Der Humanist als Theaterleiter

 

Doktor Schäfer inszeniert nicht, dirigiert nicht, gastiert nicht. Er leitet sein Theater. So kennzeichnete Die Zeit 1962 treffend die Rolle Walter Erich Schäfers, eines der letzten großen Theaterpatriarchen. Schon seine Physiognomie verriet viel von seinem Charakter: Hohe Stirn, wache Augen hinter dicker Brille, schmale Lippen, energisches Kinn. Ein kantiger Schwabe, auf den ersten Blick eher distanziert-verschlossen. Im Gespräch offenbarten sich seine hohe, im schwäbischen Humanismus ruhende Bildung, starke Überzeugungskraft und verschmitzter, oft hintergründiger Humor.

Schäfer wurde am 16. März 1901, im Todesjahr Giuseppe Verdis, geboren. Parallelen sind unverkennbar: bäuerliche Herkunft, oft spröde Eigenwilligkeit, universaler Kunstsinn — und menschliches Engagement, von vielen Ensemble-mitgliedern bezeugt, die er als väterlicher Freund umsorgte. Auch Abneigungen zeigte er offen. Sicher wurde er nicht von allen geliebt, aber stets hochgeachtet und respektiert.

 

Liebe zu Natur und Kunst bestimmten schon die Kindheit des im schwäbischen Hemmingen geborenen Landwirtssohns. Bereits als 10jähriger hatte er erste Begegnungen mit der Welt des Theaters. Die geistige Aufbruchstimmung nach 1918 führte den jungen Mann zum Studium der Religionsgeschichte und Germa-nistik an die Tübinger Universität. Weil er auf dem Hof des schwer kriegsbeschä-digten Vaters gebraucht wurde, wechselte er später an die Landwirtschaftliche Hochschule in Hohenheim. Spätestens nach dem Kleinen Diplom siegten seine Interessen über familiäre Notwendigkeiten: Er kehrte nach Tübingen zurück
und promovierte über Vergleichende Dramaturgie der alten und neueren, insbesondere Shakespearischen Dramatik.

 

Nach Berufsanfangsjahren mit einem kleinen Lehrauftrag an der Musikhoch-schule und freien Arbeiten als Autor und Theaterkritiker erhielt der wieder in Stuttgart lebende junge Familienvater 1928 eine Stelle als Dramaturg am dama-ligen Landestheater. Dramaturgen besaßen damals noch nicht den heutigen Kultstatus. Man las Stücke, redigierte Programmhefte, entwarf Plakate. Aber es war eine feste Anstellung mit wundervollem künstlerischem Umfeld unter Intendant Albert Kehm und GMD Carl Leonhardt. Sängernamen aus dieser Zeit wie Margarete Teschemacher, Rhoda von Glehn, Anita Oberländer, Maria Roesler-Keuschnigg, Hermann Weil, Willy Domgraf-Faßbaender, Rudolf Ritter Albin Swoboda, Fritz Windgassen haben bis heute guten Klang.

 

Walter Erich Schäfer profilierte sich auch mit solide gearbeiteten, spannungs-reichen Hörspielen und Bühnenstücken teils politischen, teils psychologischen Inhalts. Richter Feuerbach, 18. Oktober, Leutnant Vary, Schwarzmann und
die Magd
hießen seine bekanntesten, vielgespielten Dramen.

 

 

Die Machtübertragung an den Nazifaschismus 1933 brachte eine entscheidende Wende in Schäfers Leben. Er galt als politisch unzuverlässig. Die tendenziöse Presse forderte nationalbewusste Dramaturgen. Der Vertrag am Stuttgarter Theater wurde abrupt beendet, doch der noch relativ liberale Reichsdramaturg verschaffte Schäfer politisch weniger brisante Anstellungen, erst in Mannheim, später in Kassel, wo er Naziherrschaft und Kriegsjahre einigermaßen ungeschädigt überstand.

 

Heute scheint es beinahe unfassbar, wie nach dem furchtbaren Krieg Neues Leben aus den Ruinen blühte, auch beim Theater. Die Menschen hungerten nach geistiger Kost, aber auch nach Unterhaltung und Entspannung. Am Stuttgarter Staatstheater hatte 1946 der Österreicher Bertil Wetzelsberger, ein
sehr kultivierter, mit zeitgenössischem Opernschaffen bestens vertrauter Dirigent, die Doppelfunktion als Intendant und Musikdirektor übernommen
s. Box 1 unserer CD-Edition. Das Kleine Haus, ein architektonisches Juwel Max Littmanns, der 1912 den gesamten Komplex des damaligen Königlichen Hof-theaters erbaut hatte, war bis an die Grundmauern ausgebrannt. Das Große Haus blieb glücklicherweise in seiner Funktion als Opernbühne nur unwesent- lich eingeschränkt. Doch 1949 beschloss der Finanzausschuss des Württemberg-Badischen Landtags, das Theater aus Spargründen nicht im bisherigen Umfang weiterzuführen, weshalb dem gesamten Ensemble vorsorglich zu kündigen sei. Das führte zu Wetzelsbergers Demission.

 

So begann die dritte große Ära des Staatstheaters Stuttgart seit 1912 ganz unprätentiös mit der Einsetzung Walter Erich Schäfers als Sparkommissar durch Kultusminister Theodor Bäuerle, der sich des hochgeschätzten ehemaligen Stuttgarter Dramaturgen erinnert hatte. Schäfer, der am 20. Dezember 1949 zum Generalintendanten ernannt wurde, betont in seiner Autobiographie Bühne eines Lebens, eigentlich habe ihm eine entscheidende Eigenschaft für diesen Posten gefehlt, weil er charakterlich gar kein handelnder, sondern eher ein betrachtender Mensch gewesen sei. Die Realität der folgenden 23 Jahre, nur 1962/63 von einer Beurlaubung an die Wiener Staatsoper als Ko-Direktor
Herbert von Karajans unterbrochen, hat uns eines Besseren belehrt.

 

 

Walter Erich Schäfers eindeutige Herkunft vom Schauspiel führte dazu, dass seine ersten Aktivitäten dieser Sparte galten. Der Schauspieldirektor Karl-Heinz Ruppel hatte ein hochqualifiziertes Ensemble aufgebaut. Das bewährte Stamm-personal war durch vormalige Spitzenkräfte des Dresdner Schauspielhauses wie Edith Heerdegen, Paul Hoffmann, Erich Ponto und Walter Kottenkamp verstärkt worden. Man spielte im ehemaligen Chorsaal, der zum Theaterraum mit 300 Plätzen umgebaut war und Kammertheater hieß: ein sehr unbefriedigender Zustand. Schäfer erreichte durch zähe Verhandlungen mit dem Eigentümer, dass dieser dem Land das 1908 erbaute, hübsche und intime Schauspielhaus in der Kleinen Königstraße verpachtete. So hatte das Staatsschauspiel 1950 wieder eine würdige Heimstätte gefunden. Mit geschickter, einfühlsamer Ensemble- und Spielplanpolitik schuf Schäfer die Voraussetzungen für eine unvergleichliche Blütezeit. Das Mitgliederverzeichnis der 1950er Jahre liest sich wie ein Who is Who von Koryphäen der damaligen Theaterwelt.

 

Schauspieldirektoren kamen und gingen; Walter Erich Schäfer blieb der ruhende Pol. Auf den Prinzipal und hervorragenden Charakterspieler Paul Hoffmann, der durch unqualifizierte Angriffe der Presse Ende der 1950er Jahre gestürzt worden war, folgte der als Regisseur hoch talentierte, aber mit Leitungsfunktionen noch überforderte Dietrich Haugk. Mit Günter Lüders konnte Schäfer dann einen Direktor verpflichten, der die Tradition des großen Schauspielertheaters fort- setzte und selbst bewegende Charaktere auf der Bühne verkörperte. In seine Zeit fiel 1962 die Eröffnung des wiederhergestellten Kleinen Hauses, vom Architekten Hans Volkart als moderner, der Gesamtanlage gut angepasster Zweckbau ent-worfen. Der Neubau wurde damals überwiegend positiv beurteilt; aus heutiger, für Denkmalschutz bewussterer Sicht wäre eine Restaurierung des Littmann-Theaters zweifellos die bessere Lösung gewesen. In der Eröffnungswoche gab es neben Schauspielpremieren Ariadne auf Naxos von Strauss & Hofmannsthal in
der ursprünglichen, hier 1912 uraufgeführten Fassung.

 

Die Direktionszeit Karl Vibachs, der erstmals in Stuttgart Cole Porters erfolg-reiches Musical Kiss Me Kate auf die Bühne brachte, blieb ein Intermezzo solider Theaterarbeit ohne wesentliche Impulse. Das sollte sich gewaltig ändern, als Schäfer den bekannten asketischen Brecht-Schüler Peter Palitzsch zum Nach- folger bestimmte. Dessensozialkritische Inszenierungen waren im Gemeinderat heftig umstritten; schließlich befand man sich in den Achtundsechziger Jahren. Freilich gab es auch Flops, doch überwogen faszinierende Theatererlebnisse. Schäfer stellte sich stets loyal vor den letzten Schauspieldirektor seiner Ära. Außerdem inszenierten mit Günter Rennert und Rudolf Noelte auch Regisseure, die gegensätzliche Stilprinzipien vertraten.

 

 


 

Eine glanzvolle Nachkriegsära
Walter Erich Schäfer und seine Partner

Als Walter Erich Schäfer 1949 wieder nach Stuttgart kam, hatte er außer großer Liebe zur Musik und Vorlesungen an der Musikhochschule über Opern-geschichte und Operndramaturgie auf dem Gebiet des Musiktheaters noch wenig vorzuweisen. Er war entsetzt über die schlechte Qualität verschiedener Repertoire-Opernaufführungen, erkannte aber bald, dass ihm sein Vorgänger,
in dessen Ägide immerhin die Uraufführung von Carl Orffs Die Bernauerin und die Deutsche Erstaufführung von Hindemiths Mathis der Maler stattgefunden hatten, doch kein unbestelltes Feld hinterlassen hatte. Das Ensemble befand sich noch in der Aufbauphase, aber sangen hervorragende Kräfte wie Paula Kapper, Res Fischer, Ellinor Junker-Giesen, Ilsemarie Schnering, Maria Kinasiewicz, Lore Wissmann, Hetty Plümacher, Hans Blessin, Hubert Buchta, Heinz Cramer, Engelbert Czubok, Gustav Grefe, Walter Hagner, Max Roth, Alexander Welitsch und Otto von Rohr, dazu der vielversprechende Wolfgang Windgassen.

 

Entscheidend wurde die Begegnung mit dem schon 1947 nach Stuttgart beru-fenen Generalmusikdirektor Ferdinand Leitner. Zwischen den beiden wesens-mäßig völlig verschiedenen Persönlichkeiten entwickelte sich in den folgenden 20 Jahren eine ideale künstlerische Partnerschaft. Der souveräne, Intellekt und Gefühl glücklich vereinende Dirigent gab Schäfers Intentionen für ein neues, stilbildendes Musiktheater den notwendigen Rückhalt.

 

Zunächst galt es aber, das Standardrepertoire durch Neuinszenierungen lange vernachlässigter Opern und Operetten zu ergänzen. Sogenanntes Intellektuel-len-Theater kam schon wegen eines finanzierbaren Betriebs nicht in Betracht. Der traditionelle, sängerfreundliche Inszenierungsstil des bisherigen Teams Walter Jockisch und Max Fritzsche wurde vom neuen Oberspielleiter Kurt Puhlmann fortgesetzt: künstlerisch solide, manchmal originell, aber nie schwach oder gar geschmacklos.

 

Das auch von Staatskapellmeister Josef Dünnwald und Chordirektor Heinz Mende garantierte musikalische Gesamtniveau ermöglichte Schäfer und Leitner eine frühzeitige Auseinandersetzung mit Werken des zeitgenössischen Musik-theaters. Mit der Uraufführung der Oper Don Juan und Faust des vor allem als Liedkomponist renommierten Stuttgarters Hermann Reutter 1950 erfüllte das Württembergische Staatstheater mehr als nur eine Verpflichtung. Reutters gemäßigt moderne, tonale Musiksprache, die geschickte Mischung von dekla-matorischen und melodisch aufblühenden Passagen beeindruckten Fachwelt und Publikum. Leider blieb dem Werk der nachhaltige Erfolg seiner volkstümlichen Oper Doktor Johannes Faust versagt, dessen Neufassung 1955 ebenfalls in Stuttgart erstaufgeführt wurde. Anlässlich des ersten Stuttgarter Auslandsgastspiels in Rom gab es 1950 eine Neueinstudierung von Hindemiths Mathis der Maler. Im gleichen Jahr erlebte Strawinskys The Rake’s Progress seine Deutsche Erstauffüh- rung ebenfalls an der Stuttgarter Staatsoper.

 

Die Revolution der Wagnerszene ereignete sich seit Mitte der 1950er Jahre nach hartnäckigen Bemühungen Schäfers nicht zuletzt im Winterbayreuth Stuttgart, wo Wieland Wagner die Werke seines Großvaters, dazu Fidelio, Salome oder Antigonae neu erarbeitete und auf ihren archetypischen Wesensgehalt konzen-trierte. Zum Stuttgarter Wagner-Ensemble, mit dem Bayreuther Stamm jahrelang nahezu identisch, gehörten Martha Mödl, Grace Hoffman, Trude Eipperle, Anja Silja. Eva Randovà, Wolfgang Windgassen, Gustav Neidlinger, Otto von Rohr und Gerhard Unger, der nach dem Mauerbau 1961 von der Berliner Staatsoper fest ins Stuttgarter Ensemble wechselte. Dazu als ständige Gäste Leonie Rysanek, Sena Jurinac und Astrid Varnay. Sie mussten jetzt die entrümpelte Bühne allein durch stimmliche wie darstellerische Ausdruckskraft mit innerer Spannung erfüllen.

 

Leider initiierte Wieland Wagner auch die Entrümpelung des von Littmann architektonisch glücklich konzipierten Zuschauerraums im Großen Haus. Schäfer konnte und wollte 1956 die Renovierung im Stil eines besseren Kino-saals nicht verhindern; ein Irrtum, der 1983/84 durch die originale Restaurierung rückgängig gemacht werden konnte.

 

Den realistischen Kontrapunkt zur Symbolkraft der Wagner-Bühne setzten die exemplarischen Inszenierungen Günther Rennerts, oft mit der hervorragenden Bühnenbildnerin Leni Bauer-Ecsy. Die Bandbreite seiner insgesamt 33 Arbeiten für die Stuttgarter Oper reichte von der musikalischen Komödie über das psy-chologische Drama bis zum szenischen Oratorium mit der besonders ergrei-fenden Bühnenentdeckung von Händels Jephta. Walter Felsenstein stellte 1967 eine meisterhafte Freischütz-Konzeption aus der historischen Sicht des Dreißig-jährigen Krieges vor. Am Pult stand der hochbegabte Carlos Kleiber, wobei Schäfer die undankbare Aufgabe zufiel, zwischen zwei so genialen wie streit-baren Künstlerpersönlichkeiten zu vermitteln. Die Große Oper lag vor allem bei dem bewährten Oberspielleiter Ernst Poettgen. Die sprichwörtliche Ensem- ble kultur prägten weitere erstklassige Sängerdarsteller: Inge Borkh, Irmgard Stadler, Carlos Alexander, Gerhard Stolze, Alfred Pfeifle, Fritz Linke, Herold Kraus, Klaus Hirte und, vorrangig bei Mozart oder italienischen Komponisten eingesetzt, Stars wie Ruth-Margret Pütz, Elisabeth Löw-Szöky, Josef Traxel, Eugene Tobin, Raymond Wolansky und last not least Fritz Wunderlich, der seine große, viel zu früh endende Karriere hier begann. Das Bekenntnis Schäfers zum Ensemblegedanken ließ dennoch Raum für künstlerische Einflüsse von außen. Sängerlegenden wie Marta Fuchs, Hilde Scheppan, Marcel Wittrisch, Walther Ludwig, Richard Holm, Karl Schmitt-Walter wurden mit Gastvertragen ans Haus gebunden; spektakuläre Stargastspiele brachten Berühmtheiten wie Renata Tebaldi, Mario del Monaco, Jussi Björling, Max Lorenz, Helge Rosvaenge, George London nach Stuttgart.

 

Große Verdienste erwarb sich Walter Erich Schäfer mit überzeugtem Einsatz
für das Musiktheater der Gegenwart. Seine künstlerische und freundschaftliche Beziehung zu dem universalen Theatermann Carl Orff sicherte der Stuttgarter Oper vier Uraufführungen: Das Osterspiel, Oedipus der Tyrann, Das Weihnachtsspiel und Prometheus. Stuttgart galt als Orff-Bühne Nummer eins. Im Prinzip aber förderte Schäfer weniger Uraufführungen (Werner Egks Revisor bildete eine vergnügliche Ausnahme) als beispielhafte repertoirebeständige Produktionen wichtiger Werke des 20. Jahrhunderts wie Schönbergs Moses und Aron, Janáceks Osud, Cikkers Auferstehung, Pendereckis Teufel von Loudun, Fortners Bluthochzeit, eines der Prunkstücke bei mehr als dreißig Auslandsreisen. Nicht zuletzt diese Gastspiele in London, Edinburgh, Paris, Rom, Athen, Lissabon, Helsinki, Wien begründeten das Renommee der Stuttgarter Oper und zeigten den sonst so introvertierten Generalintendanten als glänzenden Kulturdiplo- maten auf dem internationalen Parkett. Die letzten Jahre seiner Amtszeit litten etwas unter dem 1969 erfolgten Wechsel Ferdinand Leiters nach Zürich, obwohl sich der liebens-werte tschechische Dirigent und Janácek-Spezialist Vaclav Neumann als Nach-folger von hohem musikalischem Format bewährte.

 

Während bei Schauspiel und Oper die Orientierung an der Tradition möglich war, musste man beim Ballett etwa 200 Jahre zurückblicken, um die letzten großen Tanzereignisse zu finden. Der Aufstieg des Stuttgarter Balletts zu inter-nationalem Ruhm ist das unbestreitbare historische Verdienst Walter Erich Schäfers, der schon immer von der sprachlosen Poesie dieser Kunstgattung fasziniert war. Bei seinem Dienstantritt war das Ballett auf üblichem Staats-theaterniveau, mehr Ergänzung zur Oper und Operette. Der 1957 verpflichtete angesehene Choreograph Nikolas Beriozoff, Vertreter der klassischen russischen Ballettschule, baute ein Repertoire abendfüllender Handlungsballette auf. Er schlug 1960 einen Choreographen vom London Royal Ballett als Gastinszenator vor: John Cranko. Der soeben mit dem Professorentitel geehrte Walter Erich Schäfer war über dessen Choreographie von Brittens Pagodenprinz so begeistert, dass er Cranko spontan mit der Leitung des Balletts betraute. Er hatte sich auf sein untrügliches Gespür für außergewöhnliche Begabungen verlassen und sollte Recht behalten. Der Durchbruch kam im Dezember 1962 mit Prokofievs Romeo und Julia: nicht nur ein choreographischer Geniestreich und mit Bühnenbildern Jürgen Roses eine Augenweide, sondern auch eine erschütternde Liebestragödie, bei der Tanz nie Selbstzweck, sondern natürlicher Ausdruck zutiefst mensch-licher Gefühle und Leidenschaften ist.
 

Mit der Brasilianerin Marcia Haydee engagierte John Cranco eine ideale Primaballerina, die als charismatische Tänzerin und Ballettdirektorin eine große Zukunft erleben sollte. In kleinen Rollen tanzten bereits Richard Cragun, Egon Madsen, Birgit Keil, Susanne Hanke, Heinz Clauss, die Cranko behutsam zu international gefeierten Elitetänzern aufbaute. Crankos wunderbare Tanz- schöpfungen waren sogar in den Ballettmetropolen Moskau, Petersburg, New York und Paris erfolgreich. Euphorische Medienberichte und die Begeisterung des Publikums galten auch seinem Mentor, dem Generalintendanten Schäfer. 1973 starb John Cranko auf der Heimreise von einer Auslandstournee auf so tragische wie rätselhafte Weise. Sein Geist lebt in unsterblichen Werken weiter.

 


 

Walter Erich Schäfer hat Stuttgarts Schauspiel und Oper auf ein hohes Niveau geführt, doch das Stuttgarter Ballett war die Krönung seines Lebenswerks. Nach seiner Pensionierung 1972 blieb er trotz eines fortschreitenden Augen-leidens dem Theater als interessierter Beobachter verbunden. Am 28. Dezember 1981 starb er ganz still im Kreise seiner Familie. Er hinterließ seine Frau, mit der er in über fünfzigjähriger glücklicher Ehe gelebt hatte, zwei Töchter und zwei Söhne, dreizehn Enkel und nicht zuletzt eine große trauernde Theatergemeinde. John Cranko hat einmal geschrieben: Manchmal staune ich über das Schicksal, das den rechten Mann zur rechten Zeit an den rechten Platz stellt. Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen.

KUS

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© Klaus Ulrich Spiegel