Im Geist der Lagerstraße

 

OK: Antifaschist - Kämpfer - Zeitzeuge

                BARBARA DISTEL:  für Otto Kohlhofer

Als Otto Kohlhofer im August 1988 nach einem Herzinfarkt unerwartet starb, schrieb der Fachautor Klaus Ulrich Spiegel in einem Leserbrief, der in der Dachauer Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 20. August 1988 unter der Überschrift „So einem wird in Dachau kein Tusch ausgebracht“ zu lesen war:„Leise und unaufwendig, wie er gelebt und gewirkt hat, ist Otto Kohlhofer fortgegangen. Und wir sind ärmer geworden.“

Im August 2015 wäre Otto Kohlhofer 100 Jahre alt geworden. Dies bietet 
uns Anlass, sich an ihn zu erinnern und über Fragen, die ihn ein Leben lang bewegten, nachzudenken. Auch darüber, welche Bedeutung sie heute noch haben.

Im Zentrum von Otto Kohlhofers Existenz stand seine Erfahrung als Wider-standskämpfer und Verfolgter des nationalsozialistischen Terrors - standen zehn Jahre Inhaftierung in Zuchthaus und Konzentrationslager. Die 43 Jahre, die Otto nach der Befreiung noch gelebt hat, waren geprägt durch die Aufga-ben, denen er sich als KZ-Überlebender verpflichtet fühlte. In diesen Jahren gehörte die Auseinandersetzung mit dem Erbe der NS-Herrschaft noch nicht zur heute gepflegten political correctness, wollte die Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik zunächst gar nichts und später nur sehr wenig hören über das Schicksal der Opfer oder über Verantwortung für die begangenen Verbrechen.

Otto Kohlhofer stand nicht allein in seinen Bemühungen, die Erinnerung an die Schrecken des Konzentrationslagers Dachau wachzuhalten und über daraus folgende Konsequenzen nachzudenken. Er war umgeben von gleich-gesinnten Freunden und Kampfgefährten aus dem Kreis der ehemals Verfolg-ten. Sie alle waren - sofern sie ihre Verfolgung einigermaßen gesund überstan-den hatten - in den ersten Jahren nach der Befreiung voller Zuversicht, dass sie am Aufbau einer besseren und gerechteren Welt mitwirken würden und die Worte „Nie wieder!“ nicht nur hohle Parole, sondern ein politisches Programm seien.

Unbeirrbarkeit und Standvermögen
Als sich mit Beginn des Kalten Krieges diese Hoffnungen verflüchtigten, resignierten nicht wenige und zogen sich ins Privatleben zurück. Otto Kohlhofer gehörte nicht zu ihnen. Was ihn auszeichnete und von vielen seiner Leidensgenossen unterschied, waren sein Beharrungsvermögen und seine Unbeirrbarkeit im Verfolgen seiner Ziele. Dazu kam seine Begabung, auf Menschen unterschiedlicher Herkunft und Überzeugung zuzugehen und sie als Mitstreiter für seine Ideen und Projekte zu gewinnen.

Otto Kohlhofer hatte auch nach 1945 kein einfaches Leben. Er war dreißig Jahre alt, als die Diktatur besiegt war. Und obwohl seine Kenntnisse über menschliches Verhalten im Guten wie im Schlechten nach zwölf Jahren Diktatur umfassend waren, stand er zu Beginn seines neuen Lebens so gut wie mittellos und ohne abgeschlossene Berufsausbildung da. Dank seiner Lernfähigkeit, seiner Beharrlichkeit und seiner Offenheit gelang es ihm jedoch ab November 1946, im Bayerischen Landwirtschaftsministerium beruflich Fuß zu fassen, sich nach und nach die Anerkennung seiner Kollegen zu erwer-ben und schließlich trotz seiner anfangs fehlenden beruflichen Qualifikatio-nen in den höheren Dienst aufzusteigen.

Otto Kohlhofer behielt seinen Arbeitsplatz im Landwirtschaftsministerium, obwohl er sich im Jahr 1950 weigerte, eine - aufgrund des sogenannten Adenauerlasses zur Vorbereitung des KPD-Verbotes (1956) - für alle Staats-beamten gültige Erklärung zu unterschreiben mit der ihnen „radikale Bestre-bungen“ untersagt wurden. Einer der Glücksfälle in Otto Kohlhofers Leben –
 ja man kann sagen einer der Glücksfälle für die gesamte Erinnerungskultur
 in der Bundesrepublik - war die Berufung von Dr. Alois Hundhammer zum neuen Bayerischen Landwirtschaftsminister im Jahr 1957. Eine fruchtbare Zusammenarbeit beider Männer - Überlebenden des KZ Dachau - trug ent-scheidend zur Errichtung der KZ-Gedenkstätte Dachau bei.

Man kann sich wohl kaum größere politische Gegensätze vorstellen: Auf der einen Seite Otto Kohlhofer, überzeugter Kommunist, der auch in den Jahren des Parteiverbotes politisch aktiv blieb; auf der anderen Minister Alois Hund-hammer, CSU-Politiker, der seinem Ruf als ultrakonservativer Hardliner, ins-besondere in der Kulturpolitik alle Ehre machte. Es verband sie das gemein-same Schicksal Häftling im Konzentrationslager Dachau gewesen zu sein – auch wenn Hundhammer im Jahr 1933 nur ein paar Wochen lang dort inhaf-tiert gewesen war. Es verbanden sie aber auch Achtung vor der Integrität und Überzeugung des Gegenübers und das gemeinsame Ziel der Schaffung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Häftlingslagers in Dachau. Hundhammer respektierte und vertraute Otto Kohlhofer; er stellte ihn von seiner Arbeit im Landwirtschaftsministerium frei, damit er sich der Planung der Gedenkstätte widmen konnte.

Dem seit 1955 neu gegründeten Comité International de Dachau wurde im Ministerium ein Raum für die Erarbeitung einer Dokumentarausstellung in Dachau zur Verfügung gestellt. 1959 wurde Hundhammer Vorsitzender eines bayerischen Kuratoriums für die Errichtung einer Gedenkstätte aus Vertre-tern des öffentlichen Lebens in Bayern. Sie kamen fast alle aus dem Kreis der ehemals Verfolgten. Ihnen war es zu verdanken, dass der Bayerische Landtag die notwendigen Mittel zur Schaffung der Gedenkstätte zur Verfügung stellte.

Aber Otto Kohlhofer vermochte nicht nur mit politischen Entscheidungsträ-gern wie Staatsminister Alois Hundhammer oder auch dem Münchner Weih-bischof Johannes Neuhäusler vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Mitarbei-ter der Behörde - der Staatlichen Verwaltung der Bayerischen Schlösser, Gärten und Seen, die zunächst die baulichen Maßnahmen zur Schaffung der Gedenkstätte und dann für viele Jahre die Obhut über die Einrichtung über-nahm - schätzten seine kompetente und verbindliche Art in gleicher Weise. Unter den Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau hingegen genoss Otto Kohlhofer einen hervorragenden Ruf als überlebender politischer Häft-ling, dessen Verhalten im Lager durch solidarisches Handeln und den Einsatz für Schwächere geprägt war.

So hatten ihm beispielsweise Freunde im Frühjahr 1940 als er körperlich extrem geschwächt aus dem KZ Flossenbürg nach Dachau zurückkam, einen Arbeitsplatz in der SS-Küche verschafft, wodurch er sich erholen konnte. Sobald er das Gefühl hatte, die dort erhältlichen zusätzlichen Essensrationen nicht mehr zu benötigen, machte er diesen so überaus begehrten Arbeitsplatz für einen Mitgefangenen frei, der ihn nötiger hatte als er.

Vermittler und Gestalter
Otto Kohlhofer war als Vorsitzender der bundesdeutschen Lagergemeinschaft Dachau und gleichzeitiger Vertreter des Internationalen Dachau-Komitees ein Vermittler und Gestalter, dazu leidenschaftlicher Streiter für Themeninhalte, die nach seiner Überzeugung in der Ausstellung Platz finden sollten. Dazu gehörte eine knappe einführende Dokumentation unter der Fragestellung „Wie konnte es dazu kommen?“, die bis kurz vor der Eröffnung des Museums politisch umstritten und gefährdet war : „Wie konnte es dazu kommen?“ war eine Frage, die Otto Kohlhofer immer beschäftigte, auch nachdem er sich aus der Arbeit für die Gedenkstätte weitgehend zurückgezogen hatte.

Nachdem das Internationale Dachau-Komitee mit der Errichtung des Inter-nationalen Denkmals auf dem ehemaligen Appellplatz im August 1968 seine Aufbauarbeit abgeschlossen hatte, gab Otto Kohlhofer nach Differenzen den Vorsitz der Lagergemeinschaft und sein Mandat als deutscher Sprecher des Internationalen Komitees auf und engagierte sich in anderen Bereichen und Organisationen. Trotzdem blieb er weiterhin der wohl wichtigste Ansprech-partner aus dem Kreis der ehemaligen Häftlinge für die Mitarbeiter der Gedenkstätte, die er bei historischen Fragen ebenso wie bei Problemen mit Staat und Verwaltung beriet und unterstützte.

In der 1968 neu gegründeten DKP fand Otto Kohlhofer keine politische Heimat mehr, aber es bereitete ihm keine Probleme, in anderen Zusammen-hängen und Organisationen für Frieden und eine gerechtere Welt zu streiten, insbesondere nachdem er sich im Jahr 1978 aus dem Landwirtschaftsmini-sterium in den Ruhestand verabschiedet hatte. Gewerkschaft, Friedensbewe-gung, Naturfreunde – er richtete seinen Blick nicht zurück in die Vergangen-heit. Er wollte auf der Grundlage seiner Erfahrungen in Zuchthaus und Kon-zentrationslager einen Diskurs über gegenwärtige Politik führen und über mögliche Handlungsspielräume für eine Zukunft ohne Krieg, ohne Ausgren-zung und Verfolgung Andersdenkender.

Otto Kohlhofer suchte immer das Gespräch mit jungen Menschen.Nicht, um über seine eigene Leidensgeschichte zu berichten, sondern um Interesse für Geschichte und Politik zu wecken wie auch von der Notwendigkeit eigenen Handelns zu überzeugen. Über persönliche schmerzliche Erinnerungen, über erlittene Verletzungen sprach Otto Kohlhofer nicht. Wurde er befragt, so wich er schnell auf andere Themen aus. Als sich Ottos Tochter Christa und sein Schwiegersohn Peter Willmitzer auf die Suche nach Unterlagen für ihre im Jahr 2006 erschienene Kohlhofer-Biographie machten, mussten sie feststellen, dass es nur wenige schriftliche Aufzeichnungen von ihm und so gut wie keine Selbstzeugnisse über seine eigene psychische Befindlichkeit gab.

Der Psychologin Angelika Pisarski, die für ihre Diplomarbeit auch ein ausführliches lebensgeschichtliches Interview mit Otto Kohlhofer führte verdanken wir eine Reihe seiner Reflexionen über sein Leben, seine Ziele, seine Hoffnungen. Die Arbeit erschien im Jahr 1989 unter dem Titel „...um nicht schweigend zu sterben. Gespräche mit Überlebenden aus Konzentra-tionslagern.“ Auch gegenüber der Psychologin äußerte sich Otto nicht wirklich über sein Innenleben. Als sie ihn fragte, ob er zur Bearbeitung seiner KZ-Erfahrung nicht professionelle (sprich therapeutische) Hilfe benötigt habe, antwortete er: „Eigentlich habe ich all das selbst aufgearbeitet...Das ganze Problem der Selbstdarstellung – wie das vielleicht sonst der Fall ist, dass ein Häftling immer versucht, sich selbst darzustellen - das habe ich einfach nicht gehabt... Für mich ist das gar nicht das Problem. Die Darstellung des Leides usw., das war für mich gar nicht so von Bedeutung. Ich habe selber versucht, damit fertig zu werden.“

Vertieftes Lernen über Geschichte
Mir scheint die Haltung „selber damit fertig werden“ von zentraler Bedeu-tung für Otto Kohlhofers Leben und Handeln. Dabei halfen ihm Erfahrungen, die ihn zunächst im Zuchthaus gelehrt hatten, dass er letztendlich auf sich alleine gestellt war. In den Jahren der KZ-Haft erfuhr er dann jedoch auch, dass in Extremsituationen der Einsatz für Schwächere, der Zusammenhalt mit Gleichgesinnten, empathisches Handeln und der Mut, dafür auch Risiken auf sich zu nehmen, von zentralem Gewicht sind. Sein Engagement für eine soli-darische Gesellschaft und seine Suche nach politischen Perspektiven, die diesem Ziel dienten, half ihm „damit fertig zu werden“, und war gleichzeitig Mittel sich nie von der Vergangenheit überwältigen zu lassen.

Noch einmal sollten - im Verlauf der 1980er Jahre - der Ort und das Thema „Dachau“ in Otto Kohlhofers Leben eine bedeutsame Rolle spielen. Das Projekt einer Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Dachau, die als Ergänzung zur Gedenkstätte ein Ort der Begegnung zwischen Nationen und Generatio-nen wie des vertieften Lernens über die Geschichte werden sollte, hat er von Beginn an mit all seinen Kräften und Möglichkeiten unterstützt. In den langen Jahren des Kampfes für die Schaffung dieser Einrichtung sollte in den seit 1983 jährlich statt findenden „Internationalen Jugendbegegnungszeitlagern“, modellhaft aufgezeigt werden, welche Rolle eine Internationale Jugendbegeg-nungsstätte im Umfeld der Gedenkstätte übernehmen könnte.

Freund, Vorbild, Lehrer
Im Rückblick gesehen, ereigneten sich im Rahmen der Zeltlager vielleicht 
die fruchtbarsten und bewegendsten Begegnungen zwischen Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors und jungen Menschen aus verschiedenen Ländern. Insgesamt kamen rund dreißig Zeitzeugen nach Dachau, um den Teilnehmern der Zeltlager von ihren unterschiedlichen Verfolgungsschick-salen zu berichten und um Fragen zu beantworten. Auch Otto Kohlhofer kam gerne zu den Gesprächen der Zeltlager. Für eine Broschüre, die anlässlich des 5. Jugendbegegnungszeltlagers im Sommer 1988 erschien, verfasste er ein kurzes Grußwort, in dem er in für ihn charakteristischer zurückhaltender Weise schrieb:

„Ich habe erzählt, wie die Nazis die Konzentrationslager errichtet haben und darin Menschen verschiedener Überzeugungen und gesellschaftlicher Herkunft gefangen gehalten wurden. In der politischen Auseinandersetzung standen sie sich oft unversöhnlich gegenüber. Erst hinter Stacheldraht und unter dem lebensbedrohlichen Druck des gemeinsamen Gegners haben sie langsam die Gegensätze überwunden. Sie haben sich im Gespräch zusammengefunden, sie haben sich nach Möglichkeit gegenseitig geholfen und somit vielfach die Chance zum Überleben ermöglicht.“

Als das Jugendgästehauses in Dachau im Jahr 1998 schließlich eröffnet werden konnte, war der Großteil der Überlebenden, die bei den Zeltlagern über ihre Geschichte berichtet und die sich für die Schaffung des Hauses eingesetzt hatten, nicht mehr am Leben. Auch Otto Kohlhofer war schon seit zehn Jahren tot. Er hat auch die politischen Umwälzungen des Jahres 1989 nicht mehr erlebt und nicht mehr wahrgenommen, wie schließlich die letzten Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors zum Mittelpunkt öffentli-chen Interesses und Adressaten öffentlicher Ehrungen wurden. In München und in Dachau trägt heute jeweils eine kleine Straße Otto Kohlhofers Namen. Wie er selbst, dem jede Hervorhebung der eigenen Person und Wichtigkeit fremd war, dazu gestanden hätte, wissen wir nicht.

Otto Kohlhofer - Vermittler, Vorbild und Lehrer - ist nun schon seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr unter uns. Seine Freunde und Schüler aus der nachfolgenden Generation sind inzwischen selbst alt geworden und zumeist aus dem aktiven Berufsleben ausgeschieden. Ottos Werte und Ideale jedoch, nach denen er sein Leben lang konsequent gehandelt und gelebt hat, haben nichts von ihrer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den Problemen der heutigen Welt verloren.

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Dr. hc Barbara Distel
(* 1943) Bibliothekswissenschaftlerin. Kuratorin und Publizistin. 1975-2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau. Seit 1964 maßgeblich am Aufbau von Archiv & Bibliothek der Gedenkstätte beteiligt. Mit dieser entwickelte sie einen Ort geistiger Begegnung und Auseinandersetzung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Repressionsapparats der NS-Diktatur. Mit dem Zeithistoriker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz gab sie die Dachauer Hefte (Studien zur Geschichte der NS Konzentrationslager) heraus. Sie wurde in die internationalen Beiräte des Simon Wiesenthal Centers, der Stiftung Topographie des Terrors und des Hauses der Wannseekonferenz in Berlin berufen. Sie ist Trägerin des Geschwister-Scholl-Preises und des Kulturpreise der Bayerischen Landesstiftung.
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