Maurice Ravel (1854 – 1928)

Die spanische Stunde

 

L’Heure espagnole

Musikalische Komödie in einem Akt
Libretto von Franc-Nohain
Uraufführung: 19. Mai 1911, Paris

Tonspur der TV-Übertragung des ORF
r. 31.Mai 1967, Wien

Leitung: Peter Maag

 

Concepción, Ehefrau des Torquemada Mimi Coertse
Don Inigo Gomez, Bankier Marcel Cordes
Ramiro, Maultiertreiber Oskar Czerwenka
Gonzalvo, Schöngeist Kurt Wehofschitz
Torquemada, Uhrmacher Michel Sénéchal

 

Orchester der Wiener Volksoper

 



Die Handlung

      Ort und Zeit: Toledo um 1850, der Uhrenladen des Torquemada

 

Der Uhrmacher Torquemada betreibt in Toledo ein gutgehendes Ladengeschäft. An einem Tag der Woche hat er vertraglich alle städtischen Uhren zu warten.
Das hält ihn stets eine Stunde außer Haus. Seine Ehefrau Conceptión nutzt die Zeit im Wechsel für Schäferstündchen mit ihren beiden Liebhabern, dem Bankier Don Gomez und dem Schöngeist Gonzalvo.

 

Torquemada ist gerade im Aufbruch zum wöchentlichen Rathausdienst, da betritt der Maultiertreiber Ramiro den Laden. Torquemada muss pünktlich sein, ersucht Ramiro deshalb, ein Weilchen auf seine Rückkehr zu warten. Ramiro ist einverstanden. Das stört Conceptión erheblich. Sie wartet heute auf Gonzalvo.
Er kommt auch, und die kokette Dame versucht, Ramiro schnell loszuwerden. Der aber bleibt sitzen, darum kommt ihr eine Idee: Ein paar große Standuhren müssten in den ersten Stock gebracht werden. Ramiro erweist sich als Kavalier und macht sich an die Arbeit. Als er die erste Uhr nach oben trägt, erscheint plötzlich der zweite Verehrer, Don Inigo Gomez. Die Liebhaber sollen einander nicht begegnen, darum ist Conceptión in Verlegenheit. Sie nötigt Gomez und Gonzalvo, sich in je einer Standuhr zu verstecken. Dann sagt sie Ramiro, er habe irrtümlich die falsche Uhr transportiert, sie müsse zurück, eine andere nach oben. Ramiro muss Schwerarbeit leisten: Ständig ist er mit einer der Standuhren, stets mit einem der beiden Liebhaber bestückt, auf der Treppe — hinauf, hinunter, hinauf und so fort.

 

Ramiro schafft die Arbeit souverän. Seine Kraft beeindruckt Conceptión enorm. Was für ein Mann! Gegen ihn sind die beiden Liebhaber Schlappschwänze. Conceptión beginnt heftig mit Ramiro zu flirten. Die Standuhren mit den einge-schlossenen Liebhabern lässt sie im Laden abstellen. Dann zieht sie Ramiro ins Schlafzimmer. Doch früher als sonst kehrt der Hausherr zurück. Er entdeckt die Männer in den Standuhren. Sie erklären, Kunden zu sein, die sich Kaufobjekte näher ansehen wollten. Torquemada lässt sich täuschen. Ramiro und Conceptión können künftige Arrangements verabreden. Im Finale singen alle fünf Solisten das einzige Ensemble der kleinen Komödie.

 

 



Esprit français in iberischen Farben:
Ravels konzise Musikkomödie

 

Maurice Ravel, der große Kolorist unter den Orchesterkomponisten am Beginn der Moderne, war ein Meister der Farbsetzungen, Valeurs, Exotica, Atmosphäre-Suggestionen — ein Instrumentierungsvirtuose ohnegleichen. Besondere Vor-liebe hegte er für spanisches Kolorit, wie man bei Bolero und Rhapsodie espagnole verfolgen und bewundern kann. Ravel war auch ein großer Uhrenliebhaber. So verwundert es nicht, dass ihn das pikante, geistreich-ironische Lustspiel L’heure espagnole von Franc-Nohain schon wegen des Milieus der Handlung animierte. Die mechanische Welt des Uhrenbaus, seiner differenzierten Funktionen und Klingelfarben gab ihm Gelegenheit, seinen sensiblen Sinn für impressionistische Farbwirkungen in Harmonik und Instrumentation auszukosten. So kam ihm, dem geborenen Basken mit Vorliebe für iberische Tanzrhythmen, dieses Stück und seine Verortung im spanischen Ambiente geradezu entgegen. Er vertonte den Text mit wenigen Kürzungen wörtlich.

 

In der Introduktion ist das Tick-Tack der Uhrwerke umgesetzt. Mit varianten Glockenschlägen und Kuckucksrufen zur angebrochenen Stunde wird in die Handlung eingeleitet. Das Schlussquintett wiederum ist die Adaption einer feurigen Habanera. Der Komponist wählte den dramaturgischen Stil der musi-kalischen Konversationskomödie im Parlandostil, ähnlich der italienischen Opera buffa. Das heißt: Die Vokallinie ist gänzlich wortbetont, nahe am Sprechgesang orientiert, für die Sänger eine Probe auf Legato-Parlando-Kunst und Mezzavoce-Gesang, eine Disziplin, die vor allem Marcel Cordes, der Darsteller des Gomez, meisterlich beherrschte. Die Sänger-Typologie ist vom Komponisten ganz auf französische Manier zugeschnitten: Torquemada sollte ein Trial, also ein Charaktertenorbuffo, sein; Gomez ein Spielbass, Ramiro hingegen ein Bariton-Martin, also ein hell-timbrtierter lyrischer Bariton. Die deutsche Spielpraxis setzt auf robustere Profile und Ausstrahlungen, vor allem des Maultiertreibers als viriles Mannsbild, hier mit dem süffigen Charakterbass Oskar Czerwenka.

 

Das witzige, farbenreiche Werk war bei seiner Uraufführung ein Misserfolg.
Das Publikum zischte, die Kritik sprach von musikalischer Pornographie, der Textautor bemängelte die geringe Spieldauer. Auf Ablehnung stießen also gerade jene Elemente, die nach heutigem Urteil ein besonderes Flair und kompositori rische Meisterschaft begründen. Unser Tondokument ist die Einspielung zur
TV-Produktion einer Aufführung der Wiener Volksoper, deren Regie ein Meister wie Otto Schenk besorgt hatte.

 



Ensemblearbeit in Wien

 

Peter Maag (∗ 1919 St. Gallen - † 2001 Verona). Er studierte in Zürich und Genf bei Größen wie Cortot, Hösslin, Furtwängler, Ansermet. Sein Debüt hatte er 1949 als Operndirigent am Stadttheater Biel. 1952 bis 1954 war er 1. Kapellmeister am Opernhaus Düsseldorf, der späteren Deutschen Oper am Rhein. 1954 bis 1959 amtierte er als GMD der Bundeshauptstadt Bonn. Dann arbeitete er europaweit als Gastdirigent bei bedeutenden Orchestern und Operninstituten. 1964 bis 1967 hatte er wieder eine Chefposition: als Musikalischer Leiter der Wiener Volks-oper, die sich damals zu einem führenden deutschsprachigen Haus entwickelte. 1971 bis 1976 war er Musikdirektor des Teatro Regio di Parma und zugleich Consigliere Musicale am Teatro Regio Torino. Ab 1986 wurde er erneut als Gast-dirigent tätig, war zugleich Musikdirektor der Oper von Bern, dann auch des Orchestra da Camera di Venezia. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens gab er an den Akademien von Siena und Chigiana Meisterkurse für Orchesterleitung.

 

Marcel Cordes (∗ 1920 Stelzenberg/Pfalz – † 1992 Wörgl/Tirol); eigentlich Kurt Schumacher. Absolvent der Musikhochschulen von Kaiserslautern und Mann-heim, Schüler von Richard Schubert und Fritz Krauss, studierte Tenor- und Baritonpartien. Debütierte als Bariton, begann aber als Tenor im Lirico-Spinto-Fach, kam über Kaiserslautern ans Nationaltheater Mannheim, studierte um und begann ab 1951 am Staatstheater Karlsruhe eine zweite Karriere als Bariton. Sie führte ihn ab 1954 als Ensemblemitglied an die Bayerische Staatsoper, von dort mit Teilverträgen an die großen Häuser in Berlin, Düsseldorf/Duisburg, Stuttgart, Köln, Zürich, mit Gastspielen auch Hamburg und Wien, schließlich auch an große europäische Musikbühnen wie Staatsoper Wien, Scala di Milano, San Carlo Neapel, LaMonnaie Brüssel, Grand-Théâtre de Genève, Opéra de Paris, zuletzt mit weiterem Vertrag an der Volksoper Wien. Er wurde als deutscher Bariton von Weltrang berühmt — namentlich in Verdi-Partien: Rigoletto, Nabucco, Renato, Simone Boccanegra, Posa und Ford im Mittelpunkt, doch auch mit Werken des Belcanto, Verismo, deutscher Spieloper und Spätromantik, schließlich von Richard Wagner und Richard Strauss. 1962 bis 1964 sang er bei den Bayreuther Festspielen. Einer Einladung an die New Yorker Metropolitan Opera konnte er 1956 wegen Terminproblemen nicht folgen. Er war auch im Konzertsaal präsent, unter bedeutenden Dirigenten und als Liedsänger. Ab 1956 entstanden Schall-platten, seit 1955 weit mehr Rundfunkeinspielungen, dazu Operngesamtaufnah-men und TV-Auftritte. Cordes galt als Spezialist für Opernpartien des 20. Jahr-hunderts — so von R. Strauss, Pitzner, Orff, Egk, Strawinsky, Sutermeister. Die Ertaubung eines Gehörgangs steigerte die Belastungen des Sängers in exzessiver Bühnenpraxis, dann wurde eine Diabetes-Erkrankung diagnostiziert. Als er diese 1969/70 nicht mehr ignorieren konnte, zog Cordes sich von der Bühne zurück. Er lebte bis zu seinem Tod in Tirol. Ein Sängerstipendium In memoriam Marcel Cordes bei der Tiroler Academia Vocalis erinnert an den außerordentlichen Künstler. Seine Tonaufnahmen drohten seit Ende der LP-Ära in Vergessenheit
zu fallen. Eine CD-Edition beim HAfG und viele Wiederveröffentlichungen von Rundfunkaufnahmen beleben die Erinnerung an ihn seit 2009 aufs Neue.

 

Mimi Coertse (∗ 1932 Durban/Südafrika) war eine der Primadonnen des Wiener Opernlebens in den 1950/60er Jahren. Sie hatte in Johannesburg und ab 1954 bei Josef Witt in Wien studiert, mit der Wiener Staatsoper bei einem Gastspiel in Neapel als Blume im Parsifal debütiert. 1957 bis 1973 war sie Ensemblemitglied der StO Wien, trat auch an der Wiener Volksoper, am Covent Garden London und bei den Festivals von Salzburg, Glyndebourne und Aix auf. Ihre zentralen Partien lagen im Fach des Dramatischen Koloratursoprans: Königin der Nacht, Lucia di Lammermoor, Konstanze, Zerbinetta, Gilda, Fiordilligi, Violetta, Frau Fluth, die drei Frauengestalten in Hoffmanns Erzählungen. Später kamen sowohl leichtere als auch lyrische Sopranrollen dazu, wie Nedda, Martha, Musetta bis hin zu R. Strauss’ Daphne. Coertse bildete lange eine Idealkonkurrenz etwa zur Kollegin Wilma Lipp. Sie machte viele Funk- und Plattenaufnahmen. Berühmt wurde ihre Fiakermilli in Arabella (GA unter Georg Solti).

 

Oskar Czerwenka (∗ 1924 - † 2000) war Schüler des berühmten Otto Iro in
Wien. Debütierte in Graz als Eremit im Freischütz, kam schon 1951 an die Wiener Staatsoper, blieb dort fest bis 1986 und war ihr Ehrenmitglied. Trat oft auch an der Volksoper auf. War Interpret von über 75 Opernpartien aller Fächer — von Bach und Haydn bis Egk und Klebe. Sang seit 1952 bei den Salzburger Fest-spielen, alljährlich als Opern‑, Lied- und Oratoriensolist. Gastierte in der ganzen Welt, so in Berlin, Hamburg, München, Köln, Stuttgart, Zürich, London, Brüssel, Lissabon, Budapest, Prag, den Festivals von Edinburgh und Glyndebourne, schließlich an der Met in NYC. Er war auch als Komponist und Schriftsteller tätig. Eine der großen Säulen des Wiener Musiklebens in der zweiten Jahr-hunderthälfte.

 

Michel Sénéchal (∗ 1927) ist der vielleicht meistbeschäftigte Ténor legèr, dann Tenorbuffo und Charaktertenor der europäischen Opernszene und Tonträger-produktion. Er wurde am Conservatoire National in Paris ausgebildet, debütierte in Brüssel, gewann den Musikpreis von Genf, wurde mit Beginn der 1950er an der Opéra-comique als Tenorlyriker bekannt. 1956 gab er mit sensationellem Erfolg in Aix Rameaus Platée. 25 Jahre nahm er am Aix Festival teil. Seit 1961 war er der alleinständige Buffo- und Charaktertenor der Grand-Opéra de Paris, in über 100 kleinen, aber substanzvoll-wichtigen Chargen in Opern aller Zeiten und Provenienzen, auch des deutschen und italienischen Fachs. Er wirkte in Dutzen-den von Opern-Gesamteinspielungen mit, gastierte auf nahezu allen führenden Opernbühnen, trat bei den Festivals von Salzburg und Holland und in ganz Europa, Süd- und Nordamerika auf. Viele Spielzeiten war er an der Metropolitan Opera tätig, dort noch 1996. Einer der meist- und längstbeschäftigten Sänger seiner Zeit.

 

Kurt Wehofschitz (∗ 1923) Gebürtiger Wiener, an der Musikakademie Wien ausgebildet. Debütierte 1948 in Linz als Wilhelm in Mignon. Wechselte nach fünf Spielzeiten nach Kiel, dann nach Nürnberg, war ab 1956 zugleich an der Staats-oper München, ab 1959 auch an der Deutschen Oper am Rhein verpflichtet. Hatte Gastverträge mit dem Opernhaus Frankfurt/M. und der Wiener Volksoper. War vielfältig auch an der Wiener Staatsoper, in Rio de Janeiro, Lissabon, Zürich, Hamburg tätig. Trat in Wien bis Ende der 1970er Jahre auf. Sang in Uraufführun-gen von Hindemith, Wimberger, Searle und deutschen Erstaufführungen von Haydn und Leoncavallo. Sein Rollenbestand umfasste das ganze lyrische Tenor-fach im italienischen, französischen, deutschen und slawischen Fach. Er war ein beliebter Operettentenor und ein vielfältig eingesetzter Rundfunksänger.

                                                                                                          KUS
 





 

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© Klaus Ulrich Spiegel