Giacomo Puccini (1858 – 1924)

La Bohème

 

Musikalisches Drama in vier Akten von Luigi Illica & Giuseppe Giacosa
nach dem Roman Vie de Bohème von Henri Murger
Uraufführung: 1. Februar 1896 Torino, Teatro Regio
Deutsche Fassung von Ludwig Hartmann (1897 Berlin)

 

Studioproduktion des Hessischen Rundfunks - r. 1951 Frankfurt/M.
 

Leitung: Kurt Schröder

 

Rudolf Franz Fehringer
Marcel Kurt Gester
Schaunard Frithjof Sentpaul
Collin Otto von Rohr
Mimi Elfride Trötschel
Musette Marie Madlen Madsen
Bernard August Heimpel
Alcindor Herbert Hess
Parpignol Eugen Willmann

 

Chor des Hessischen Rundfunks
Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks

 


Die Handlung

 

Ort und Zeit: Paris um 1830

 

Erster Akt — Eine Dachwohnung

Der Dichter Rudolf und der Maler Marcel sitzen am Weihnachtsabend frierend in ihrer kalten Mansarde. Hunger und Geldnot sind bei ihnen heimisch. Um den Raum etwas zu erwärmen, verbrennt Rudolf seine Manuskripte. Deprimiert kehrt der Philosoph Collin von einem erfolglosen Gang zum Pfandhaus zurück. Der Musiker Schaunard, Vierter im Bunde, hat mehr Erfolg gehabt. Er bringt Essen, Wein und etwas Geld. Die Stimmung wandelt sich in Ausgelassenheit. Es erscheint der Hauswirt Bernard und fordert die rückständige Miete. Die Freunde setzen ihm Wein vor, bis der Alte sein Begehr vergisst und Liebesabenteuer zum Besten gibt. Daraufhin werfen ihn die vier mit gespielter moralischer Entrüstung hinaus. Nun wollen sie im Café Momus weiterfeiern. Rudolf bleibt zurück, um einen Text zu beenden. Da kommt Mimi, die Flurnachbarin. Sie bittet, ihre Kerze anzünden zu dürfen, die der Wind ausgelöscht habe. Als Mimi wieder gehen möchte, verliert sie ihren Wohnungsschlüssel. Rudolf, von ihr bezaubert, findet ihn, verschweigt es aber. Die beiden erzählen ihre Lebensgeschichten und gestehen einander ihre Liebe.

 

 

Zweiter Akt — Das Café Momus im Quartier Latin

Im Quartier Latin herrscht vor dem Café Momus buntes Treiben. Musette, die frühere Geliebte Marcels, erscheint mit einem vornehmen Kavalier namens Alcindor. Als sie und Marcel einander erblicken, erwacht ihre Liebe neu. Unter dem Vorwand, auf der Stelle ein Paar neue Schuhe zu benötigen, schüttelt Musette ihren Begleiter ab. Die aufziehende Wache verursacht großes Gedränge. Die Freunde nützen die Gelegenheit, um mit den Mädchen zu verschwinden. Alcindor bleibt nichts anderes übrig, als die Zeche zu bezahlen.

 

 

Dritter Akt — Ein Wirtshaus an der Stadtgrenze

An einem kalten Wintermorgen kommt Mimi zum Wirtshaus, um Marcel zu sprechen, der dort malt. Starker Husten quält sie. Sie bittet Marcel, ihr zu helfen, denn Rudolf habe sie aus Eifersucht verlassen. Rudolf aber erzählt seinem Freund den wahren Grund seines Verhaltens. Er meidet Mimi, weil er weiß, dass sie unheilbar krank ist und er sie in seiner Armut nicht genügend pflegen kann. Mimi, die das Gespräch belauscht hat, tritt aus ihrem Versteck. Sie weiß jetzt, dass sie sterben muss, und nimmt wehmütig Abschied von Rudolf. Marcel streitet sich inzwischen eifersüchtig mit Musette, die ihm schließlich davonläuft.

 

 

Vierter Akt — Die Dachwohnung der Freunde

In der Dachkammer sind Rudolf und Marcel wieder beisammen. Sie versuchen zu arbeiten und bemühen sich dabei, voreinander ihre Sehnsucht nach Mimi und Musette zu verbergen. Schaunard und Collin servieren eine karge Mahlzeit, bei der die vier trotz allem bald ausgelassen und fröhlich werden. Da kommt Musette mit der todkranken Mimi. Collin opfert seinen Mantel, um Geld für Medikamente aufzutreiben. Doch alle Bemühungen um Mimis Rettung sind vergeblich. Während Rudolf in Erwartung des angekündigten Arztes neue Hoffnung schöpft, bemerken die Freunde, dass Mimi bereits entschlafen ist. Verzweifelt weinend wirft sich Rudolf über die tote Geliebte.

 

 


 

Bleibendes Lieblingsstück
der ganzen Opernwelt

 

Giacomo Puccini (∗ 22. Dezember 1858 in Lucca ‑ † 29. November 1924 in Brüssel) stammte aus einer regional bekannten Musikerfamilie. Er gilt nach Richard Wagner und Giuseppe Verdi als bedeutendster Opernschöpfer der internationalen Musikszene im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahr­hundert. Mit seinem Konzept der italienischen Oper und seinem individuellen Schöpfergenie für Melodien eroberte er die Bühnen der Welt. In deren Repertoire behaupten seine Werke bis heute ihren Platz. Sein künstlerisches Schaffen — zwölf Opern — umfasst die 40 Jahre zwischen 1884 bis 1924. Die Bewertungsunterschiede halten an: Gehören Manon Lescaut, La Bohème, Tosca, Madama Butterfly, La Fanciulla del West, Turandot zur Spätromantik — oder sind sie spezifisch geprägte Zeugnisse des sogenannten Verismo?

 

Nach einer ersten Musikausbildung in seiner Heimatstadt begann Puccini am Milaneser Konservatorium bei Bazzini und Ponchielli ein weiterführendes Studium. 1884 fand in Mailand die Uraufführung seiner ersten Oper Le Villi statt. Der Erfolg des romantischen Stücks brachte ihm einen Vertrag mit der Edizione Ricordi ein. 1989 musste der Komponist mit seiner zweiten, ebenfalls romantischen Oper Edgar einen Misserfolg erleben. Begeisterte Aufnahme fand hingegen 1893 im Teatro Regio von Turin Manon Lescaut unter Leitung des jungen Arturo Toscanini. Dieses Werk ließ erstmals das künstlerische Profil Puccinis erkennen; sie ist sein erstes Meisterwerk. Danach schuf er mit La Bohème ein sogleich vielbeachtetes Stück, das von der Uraufführung an als Prototyp der italienischen Oper des ausgehenden 19. Jahr­hunderts bewertet wurde.

 

Der Erfolg blieb Puccini treu bis zu seinem (von Toscanini unvollendet uraufgeführten, aber von Franco Alfano vollendeten) Schwanengesang Turandot. Mit nahezu allen seinen Opern ab La Bohème ist das gesamte Œuvre Puccinis auf den Bühnen präsent. Das verdankt es der hervorstechenden Originalität von Melos, Instrumentation, Charakterisierungsgenie und vor allem einer spezifischen Klangaffektion, die unmittelbar zu Herz und Sinnen spricht, besonders merkfähig ist, geradezu suchtauslösend wirken kann, sich somit ideal zur massenhaften Vermarktung eignet. Unabhängig von solchen Wirkungen: Puccinis Opern begründeten ein Musiktheater, das sich in der internationalen Opernkultur neben denen Giuseppe Verdis und Richard Wagners seinen festen Platz eroberte.

 

 

Ein Geniestreich künstlerischer Geschlossenheit

Die Oper La Bohème hat keine Ouvertüre; sie ist als durchkomponierte dramatische Großform in vier Bildern angelegt. Sie gilt weithin als das bedeutendste Opernwerk der italienischen Oper nach Verdi. Die Szenen sind wie die Musik von menschlich unmittelbarer Wirkung. Text und Musik bilden eine absolute Einheit. Das Themenmaterial ist ganz auf das szenische Geschehen abgestimmt, bei dem in kontrastreicher Gegenüberstellung lyrisch-sentimentale mit humorvollen, lebendigen Partien abwechseln. Die Themen treten zumeist als melodische Kürzel auf, sie werden jedoch ausgiebig als Leitmotive verwendet — doch nicht wie bei Wagner als dramatische, nahezu sinfonische Orientierungsposten, sondern in symmetrisch gebauten, geschlossenen Gebilden, die oft nur einige wenige Takte oder kurze Perioden umfassen. So ist, wie der Komponist selbst sagte, der ganze letzte Akt aus logischen Erinnerungsmotiven aufgebaut.

 

Für die orchestrale Einleitung und den Beginn der Oper verwendete Puccini Teile aus einem 1882 komponierten sinfonischen Capriccio, und Rudolfs Arie im ersten Akt verwendet Rohmaterial aus dem Entwurf einer nicht realisierten Oper nach Vergas veristischer Erzählung La Lupa. Die im ganzen italienischen Opernschaffen typisch gewesene ariose Ausarbeitung zentraler melodischer Einfälle für Bravour-Soli, Duette und Ensembles, die noch in Manon Lescaut feststellbar ist, wird in La Bohème verfeinert und mit mehr individueller Dezenz verarbeitet. Das wirkt sich prägend auch auf die überaus subtile Instrumentation aus, die in lyrischem Duktus und feinen Klangmischungen eine beinahe diskrete Brillanz gewinnt. Auch in der Harmonik werden Klangbildungen hörbar, die zu Puccinis Spezifika werden sollten: Absteigende Figuren, Quintenparallelen, gehäufte Dreiklänge.

 

 

Drei Meister für ein Meisterwerk

In langer, stets unbefriedigter Suche nach geeigneten Sujets und mehr noch nach befähigten Librettisten ließ sich Puccini zu einer Lösung herbei, die sich als glückhaft, im Ergebnis als geradezu perfektionistisch erweisen sollte. Er zog die einander hoch achtenden Dichter Giuseppe Giacosa und Luigi Illica zu kooperativem Wirken heran. Giacosa galt als ein führender Poet der Spätromantik, Illica als praxisnaher Theaterautor von Graden. Beide arbeiteten intensiv mit dem Komponisten zusammen — La Bohème kann also als ein aus gleichem Geist erwachsenes Opus dreier bedeutender Künstler gelten, die mit den Szenen aus dem Leben der Bohème des Pariser Romanciers Henri Murger eine ebenfalls respektable Vorlage adaptierten.

 

Die Entstehungsgeschichte von La Bohème ist überschattet vom Bruch der ursprünglichen Freundschaft Puccinis mit Ruggiero Leoncavallo, dem Komponisten der I Pagliacci, einem Schlüsselwerk des Verismo. Leoncavallo hatte am selben Murger-Sujet gearbeitet, und seine Schöpfung war weit fortgeschritten, als die beiden Komponisten von der Gleichzeitigkeit der Projekte erfuhren. Der Konflikt war noch dadurch angeheizt, dass Puccini bei Giulio Ricordi, Leoncavallo hingegen bei der mit diesem scharf konkurrierenden Edizione Sanzogno unter Vertrag war. La Bohème begründete Puccinis Weltruhm — sie ist bis heute das wahrscheinlich meistgespielte, zumindest das meistaufgenommene Opernwerk überhaupt. Leoncavallos durchaus attraktive und wertvolle Oper gleichen Namens (aber anderer Dramaturgie und Personenausstattung) musste diesem Erfolg zum Opfer fallen.

 

 

Opernarbeit im deutschen Radiobetrieb

Nach dem glänzenden Erfolg der Turiner Uraufführung machte La Bohème rasch ihren Weg auf die Opernbühnen Italiens, dann der ganzen Welt. Das Werk ging sogleich ins Stammrepertoire praktisch aller Opernhäuser ein — und blieb darin bis heute. Die erste Tonaufzeichnung wurde schon 1918, noch akustisch, also vor dem Aufnahmetrichter, produziert. Seit Einführung des elektrischen Tonaufzeichnungsverfahrens erschienen Gesamtaufnahmen in steter Abfolge — mit den berühmtesten lyrischen Sängern der Welt, seit Beginn der 1940er auch unter führenden Dirigenten der großen Klassik: so unter dem Uraufführungs-Dirigenten Arturo Toscanini, dann Krauss, Beecham, Serafin, Leindorf, Karajan, Solti, Prêtres, Schippers, C. Kleiber, Davis, Levine bis zu Gelmetti und Nagano. Unter den berühmtesten Mimi-Sängerinnen waren: Pampanini, Albanese, Sayao, Moore, Tebaldi, Carteri, de los Angeles, Callas, Freni, Scotto, Moffo, Lorengar, Ricciarelli, Caballé bis zu Cotrubas und TeKanawa. Und als Rodolfo glänzten: Giorgini, Marini, Gigli, Lauri-Volpi, Tokatyan, Jagel, Peerce, Tagliavini, Poggi, Tucker, Björling, di Stefano, Bergonzi, Corelli, Raimondi, Gedda, Kraus, Kónya, Pavarotti, Aragall, Domingo, Carreras bis zu Leech, Araiza, Alagna. Und das ist nur eine Auswahl.

 

Auch Aufnahmen der deutschen Fassung gab es immer wieder — so mit Cebotari/Rosvaenge, Eipperle/Fügel, Ilitsch/Delorko, Schymberg/DeLuca, Eipperle/Terkal bis zu Lorengar/Kónya. Dabei schlug, direkt nach dem 2. Welt­krieg, das Bedürfnis der neuen regionalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten durch, einen Grundbestand an Opern-Eigenproduktionen, der Zeit entsprechend in deutscher Sprache, im Hausarchiv zu haben. Konkret: Beinahe jedes Rundfunkhaus schien eine eigene Version der allerpopulärsten Standardwerke produzieren zu wollen. Dabei war der Hessische Rundfunk besonders rührig, allerdings zumeist mit in Direktnähe greifbaren Solisten. So entstand schon 1951 in Frankfurt das vorliegende Tondokument. In dieser Produktion vereinten sich solide Erstfachsänger der Frankfurter Oper mit überregional berühmten Namen — also Fehringer und Gester plus Frankfurter Comprimarii mit Elfride Trötschel und Otto von Rohr. Der Repertoire- und Sammelwert der Aufnahme gründet sich vornehmlich auf diese beiden Solisten, denn beide sind in diesen Partien sonst nirgends dokumentiert.
 

 


 

Aus der Zeit großer Rundfunkproduktionen

 

Kurt Schröder (∗ 1888 ‑ † 1962), der Betreuer und musikalische Leiter vieler HR-Opernproduktionen, war von 1946 bis 1953 Chefdirigent beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks. Der Aufbau eines Grundbestands an Repertoireopern — populär oder rar, jedenfalls breitgefächert — für ein Millionen-Hörerpublikum im weitgehend noch zerstörten, seiner Berliner Hauptstadtkultur beraubten Deutschland, war Ausdruck vielfältiger kulturpolitischer Basis- wie auch Erneuerungsarbeit. Schröder hatte neben Musik auch Germanistik und Philosophie studiert. Er begann als Dirigent und Solorepetitor in Chemnitz, wurde Leiter der Oper in Königsberg, war später Generalmusikdirektor in Coburg, Operndirektor in Münster und schließlich 1. Kapell­meister des Opernhauses Köln. In den 1930er Jahren komponierte und arrangierte er Filmmusik (Heinrich VIII., Schwarze Rosen). Als Chefdirigent des HR-Sinfonieorchesters stand Schröder von 1947 bis 1951 in Partnerschaft mit dem namhaften Komponisten, Dirigenten, Musikwissenschaftler Winfried Zillig als Conductor in Residence. In dieser Partnerschaft entstanden wichtige Tondokumente, nicht zuletzt von Zillig-Kompositionen. Schröder selbst hat beim HR zahlreiche Opernproduktionen herausgebracht, die nach einem halben Jahrhundert wieder veröffentlicht wurden, u. a. Wagners Tannhäuser (mit Eipperle, Joesten, Treptow, Schlusnus, von Rohr) und Rheingold (mit Frantz und Sattler) oder Verdis Die sizilianische Vesper (mit Cunitz, Rosvaenge, Schlusnus, von Rohr) — und diese Bohème, nach sechs Jahrzehnten im Archiv endlich wieder zugänglich.

 

Franz Fehringer (∗ 1910 ‑ † 1988) war einer der meistbeschäftigten und beliebtesten Radio-Tenöre der Nachkriegszeit. Er wuchs in Baden auf, machte eine Kaufmannslehre, sang zugleich in Männerchören und im Nussdorfer Elite-Quartett. Durch Vermittlung des Chordirektors kam er zum Gesangsprofessor Zimmermann an die Badische Hochschule für Musik in Karlsruhe. Der attestierte seiner Tenorstimme lyrische Eleganz und melancholisches Timbre. Zwei Jahre studierte Fehringer Gesang, vor allem bei dem Bariton Jan van Gorkom. 1934 debütierte er als Konzertsänger in Beethovens 9. Sin­fonie und erhielt ein Engagement am Staatstheater Karlsruhe. 1935 bis 1938 war er festes Ensemblemitglied. Mit der Titelpartie in Händels Xerxes unter Joseph Keilberth erreichte er sofort Ansehen. 1938 bis 1944 war er am Staatstheater Wiesbaden, wo er das ganze lyrische Fach mit den Schwerpunkten Mozart und deutsche Spieloper bewältigte. Nach Kriegsende hatte er bis 1948 auch einen Gastvertrag am Nationaltheater Mannheim. Seither trat er auch in Konzerten mit Oratorien und Liedprogrammen auf. Mit Beginn der 1950er Jahre erhielt er ständig Einladungen zu Rundfunkaufnahmen, so vom Hessischen, Süddeutschen, Nord- und Westdeutschen Rundfunk. Immer öfter wurde er im Radio auch als Operettenheld beschäftigt. In Dutzenden Gesamtaufnahmen von Oper und Operette, auch in Querschnitten, Medleys und Soloaufnahmen ist er als der Rundfunktenor der 1950er bis 70er schlechthin dokumentiert, noch vor Glawitsch, Löhe, Terkal und sogar Schock. Ein Teil dieser Produktionen wurde, zumeist bei DG-Polydor, auch auf Schallplatten verbreitet. Zu seinen Opernpartien zählten Tamino, Don Ottavio, Almaviva, Nemorino, Fenton, Chateauneuf, Graf Eberbach, Vogelweide, Hoffmann, Hans, Naraboth, Flamand, Eisenstein. Ab 1965 betätigte Fehringer sich verstärkt als Gesangslehrer, blieb neben seiner längst permanenten Beschäftigung als Operettentenor beim Rundfunk aber weiterhin als Liedsänger aktiv. Seine Stimme war eigentlich nicht mit Italianità beschenkt, sie klang eher ein wenig spröde, mitunter trocken und wäre sicher bestens für Charakterpartien geeignet gewesen — doch seine Musikalität, Stilsicherheit und Singtechnik ließen ihn auf vielen Feldern reüssieren. Den Rudolf in La Bohème dürfte er nur in seinen frühen Jahren auf der Bühne verkörpert haben, Puccini-Partien oder ‑Soli scheint er sonst nicht eingespielt zu haben. Das macht diese HR-Radioproduktion besonders interessant.

 

Elfride Trötschel (∗ 1913 ‑ † 1958), Tochter des Orgelbauers Albert Trötschel, war Schülerin namhafter Sänger-Pädagogen der Dresdner Musikszene, u. a. von Helene Jung und Paul Schöffler. Karl Böhm engagierte sie 1933 als Elevin an die legendäre Dresdner Semperoper, an der sie bis 1950 auftrat. Dort entwickelte sie sich von Comprimaria-Rollen über Spielopern-Partien ins lyrische und sogar jugendliche Fach. 1950/51 war sie Mitglied der Berliner Staatsoper, zugleich Gast an der Komischen Oper Berlin. Ab 1951 bis zu ihrem frühen Tod war sie Ensemblemitglied der Städtischen Oper (der heutigen Deutschen Oper) Berlin. In Dresden, wo sie 1950 zur sächsischen Kammersängerin ernannt wurde, und in Berlin war sie bald ein Publikumsliebling. Ihr Repertoire reichte von Soubretten wie Lortzings Marie und Gretchen, Ännchen, Despina über Lyrische wie Susanna, Zerlina, Pamina, Smetanas Marie, Rusalka, Micaela, , Nedda, Zdenka bis zu Jugendlich-Dramatischen wie Contessa, Elvira, Agathe, Tatjana, Katharina, Jenufa. Dazu trat sie in einem breiten Programm von Konzertstücken und Oratorien auf, so in Bachs Passionen, Händels und Haydns Chorwerken oder in Mahlers 4. Sinfonie. In den 1930ern und in der kurzen Zeit ihres Nachkriegswirkens gastierte sie in London, Marseille, Lissabon, Florenz, Neapel, bei den Festivals von Salzburg und Glyndebourne. Sie starb, nur 44 Jahre alt, ganz plötzlich an einem Krebsleiden. Ihre bei Sammlern hochgeschätzten Tonaufnahmen präsentieren sie vornehmlich im lyrischen Opernfach und als Konzertsopranistin. Ihre individuell timbrierte, ausdrucksstarke Stimme hatte einen spezifischen Silberklang. Doch eigentlich war sie das, was man einen Charaktersopran nennt — schlank, doch belastbar, ein wenig körnig im Ton, mitunter von herbsüßem Ausdruck, der auch neckisch-zickige Züge annehmen konnte. Ideal also für Charakterpartien. Die Dokumentation ihrer Interpretation einer italienischen Lirica-Partie wie Puccinis Mimi ist ein Fund von hohem Sammlerwert.

 

Kurt Gester (∗ 10.10.1914) war der Universalsänger im Fach des Lyrischen und Kavalierbaritons erst an der Breslauer Oper (1939 bis 1945) und ab 1948 am Düsseldorfer Haus der Deutschen Oper am Rhein. Er war auch ständiger Gast am Opernhaus Frankfurt/M. Sein stimmliches Material war nicht von Tonfülle und Schönklang gekennzeichnet, aber von Substanz und Flexibiliät. Er war so etwas wie ein lyrischer Ausdrucksbariton oder Bariton Matin, ideal für scharf profilierte Typen in Charakter- und Chargenrollen mit stark rhetorischer Komponente. So erschien er bestens geeignet für zeitgenössische Opernwerke. Doch er gab mit Erfolg auch Mozarts Conte Almaviva, Guglielmo, Papageno; Rossinis Figaro; Schumanns Siegfried; Verdis Luna, Posa, Ford; Wagners Wolfram und Heerrufer; Tshajkovskijs Eugen Onegin. Er erschien beim Glyndebourne Festival und den Schwetzinger Festspielen, sang in den Uraufführungen von Zilligs Troilus und Cressida, Klebes Die tödlichen Wünsche und Das Märchen von der schönen Lilie. Besonderen Erfolg hatte er mit der Titelrolle in Busonis Arlecchino, der bei EMI auf Platten herauskam. Zahlreiche Radioproduktionen beim WDR und HR halten Gesters Gesang fest, einige wurden wiederveröffentlicht.

 

Marie Madlen Madsen (∗ 1905 ‑ † 1990), geboren in Frankfurt, wuchs in Hamburg auf, studierte dort bei dem Gesangspädagogen Robert Dähmcke. Ihre ersten Auftritte hatte sie nicht an einem Opernhaus, sondern beim gerade eröffneten Radiosender Stuttgart, wo sie drei Jahre lang ungeachtet ihrer Herkunft als Schwäbische Nachtigall Gerda Hansi herausgestellt wurde. Während dieser Zeit studierte sie in Stuttgart weiter. Ihr erstes festes Bühnen-Engagement hatte sie seit 1929 am Opernhaus Zürich. Dort sang sie in der Uraufführung von Zemlinskys Kreidekreis. 1934 wechselte sie ans Opernhaus Frankfurt/M., wo sie 14 Jahre als Koloratursopran und Soubrette sehr erfolgreich war. Sie wirkte in den Uraufführungen zweier weiterer zentraler Opernwerke mit: als Gretel in Egks Zaubergeige und als Solosopran in Orffs Carmina Burana. Als Gast erschien sie in Paris, Bologna, Barcelona, Belgrad und an den Staatsopern Berlin, Hamburg, München, Dresden, Stuttgart. Bis in die 1950er Jahre blieb sie dem Frankfurter Haus weiterhin verbunden. Seit 1957 trat sie in Frankfurt auch als Schauspielerin auf. 1963 wirkte sie als Dozentin an der Frankfurter Musikhochschule. Madsens Spektrum war weitgespannt, umfasste alle wichtigen Partien für Soprano leggiero: Zerlina, Susanna, Blonde, Despina, Marzelline, Ännchen, Marie, Anna Reich und Frau Fluth, Rosina, Musette, Sophie, Milli, Adele, Christel. Sie machte zahlreiche exzellente Tonaufnahmen, vor allem im Hessischen Rundfunk. Ihre Stimme blieb bis in späte Jahre so frisch, jugendlich und perfekt geführt wie zu Beginn ihrer Laufbahn. Sie steht an Bedeutung gleichrangig neben berühmteren Kolleginnen wie Loose, Otto, Schädle, Urban, Sailer.

 

Otto von Rohr (∗ 1914 ‑ † 1982) war der führende Bassist der Württembergischen Staatsoper und ein gefeierter Favorit des Stuttgarter Publikums, zugleich ein international geachteter Protagonist vor allem im deutschen Repertoire. Er hatte bei Hermann Weißenborn (dem späteren Lehrer Fischer-Dieskaus) studiert, debütierte 1938 als Sarastro in Duisburg, wurde dort sofort als 1. Bass verpflichtet. Schon 1941 holte ihn die Stuttgarter Staatsoper, die bis zu seinem Bühnenabschied sein Stammhaus blieb. Seit 1946 hatte er auch einen Gastvertrag am Opernhaus Frankfurt/M. Infolge dieser Präsenz kam er zu vielen Solo- und Gesamtwerk-Aufnahmen aus unterschiedlichen Repertoires beim Hessischen Rundfunk. Als Vertreter des allzeit rar besetzten Fachs des Basso profondo war er bald weltweit gefragt: Scala di Milano, Grand-Opéra Paris, Staatsoper Wien, San Carlo Lissabon, Maggio Musicale di Firenze, Teatro Colón Buenos Aires, San Francisco, Rio de Janeiro, führende Opernhäuser in Deutschland (Berlin, Hamburg, München), Schweiz (Zürich, Basel), Italien (Bologna, Genova, Torino, Napoli), Frankreich (Marseille, Strassbourgh). Er sang das gesamte Serioso-Repertoire, von Händel bis Strawinsky, dazu Oratorien, Lieder, Balladen. Sein Wirken ist bei Rundfunkanstalten und in Live-Mitschnitten breit dokumentiert. Lange schien er fast in Vergessenheit geraten. Nun werden immer mehr seiner Aufnahmen wieder zugänglich. Das Hamburger Archiv hat ihm eine große CD-Edition gewidmet.

 

Frithjof Sentpaul (∗ 1908 ‑ † 1993) war Schüler des berühmten Julius von Raatz-Brockmann. Er debütierte 1937 in Liegnitz/Schlesien, kam über Krefeld 1941 an die Stuttgarter Oper. Nach Kriegsende ging er eine Verpflichtung ans Opernhaus Bielefeld ein, kehrte aber 1954 ans Stuttgarter Haus zurück, war dort bis zum Bühnenabschied 1974 Ensemblemitglied, mit einem Gastvertrag auch am Opernhaus Frankfurt/M. tätig. Er war ein vielfältig eingesetzter Darsteller lyrischer Baritonpartien wie Graf in Mozarts Figaro, Fluth in Nicolais Lustigen Weibern, Verdis Luna und René, Lortzings Liebenau und Eberbach, Puccinis Schaunard und Sharpless, dazu vieler mittlerer Rollen zwischen Bariton und Spielbass quer durchs ganze Repertoire, Operetten nicht ausgeschlossen, später vor allem in Comprimario-Aufgaben. Beim Hessischen und Süddeutschen Rundfunk wirkte er oft in Opern- und Konzertproduktionen mit.

KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel