auf, wirkt aber in ihrer Sensibilität, Stimmungsfülle, Spannkraft stark und fesselnd. Naturalistische Kolorierungen vermitteln Klangbilder von
eigenartigem Reiz: das unendliche Fließen des Stromes, die verstimmte Drehorgel, ein Zapfenstreichsignal. Episoden von subtiler Zartheit kontrastieren mit leidenschaftlichen Ausbrüchen. Der Monolog
Fließe, ewiges Wasser
weist Marcel als eine der markanten Männergestalten in Puccinis Œvre aus. Eindringliche Deklamation und herb-düsterer Grundton durchziehen das ganze Stück. Es gehört zu
den am wenigsten bekannten Werken Puccinis, auf deutschen Opernbühnen wie auch Platteneinspielungen eine Rarität.
Die Uraufführung 1918 im Rahmen des ganzen Trittico hingegen war ein weltweit beachtetes Ereignis an prominentester Stelle, der New Yorker Metropolitan Opera. Unter dem Supervising des Komponisten sang eine Weltstarbesetzung mit Luigi Montesanto (Michele/Marcel), Claudia Muzio (Giorgetta), Giulio Crimi (Luigi/Henri), Angelo Bada (Stockfisch) und Adam Didur (Maulwurf). Unser Tondokument ist die Tonspur einer Kölner TV-Produktion der deutschen Fassung unter dem damals als Decca-Chefdirigent und Leiter des römischen Accademia di Santa Cecilia prominenten Alberto Erede in der Fernsehregie von Günter Rennert.
Alberto Erede (∗ 1908 Genua – † 2001 Monte Carlo) gehörte seit den 1940er Jahren zu den herausragenden Vertretern der von Toscanini, Marinuzzi und Sabata geprägten Spitzengruppe italienischer Maestri. Er war Schüler von Felix Weingartner und Assistent von Fritz Busch. 1930 schon debütierte er als Orchesterleiter an der Academia di Santa Cecilia in Rom. 1935 war er Chefdirigent in Turin, dirigierte dort erstmals Wagners Ring. 1934 bis 1939 arbeitete er als Operndirigent in England. 1934 bis 1938 war er zugleich Musikdirektor in Salzburg, ab 1949 Chef des Sinfonieorchesters der RAI Torino. 1950 bis 1955 wurde er von Rudolf Bing als Chefdirigent für das italienische Fach an die Metropolitan Opera New York verpflichtet. Seit Beginn der 1950er war er der leitende Dirigent der Decca Schallplattenproduktion fürs italienische Opernrepertoire. Zeitgleich begann er eine ausgedehnte Gasttätigkeit an führenden europäischen Opernhäusern, darunter die DOB Berlin. 1956 wurde er von Intendant Hermann Juch als GMD an die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf/Duisburg geholt, wo er über 1100 Vorstellungen dirigierte. Seit 1961 leitete er auch das Göteborg Symphony. Er feierte Erfolge an der Mailänder Scala, Covent Garden, in Genf und Wien, Salzburg, Tokio und Sydney. In Bayreuth leitete er 1968 den Lohengrin.
Marcel Cordes (∗ 1920 Stelzenberg/Pfalz – † 1992 Wörgl/Tirol); eigentlich Kurt
Schumacher. Absolvent der Musikhochschulen von Kaiserslautern und Mannheim, Schüler von Richard Schubert und Fritz Krauss, studierte Tenor- und Baritonpartien. Debütierte als Bariton, begann aber als
Tenor im Lirico-Spinto-Fach, kam über Kaiserslautern ans Nationaltheater Mannheim, studierte um und begann ab 1951 am Staatstheater Karlsruhe eine zweite Karriere als Bariton. Sie führte ab 1954 als
Ensemblemitglied an die Bayerische Staatsoper, von dort mit Teilverträgen an die großen Häuser in Berlin, Düsseldorf/Duisburg, Stuttgart, Köln, Zürich, mit Gastspielen auch in Hamburg und Wien,
schließlich an große europäische Musikbühnen wie Staatsoper Wien, Scala di Milano, San Carlo Neapel, La Monnaie Brüssel, Grand-Théâtre de Genève, Opéra de Paris, zuletzt mit weiterem Vertrag an der
Volksoper Wien. Er wurde als deutscher Bariton von Weltrang berühmt — namentlich in Verdi-Partien, mit Rigoletto, Nabucco, Renato, Simone Boccanegra, Posa und Ford im Mittelpunkt, doch auch mit
Werken des Belcanto, Verismo, deutscher Spieloper und Spätromantik, schließlich von Richard Wagner und Richard Strauss. 1962 ‑ 64 sang er bei den Bayreuther Festspielen. Einer Einladung an
die New Yorker Metropolitan Opera konnte er 1956 wegen Terminproblemen nicht folgen. Er war auch im Konzertsaal präsent, unter bedeutenden Dirigenten und als Liedsänger. Ab 1956 entstanden
Schallplatten, seit 1955 weit mehr Rundfunkeinspielungen, dazu Operngesamtaufnahmen und TV-Auftritte. Cordes galt als Spezialist für Opernpartien des 20. Jahrhunderts — so von R.Strauss, Pfitzner,
Orff, Egk, Strawinsky, Sutermeister. Die Ertaubung eines Gehörgangs steigerte die Belastungen des Sängers in exzessiver Bühnenpraxis, dann wurde eine Diabetes-Erkrankung diagnostiziert. Als er diese
1969/70 nicht mehr ignorieren konnte, zog Cordes sich von der Bühne zurück. Er lebte bis zu seinem Tod in Tirol. Ein Sängerstipendium In memoriam Marcel Cordes
bei der Tiroler Academia Vocalis
erinnert an den außerordentlichen Künstler.
Helga Pilarczyk (∗ 1925 Schöningen – † 2011 Hamburg) war eine universelle Sopranistin mit einem Repertoire jenseits enger Fachgrenzen. Auf dem
Höhepunkt ihrer Karriere galt sie als deutsche Primadonna der Moderne
. Sie wurde als Pianistin ausgebildet, wechselte dann in Braunschweig, später Hamburg zum Gesangsstudium. Debütierte als
Operettensängerin, trat seit 1951 in der Oper auf — am Staatstheater Braunschweig erst als Soubrette, dann als Mezzo und Spielalt, schließlich als Dramatischer Sopran. 1954 ‑ 1968 war sie
im Ensemble der Hamburgischen Staatsoper, gastierte sodann mit internationalem Radius mehr und mehr im Konzertsaal, vor allem mit zeitgenössischer Musik, der auch ihre wichtigsten Bühnenpartien
entstammten: Marie im Wozzeck, Titelpartie in Lulu, Jocasta in Oedipus
Rex, Mutter in Dallapiccolas Il Prigionero, Renata in Prokofievs Feurigem Engel, dazu Puccinis Turandot und die Färbersfrau in R.Strauss’ Frau ohne Schatten. Sie wirkte in Berlin in der turbulenten Uraufführung von Henzes
König Hirsch und an der Hamburger Oper unter Rolf Liebermanns Intendanz in Uraufführungen von Křenek, Strawinsky, Liebermann mit. Berühmt wurden ihre
Interpretationen von Schoenbergs Erwartung und Pierrot lunaire. Pilarczyk war an vielen großen Häusern und bei
Festivals der Neuen Musik gefragt und gefeiert. Ihre Tonaufnahmen von Werken der Moderne gelten noch heute als Maßstab.
Ernst Kozub (∗ 1924 Hamborn – † 1971 Bad Soden) war einer der interessantesten und stimmlich eindrucksvollsten, aber in Aspekten auch problematischen Tenöre der Nachkriegsepoche. Begabt mit einer herrlichen Naturstimme mit Optionen bis ins schwere Heroenfach, scheint er immer wieder durch psychische oder musikalische Probleme an voller Entfaltung einer Starkarriere gehindert gewesen zu sein. Er war Rheinländer, studierte und debütierte aber im östlichen Teil Deutschlands, nach Studien an der Musikhochschule Weimar ab 1950 an der Komischen Oper Berlin, erst als Tenore leggiero und Lirico, wuchs ab 1954 am Opernhaus Frankfurt/M. ins dramatische Fach, war ab 1962 an der Hamburgischen Staatsoper und an der damaligen Städtischen Oper Berlin. Er wurde vom Frankfurter GMD Georg Solti stark gefördert, ab dessen Direktion am Covent Garden auch nach London engagiert, wo er u. a. Siegmund in Wagners Ring sang. Er begann, eine internationale Laufbahn als Gastsänger für Heldentenor-Partien zu entwickeln, so an der Scala Milano, der DOB Berlin, am Colón Buenos Aires, beim Maggio Musicale Fiorentino, in Italien, Frankreich, Südamerika, bei den Festspielen in Salzburg und Bayreuth (1970 Stolzing). 1966 sang er an Londons Sadler’s Wells Opera den Kaiser in der englischen Erstaufführung der Frau ohne Schatten. 1967 erlitt er einen schweren Unfall, versuchte seine Laufbahn wieder aufzunehmen, verstarb aber plötzlich 1971. An entscheidenden Stationen der großangelegten Karriere, so bei der Einspielung von Wagners Ring mit Solti und Culshaw, hatte er Umsetzungsprobleme und musste ersetzt werden. So wurde er kein Star des Schallplattenmarkts, obwohl zahlreiche großartige Aufnahmen in den Archiven liegen. Das Hamburger Archiv hat ihm eine große CD-Edition gewidmet.
KUS